„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 25. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Plessner hatte schon hinsichtlich der menschlichen Expressivität festgehalten, daß sie sich im Verfehlen des Gemeinten erfüllt, also in der Differenz von Gesagtem und Gemeintem. (Vgl. meinen Post vom 29.10.2010) Im Grunde ist Schrotts ganze Metaphorologie ein Beleg für diese Differenz. Denn gerade indem Metaphern sich nicht auf präzise Bedeutungen, auf eindeutig Gemeintes festlegen lassen, tragen sie dazu bei, das „nur ungenau Geschaute“ sichtbar zu machen „und dem Überhörten zur Sprache (zu) verhelfen“. (Vgl. Schrott 2011, S. 260)

Überhaupt scheinen eigentlich alle Stilmittel poetischer Texte dazu beizutragen, Gemeintes im Gesagten in der Schwebe zu halten. So heißt es z.B. zur Wirkungsweise des Reims: „Der Reim bringt eine Art doppelter Buchführung von semantischer Identität und semantischer Differenz ins Spiel. Über die klangliche Relation zwischen Grundwort und Reimwörtern baut er im Gedicht eine Reihe von impliziten Vergleichen auf, semantischen Similes, die zeilenversetzt präsentiert werden.“ (Schrott 2011, S.352) – Der Reim verbindet nämlich ähnlich wie die Metapher verschiedene gleichlautende Wörter am Zeilenende, so daß sich deren verschiedenen Inhalte überblenden und so neue Kontexte, also Bedeutungsdimensionen (Sinn von Sinn) eröffnen.

Bei aller „formalen Strenge“ so Schrott, „zu der die Poesie seit je tendiert“, sind wir deshalb mit der „Tatsache“ konfrontiert, „dass sie diese Norm nie zur Gänze erfüllt: ein Metrum, das perfekt wäre, besäße die Monotonie eines Metronoms; ein vollkommen gleichklingendes Reimschema wäre nichtssagend. Regel und Regelbruch gehören zusammen: gemeinsam schaffen sie jene kognitive Spannung, die unser Interesse weckt.“ (Schrott 2011, S.371) – Weit entfernt also davon, daß die Poesie uns mit „reinen Stimuli“ versorgt (vgl. Schrott 2011, S.260), ist es der Regelbruch, also die unaufhebbare Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem, der bzw. die für die Poesie unverzichtbar ist.

Diese Differenz begründet sich nicht zuletzt in dem, was Tomasello „Rekursivität“ nennt (vgl. meinen Post vom 25.04.2010). Damit Sprache als Medium der Kommunikation funktionieren kann, müssen wir die Fähigkeit haben, die Intentionen unseres Gesprächspartners zu teilen; wir müssen fähig sein, eine gemeinsame Intentionalität zu stiften. Die Ebene des Sinns von Sinn (Fischer (vgl. meinen Post vom 07.07.2011)) meint letztlich nichts anderes als diese gemeinsame Intentionalität. Schrott schreibt dazu: „Als A zu wissen, wie B auf C reagiert, der mit D im Streit liegt, bietet erst die Basis für solche gruppendynamischen Verhaltensweisen.“ (Schrott 2011, S.21)

Diese Rekursivität scheint ihre Grenzen zu haben: „In welchem Grad sich diese intentionale Haltung entwickelt, unterscheidet sich von Spezies zu Spezies. Versuche zeigen, dass Schimpansen – die mit uns 98 Prozent der Gene teilen – glauben können, dass ein anderer weiß, dass die Banane in der Box und nicht im Korb liegt. Damit sind sie zu einer Intentionalität zweiter Ordnung fähig.“ (Schrott 2011, S.23) Und weiter: „Die Gehirnmasse des Homo erectus lässt Rückschlüsse darauf zu, dass er vor 2 Millionen Jahren zu einem Intentionalitätsgrad dritter Ordnung fähig war, während wahrscheinlich erst mit dem Homo sapiens die Weiterentwicklung hin zu jenem höheren Intentionalitätsgraden einsetzte, mit denen unsere Kultur spielt.“ (Ebd.)

Diese Grenze scheint sich aber nicht nur zwischen den verschiedenen Spezies zu ziehen, sondern auch eine Grenze des menschlichen Denkens selbst zu sein: „Und psychologische Tests zeigen, dass sich die Irrtumsrate beim Auflösen von Bezugsketten der vierten Ordnung nur um die 5 Prozent bewegt. Erhöht man jedoch den Schwierigkeitsgrad um eine weitere Stufe – A schreibt, daß B sagt, dass C denkt, dass D meint, dass E glaubt –, steigt die Fehlerquote bereits auf 60 Prozent. Nicht zuletzt deshalb geht jedes Schreiben weit schwieriger und langsamer vor sich als das Lesen ...“ (Schrott 2011, S.24)

Ab der fünften Ordnung einer Bezugskette von Intentionalitätsvermutungen (vierte Ordnung: A-D, fünfte Ordnung: A-E) bekommen die meisten von uns Schwierigkeiten, sie nachzuvollziehen. Interessant ist der Hinweis über die Differenz zwischen Autor und Leser eines Textes. Schrott meint wahrscheinlich – aufschlußreicherweise bin ich hier auf eine Intentionsvermutung angewiesen –, daß der Autor eines Textes immer noch zusätzlich die Intentionalität des Lesers mitberücksichtigen muß. Allerdings vergißt Schrott, daß auch der Leser wiederum (also in diesem Fall ich in bezug auf Schrott) zum Verständnis des Gelesenen die Intentionalität des Schreibers berücksichtigen muß. Der Unterschied liegt also letztlich darin, daß der Leser die Autorenintention nur re-konstruieren muß – denn er greift ja auf einen vorhandenen Text zurück –, während der Autor – dem der mögliche Leser ja nicht gegenwärtig ist – die Leserintention konstruiert; was angesichts eines Abwesenden allemal schwieriger ist. Deshalb ist es wohl auch schon immer leichter gewesen, einen Text zu kommentieren, als ihn zu schreiben.

Es gibt also nicht nur eine Differenz des Gesagten und Gemeinten hinsichtlich der eigenen Intentionalität (Bedeutungsdimension), sondern auch eine Differenz hinsichtlich der gemeinsamen Intentionalität (Sinndimension). Wie aus folgendem Zitat hervorgeht, läßt sich deshalb Wahrheit nicht mehr daran festmachen, daß Begriffe und Inhalte 1:1 übereinstimmen: „Die Frage nach objektiven Wahrheitsgehalten stellt sich als Frage nach einer Intentionalität, die beim Sender wie beim Empfänger auf denselben ökonomischen Prinzipien basiert. ... Das setzt einen Sprachbegriff voraus, bei dem Worte nur ein Medium sind, mit dem Gedanken vermittelt werden, und eine Auffassung von Kommunikation, bei der es weniger um das Verständnis von Sätzen als um das Erkennen von Sprecherintentionen geht. Um dies zu gewährleisten, leiten wir von Gesagten weit öfter Bedeutungen ab, als dass wir uns mit der rein wörtlichen Aussage zufriedengeben. ... Danach gefragt, was jemand gesagt hat, geben wir es darum nur selten verbatim wieder; stattdessen drücken wir das aus, was wir für das eigentlich Gemeinte halten.“ (Schrott 2011, S.214f.)

Hier kann ich abschließend nur noch ergänzen: Wo wir uns mit „rein wörtlichen“ Aussagen nicht mehr zufrieden geben können und wo „Intentionalität ... die Idee ‚wörtlicher Bedeutung‘ (ersetzt)“ (vgl. Schrott 2011, S.215), kann die Aufgabe der Kunst auch nicht darin bestehen, uns mit „reinen Stimuli“ zu versorgen.

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