„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 24. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Der häufige, unkritische Gebrauch des Begriffs der Konditionierung, auf den ich im letzten Post hingewiesen habe, führt zu weiteren Widersprüchen in Schrotts Ausführungen zur Wirkungsweise von Poesie. Da der Begriff von den Behavioristen kommt und diese dafür bekannt sind, alle Verhaltensweisen als Reaktionen auf einfache Reize (Stimuli) zu definieren, ist es fast schon nicht mehr verwunderlich, wenn Schrott das Wesen der Poesie daran festmacht, uns mit „reinen Stimuli“ zu versorgen: „Reine Stimuli zu präsentieren gehört zu den fundamentalen Anliegen der Poesie. Sie stellen ein Qualitätskriterium dar, an dem Poesie sich messen lassen muss, denn ihre Bilder wollen ja das nur ungenau Geschaute sichtbar werden lassen und dem Überhörten zur Sprache verhelfen.“ (Schrott 2011, S.260)

Hier haben wir den gravierenden Widerspruch zu Schrotts sonstigen grundlegenden Ausführungen zur Sprache als metaphorischem Prozeß schon in diesen zwei Sätzen zur Poesie: „reine Stimuli“ als Mittel, das nur „ungenau Geschaute“ sichtbar zu machen, – beides paßt einfach nicht zusammen! Darüberhinaus legt die Kennzeichnung von Kunst als „optimale(r) Stimulierung“ (Schrott 2011, S.259), wie es eine Seite zuvor heißt, diese darauf fest, den „Eindruck von Unmittelbarkeit: von Gegenwart“ zu erzeugen. Schrott degradiert die Kunst damit zu einem bloßen Virtualisierungsmechanismus, was sie auf eine Stufe mit Computerspielen stellt, in denen wir tatsächlich mit optimalen, ‚reinen‘ Stimuli konfrontiert werden, wie in jedem Rauscherlebnis, ob es sich nun um Opiate handelt, um Alkohol oder um andere Substanzen. Aber Kunst als Rauscherlebnis? Möglich, daß manche Künstlerbiographie Belege für so eine Vermutung liefert. Aber damit geht Schrott doch, wie ich vermute, ziemlich an dem vorbei, was er eigentlich sagen will.

Ich erinnere mich an einen BBC-Zweiteiler, der Anfang 2006 im Fernsehen lief. Dort präsentierte ein Neurophysiologe zur Erklärung von Kunst seine These, daß unser Gehirn besonders auf die Überbetonung einzelner, isolierter Reize (Stimuli) reagiere. Das belegte er mit einem Beispiel aus dem Tierreich: Silbermöwenküken reagierten um so heftiger auf kleine Stäbe mit einem roten Punkt am Ende, je größer dieser rote Punkt war. Dieser rote Punkt befindet sich natürlich auch an der Schnabelspitze der Silbemöweneltern und lädt, wenn er sich dem Küken nähert, zum Fressen ein. Der besagte Neurophysiologe glaubte damit nun bewiesen zu haben, daß so auch unser menschliches Gehirn auf Kunst reagiere: z.B. auf die Venus von Willendorf mit ihrem übergroßen Busen und Hintern.

Diese Kunsttheorie ist Behaviorismus reinsten Wassers. Im Endeffekt läuft sie auf die Beaudrillardsche Hyperrealität hinaus, die wir für realer halten, als die wirkliche Wirklichkeit, weil in ihr die Tomaten röter und die Melonen größer sind. – Aber wie gesagt: das hat Schrott eigentlich gar nicht gemeint.

Schon Jacobs bringt ein paar Seiten weiter Befunde, die in eine ganz andere Richtung gehen: „Die moderne Leseforschung zeigt, dass ‚Unvollständigkeit‘ das physiologische Erregungsniveau erhöht und die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Assimilation weiterer Textelemente an das Schema richtet – so lange, bis Vollständigkeit, Auflösung der Spannung und damit Erlösung einsetzen. Laut der Evaluationstheorie der Emotionen des Psychologen George Mandler bestimmen wertbezogene kognitive Evaluationsvorgänge die Qualität von Emotionen, während ihre Intensität von autonomen Erregungsvorgängen bestimmt wird, die durch Diskrepanzen – Unvollständigkeit, Ambiguität – in der Handlung erzeugt werden.“ (Jacobs 2011, S.263)

Diese Sensibilität für das Unvollständige und für Ambiguität erinnert mich an das Montageprinzip des kommunikativen Gedächtnisses, wie es Harald Welzer beschreibt. (Vgl. meinen Post vom 22.03.2011) Danach nutzen Zuhörer und Leser Verständnislücken in den Geschichten, um sie mit eigenem Sinn zu füllen. Sie ergänzen also das, was sie hören, so daß sich ein ihrem jeweiligen Verständnis entsprechender ‚guter‘ Sinn daraus ergibt. Das war ja genau das Problem, auf das ich in meinem ersten heutigen Post zu „Naivität und Kritik/Reflexion“ zu sprechen gekommen bin. Denn das macht uns ja so anfällig für die Verführungen der Poesie und der Demagogie: daß wir immer unbewußt bereit sind, fehlenden Sinn (und fehlende Argumente) zu ergänzen, so daß wir im schlimmsten Fall glauben, etwas verstanden zu haben, wo es gar nichts zu verstehen gab.

Wenn Poesie so wirkt, dann hat Poesie – und überhaupt die Kunst – mit reinen Stimuli wenig zu tun. Das wird, wiederum einige Seiten weiter, auch bei Schrott selbst noch einmal deutlich. So heißt es z.B. zur Textqualität: „Ein guter Text zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er die entsprechenden Koordinatenachsen – des Klangs, der Form und des Inhalts – stimmig zu entwerfen versteht. Dadurch wird der Effekt von Sinn erzeugt und auch fühlbar: als erlebtes Verständnis, als intuitives Erfassen eines Ganzen, das über die Einzelaussagen hinausgeht. Wo sonst Redundanzen als überflüssig, wenn nicht gar störend erfahren werden, greift ein poetischer Satz diese auf, um daraus etwas Essentielles entstehen zu lassen. Zum einen erweitern sie die einzelnen Aussagen lautmalerisch mit einem zusätzlichen emotiven Gehalt und versehen sie mittels aller sich ergebenden Assoziationen mit einem breiten Kontext – durch jene Anklänge, die nicht nur Onomatopoeien und bestimmte Vokale, sondern auch Melodiebögen hervorzurufen imstande sind. Zum anderen verringern sie die großenteils artifizielle Distanz, die zwischen der Lautfigur eines bestimmten Wortes und seiner Bedeutung liegt, um Klang und Sinn möglichst zur Deckung zu bringen.“ (Schrott 2011, S.268)

Schrott wird kaum die hier angesprochenen „Redundanzen“, mit denen ihm zufolge gute Texte arbeiten, als „reine Stimuli“ bezeichnen können. Gerade daß diese Redundanzen der Kontexte bedürfen, des unwägbaren Zugewinns an Sinn von Sinn, macht diese Redundanzen zum genauen Gegenteil dessen, was er wenige Seiten zuvor als „reine Stimuli“ bezeichnet hatte. Ich vermute einfach, daß ihn das häufige unkritische Verwenden des Konditionierungsbegriffs ‚unbewußt‘ auf diese schiefe Ebene gebracht hat, die ihn bei den reinen Stimuli hat landen lassen.

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