„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 8. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

In meinem Post vom 08.03.2012 hatte ich angemerkt, daß ich keinen besseren Medienkritiker kenne als Günther Anders. Inzwischen habe ich Friedrich Kittlers „Grammophon. Film. Typewriter“ (1986) gelesen, und ich muß gestehen, daß seine Analysen subtiler und informativer sind, als die Analysen von Anders. Dennoch brauche ich meine Einschätzung zu Günther Anders nicht zu revidieren. Denn einerseits kommt Kittler mit all seinen technologischen und kulturhistorischen Daten nicht über Andersens bereits dreißig Jahre vorher festgehaltenen Einsichten hinaus, die – wie schon im Buchtitel festgehalten – in der Feststellung der „Antiquiertheit des Menschen“ (1956) münden. (Vgl. meine Posts vom 23.01.2011 bis zum 29.01.2011) Zum anderen fehlt Kittler die kritische Einstellung zu den von ihm beschriebenen, von den Technologien ausgehenden Deformationen.

Die fehlende subjektive Distanz zum Gegenstand kommt schon im Titel seines Buches zum Ausdruck. Wo Günther Anders mit seinem Buch eine Botschaft verbindet, eben die „Antiquiertheit des Menschen“ – wie auch immer diese Botschaft bewertet sein will: als nüchterne Feststellung, als begrüßenswerten Fortschritt oder als beklagenswertes Mißgeschick –, setzt Kittler lediglich drei Wörter, eben „Grammophon“, „Film“ und „Typewriter“ hintereinander, ohne mit ihnen irgendeine subjektive Absicht zu verbinden. Hinter Andersens Feststellung von der Antiquiertheit des Menschen steckt noch ein Autorensubjekt, das seinen Lesern etwas sagen, etwas bedeuten will. Kittlers drei Wörter hingegen suggerieren, daß wir es hier nicht mehr mit einem Buch und damit mit einem Autor auf der Suche nach Lesern zu tun haben, sondern lediglich mit drei Medien, die sich selbst genügen, indem sie sich selbst schreiben, speichern und lesen.

Wenn mit dieser Suggestion, die den Autor verbirgt und den potentiellen Leser schon im Titel entwertet, eine Aussage und damit eine Botschaft verbunden ist, dann ist es genau diese Entwertung des Menschen, also seine Antiquiertheit. Angesichts von Medien, die sich selbst schreiben, speichern und lesen, verschwinden der Mensch und alle Prädikate, die des Menschen bedürfen, um Sinn zu machen: „Wissen, Sprechen und gutes Handeln (sind) keine eingeborenen Attribute Des Menschen mehr.“ (1986, S.305) – Verstehen, Bedeutung, Sprache, Intuition, Seele, Geist, Bewußtsein, Autorenschaft, Gottesebenbildlichkeit, Körperlichkeit, Willensfreiheit, Geschichtlichkeit, – alle diese Prädikate werden ohne den Menschen inhaltsleer und verschwinden mit ihm; und Kittler wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen. So ist bei ihm der Mensch nur noch ein „sogenannter Mensch“ (vgl. 1986, S.3f., 30, 283, 332 u.ö.), dessen „Wesen“ „zu Apparaturen“ übergelaufen ist (vgl. 1986, S.29); „anders und mehr als ‚Rechenmaschinen‘ zu sein“, ist lediglich ein „Wahn des sogenannten Menschen“ (vgl. 1986, S.30); „Der“ Mensch, wie Kittler mit dem groß geschriebenem Artikel ironisch suggeriert, ist letztlich genauso tot, wie Sein Gott (vgl. 1986, S.122, 305, 355 u.ö.) und nur noch als „Informationsmaschine“ (1986, S.281) oder als „Fernlenkwaffe“ (1986, S..373) aktuell; und lebt der ‚Mensch‘ mal nicht in seinen Apparaturen weiter, so doch nur als Negation, als „serieller Unmensch“ (1986, S.190) im Krieg und im Kino, die beide Leichenberge aufhäufen (vgl. 1986, S.190).

Da kann es einen nicht mehr wundern, wenn Kittler wie Waldenfels (vgl. meinen Post vom 08.01.2011) das Wort „Subjekt“ nach Möglichkeit vermeidet, – außer natürlich bei den zahlreichen Gelegenheiten seiner wortreichen Abschaffung. So heißt es z.B. noch in der einleitenden Vorlesung zu den optischen Medien (1999/2011): „In dieser Vorlesung ... – und das mag ihre berüchtigte Unmenschlichkeit ausmachen – wird der Versuch, die Seele oder den Menschen zu definieren, systematisch verweigert.“ (2011, S.34) – Hier macht das der „Unmenschlichkeit“ beigefügte „berüchtigt“ allerdings Hoffnung, daß es noch einige antiquierte Menschen zu geben scheint – denn an wen sollte dieses Adjektiv sonst adressiert sein? –, die anachronistischerweise noch erschrecken können angesichts einer Diagnose, die nur lauter Leichen und deren Apparaturen übriglassen will; zumindestens als etwas, worüber es sich zu reden lohnt.

Vielleicht ist Der Mensch ja doch noch nicht so tot, wie Kittler uns denken machen will; und vielleicht ist ja gerade die Osterzeit, in der dieser Post und die folgenden erscheinen, auch eine passende Gelegenheit, schon Totgeglaubte wieder auf(er)stehen zu lassen.

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