„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 9. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Das Funktionsprinzip, das nach Kittler allen „künstlichen Intelligenzen“ (1986, S.352), vom „Mikroprozessor bis zur EDV-Großanlage“ (1986, S.353) zugrundeliegt, besteht in der Vereinigung der „drei Grundfunktionen Speichern/Übertragen/Berechnen“ (1986, S.353). Bei den analogen Speichermedien wird es durch „Rückkopplung“ ermöglicht. Dabei denkt Kittler weniger an das außer Kontrolle geratene Pfeifen von Verstärkeranlagen als an die Fähigkeit von Tonmedien, Geräusche nicht nur aufzunehmen (speichern), sondern auch wiederzugeben, was bei Kittler –  als „(u)nausdenkliche Nähe zwischen Soundtechnologie und Selbstaffektion“ (1986, S.60) – das maschinelle Analogon zum menschlichen Hören und Sprechen bildet.

Der Rückkopplung bei den Tonmedien entspricht der Nachbildeffekt bei Filmmedien, der dazu beiträgt, daß das kurze Aufblitzen der 24 Bilder pro Sekunde im Betrachter die Illusion eines kontinuierlichen Bewegungsablaufs erzeugt: „Die Kinobesucher, nach einer glänzenden Formulierung Edgar Morins, ‚reagieren auf die Leinwand wie auf eine mit dem Gehirn fernverbundene, nach außen gestülpte Netzhaut.‘() Und jedes Bild hat Nachbildwirkung.“ (1986, S.186) – Die Kittlersche ‚Rückkopplung‘ bildet also als Speichern und Wiedergeben von Geräuschen nicht nur eine maschinelle Analogie zur menschlichen Selbstaffektion durch die eigene Stimme, sondern sie besteht auch in einer direkten Verkopplung von Leinwand und „Netzhaut“ unter Umgehung des Bewußtseins.

Der Rückkopplung bei den Tonmedien und dem Nachbildeffekt bei den Filmmedien entspricht bei den Schreibmedien die Verbindung von Schreiben und Publizieren: „McLuhans Gesetz, daß die Schreibmaschine ‚eine ganz neue Einstellung dem geschriebenen oder gedruckten Wort gegenüber‘ stiftet, weil sie ‚das dichterische Schaffen und die Veröffentlichung verbindet‘,(), wurde erstmals Ereignis.“ (1986, S.295) – Hier werden nicht nur die handwerklichen Fähigkeiten des Setzers und Druckers tendenziell überflüssig, bis sie durch den Personalcomputer (und das Internet) vollständig aus dem Produktionsprozeß ausgeschlossen werden. Darüberhinaus wird auch hier, bei der Schreibmaschine, schon das kontrollierende Bewußtsein des Autors aus dem Schreibprozeß punktuell ausgeschaltet: „Auch bei Underwood-Modellen ist ... ‚die Stelle, an der das gerade jeweils zu schreibende Schriftzeichen entsteht‘, das einzige, was nicht gesehen werden kann‘.() Der Schreibakt hört auf, nach Hundertstelsekunden zum Leseakt und damit von Gnaden eines Subjekts zu werden. An blinden Maschinen lernen Leute, ob blind oder nicht, eine historisch neue Geschicklichkeit: die Ècriture automatique.“ (1986, S.298)

Alle diese Rückkopplungseffekte führen also dazu, das Bewußtsein aus den drei Grundfunktionen von Speichern, Übertragen und Berechnen auszuschließen, wobei ich mir bei der Übertragungsfunktion nicht ganz sicher bin, inwiefern Kittler damit nicht nur die technische Infrastruktur von Kabel, Funk und Interface meint, sondern auch an die intermaschinelle und zwischenmenschliche Kommunikation denkt.

Weitere Rückkopplungsphänomene findet Kittler in der menschlichen Neurophysiologie selbst, und hier erweist er sich als Behaviorist reinsten Wassers. Denn Rückkopplung bezogen auf den Menschen ist nichts anderes als der vom Bewußtsein ungebrochene Reflexbogen (vgl. 1986, S.314). Wie Kittler mit Bezug auf den Film und dessen Wirkungen auf die menschliche Netzhaut schreibt: „Zum erstenmal in der Kunstweltgeschichte implementiert ein Medium den neurologischen Datenfluß selber. Während Künste Ordnungen des Symbolischen oder Ordnungen der Dinge verarbeitet haben, sendet der Film seinen Zuschauern deren eigenen Wahrnehmungsprozeß – und das in einer Präzision, die sonst nur dem Experiment zugänglich ist, also weder dem Bewußtsein noch der Sprache.“ (1986, S.240)

Mit anderen Worten: wo die traditionelle „Kunst“ noch mit dem Bewußtsein des künstlerisch gebildeten ‚Liebhabers‘ rechnet und ihm symbolisch etwas zu ‚denken‘ gibt, arbeiten die Ton- und Filmmedien mit den unterbewußten Reflexen der Zuhörer bzw. Zuschauer. Denkprozesse würden den Medienkonsum nur stören.

Zur Vollendung kommen die von Kittler auf allen Ebenen der Medientechnologien und der menschlichen Neurophysiologie dingfest gemachten Rückkopplungseffekte schließlich in den „rekursiven Funktionen“ (1986, S.360) von Computerprogrammen: „Wo rekursive, d.h. automatisierbare Funktionen die klassische Analysis ablösen, läuft Berechnung als Tretmühle: durch wiederholte Anwendung desselben Befehls auf die Serie der Zwischenergebnisse.“ (S.358f.) – Doch was einen hier als „Tretmühle“, in der „Gleichungen endlich ohne Intuition auf(gehen), weil jeder Einzelschritt beim Speichern, Übertragen und Berechnen bürokratisch genau stattfindet“, zunächst ähnlich mechanisch anmutet wie der Reflexbogen der menschlichen Neurophysiologie, eröffnet dem Computer, vom längst zur Selbstkontrolle unfähig gewordenen Menschen nicht länger gestört, eine selbstbestimmte Zukunft als „Maschinensubjekt“. (Vgl. 1986, S.373)

So tritt eine leere, durch Algorithmen bestimmte Rekursivität an die Stelle der inhaltlich bestimmten menschlichen Rekursivität, die Tomasello noch als unverzichtbare Voraussetzung menschlicher Intentionalität beschrieben hatte. (Vgl. meine Posts vom 25.04.2010 und vom 21.02.2012) ‚Leer‘ sind die Algorithmen vor allem aus einem Grund: die als JA-NEIN-Befehle ‚interpretierten‘ Ziffernfolgen können von den mit ihnen operierenden Algorithmen nicht auf Anwesenheit und  Abwesenheit, sondern nur auf Ausführen oder Nicht-Ausführen hin differenziert werden. Damit unterliegen sie der von Anders an den Nachrichtenmedien seiner Zeit geäußerten Kritik, daß sie den Informationscharakter ihrer Nachrichten unterschlagen. Sie suggerieren, daß sie das Ereignis selbst senden, und nicht nur ein augen- und ohrengerechtes Arrangement des Ereignisses. (1956, S.131, 153f.u.ö. (vgl. meinen Post vom 23.01.2011))

Anders zufolge verbergen Nachrichtensendungen ihre S/p-Struktur. Anstatt deutlich zu machen, daß sie nur bestimmte arrangierte Perspektiven auf die berichteten Ereignisse senden, suggerieren sie, daß es sich um das ‚S‘ selbst, also um das Ereignis selbst handelt. (Anders 1956, S.157) Um den Unterschied zwischen arrangierten Nachrichtensendungen und realen Ereignissen deutlich zu machen, greift Anders also auf Satzstrukturen zurück: auf ‚S‘ = Subjekt und auf ‚p‘ = Prädikat! Nur grammatisch vollständige Sätze, also die menschliche Sprache, haben diese S/p-Struktur! Nur vollständige Sätze zeigen also Anders zufolge in Form ihrer Grammatik an, daß wir es bei ihnen nur mit Informationen und nicht mit Realität zu tun haben. Wenn aber schon Nachrichtensendungen ihren S/p-Charakter verbergen, um wieviel mehr dann der digitale Zifferncode? Computer jedenfalls können mit vollständigen Worten und ihrer Grammatik nichts anfangen, bevor sie nicht in algorithmisierbare digitale Ziffernfolgen, aus denen jede Differenz zwischen anwesenden und abwesenden Gegenständen verschwunden ist, zerlegt worden sind.

Was Kittler hier also unterschlägt oder zumindestens versäumt, mitzudenken, ist, daß diese menschliche Rekursivität eine Fähigkeit beinhaltet, für die es keinen Algorithmus gibt. Denn was ist die S/p-Formel denn anderes als inhaltlich qualifizierte Rekursivität, – Tomasellos Grundbedingung für menschliche Intentionalität? Bei jedem ‚S‘, das uns widerfährt, fragen wir uns nach seinem ‚p‘: nach seinem ‚p‘ für uns und für andere wie uns. Wir unterziehen die ‚Informationen‘ also einer ständigen Bewertung, inwiefern sie für uns und für andere Sinn machen.

Rekursivität kann man vielleicht von einfacher Reflexivität dadurch unterscheiden, daß mit Reflexivität Bewußtseinsprozesse bezeichnet werden, in denen wir uns zum und vom Anderen abgrenzen, im Sinne einer Identitätsfindung. Rekursivität hingegen eröffnet einen Raum, der den Anderen und seine Bedürfnisse mit umfaßt, also statt einer Abgrenzung und Zurückwendung auf sich selbst ein Um-Gang bzw. Um-Lauf, der den Anderen einbezieht, statt ihn auszuschließen. In diesem Sinne eines „Ich in bezug auf einen Anderen wie Ich“ ähnelt die Rekursivität der Proflexion von Franz Fischer.

Weder über Rückkopplungen noch über Reflexbögen noch über rekursive Algorithmen läßt sich gemeinsame Aufmerksamkeit, wie sie Tomasello als Rekursivität am Ursprung der menschlichen Kommunikation verortet, programmieren. Wir können Rekursivität vielleicht von Maschinen simulieren lassen – wenn auch nur im begrenzten Rahmen ihrer Algorithmen – und damit vergessen machen, daß wir selbst es sind, die darüber verfügen. Wir können also vergessen, daß wir Menschen sind, so wie uns die Nachrichtensendungen bei Anders vergessen machen, daß es eine Welt jenseits der Kamera gibt. Und dieser Effekt ist nun wirklich bedenklich genug.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen