„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 7. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

1. Prolog: Sinn von Sinn und aufgeklärter Nihilismus

„Gehirn und Gedicht“ ist ein wirklich auf Augenhöhe stattfindender interdisziplinärer Diskurs zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, repräsentiert von dem Schriftsteller Raoul Schrott – hier in der Funktion des Literaturwissenschaftlers – und dem Allgemeinen Psychologen Arthur Jacobs, der mit seinem umfassenden Wissen u.a. aus der Psychologie und der Neurophysiologie beeindruckt. An vielen Stellen fühlte ich mich bei der Lektüre an Helmuth Plessners Programm einer vom „Ganzen der menschlichen Organisation“ ausgehenden „Ästhesiologie des Geistes“ erinnert. (Vgl. Einheit der Sinne (1923), S.248) Umso bedauerlicher ist es – und dies ist nur eine kleine Einschränkung meiner Anerkennung für die Leistung des gemeinsamen Werkes von Schrott und Jacobs –, daß sich nirgendwo ein Bezug auf Plessner findet.

Ich habe jedenfalls sehr von der Lektüre von „Gehirn und Gedicht“ profitiert, und es wird mir schwerfallen, in den folgenden Posts der Überfülle an Informationen, die dieses Buch beinhaltet, gerecht zu werden. Deshalb möchte ich hier einen Prolog vorwegnehmen, in dem ich einige der für mich wichtigsten Gedanken, zu denen mich das Buch angeregt hat, vorwegnehme. Dieser Prolog soll so zugleich den versammelnden Hintergrund für die verschiedenen Aspekte bilden, auf die ich dann in den folgenden Posts eingehen werde. Diese Posts werden nur Schlaglichter auf einen 520 Seiten umfassenden Text (ohne Literaturverzeichnis) werfen können und so letztlich vor allem meine subjektive Perspektive auf das gewaltige Thema von Gehirn und Gedicht zum Ausdruck bringen. Zu einer angemessenen Würdigung dieses Buches sehe ich mich hier nicht in der Lage.

Für jetzt geht es mir vor allem um eine Klärung des Bedeutungsbegriffs, auf den ich schon in meinem Post vom 08.01.2011 („Ausdruck und Sinn“) eingegangen bin. Ich halte es für sinnvoll zwischen fünf verschiedenen Dimensionen der Bedeutung zu unterscheiden. Jede dieser Dimensionen beinhaltet eine spezifische Differenz.

Erstens gibt es die binäre Differenz: es wird etwas gesagt oder nicht, also geschwiegen. Dies ist die fundamentale Differenz. Wir finden sie sowohl im binären Code des Informationsbegriffs wieder wie auch als existentielle Differenz in Hamlets „Sein oder Nicht-Sein“. Der Mensch befindet sich als exzentrische Positionalität immer schon jenseits dieser Differenz. Wenn es richtig ist, daß mit der exzentrischen Positionalität notwendig auch Expressivität verbunden ist, beginnt die Menschlichkeit dort, wo der Mensch sich oder etwas zum Ausdruck bringt. Der existentiellen Differenz zwischen Sagen und Nicht-Sagen kommt – neben der Musik – die Onomatopoeie als „Ausdrucksform des Seins“ (vgl. Schrott/Jacobs 2011, S.235) am nächsten. Sie ist die expressivste aller Ausdrucksformen! Ähnlich wie bei der Musik ist der Bezug auf konkrete kontextuelle Referenzen variabel, so daß wir es hier mit einer sich an der Grenze zum Nicht-Sagen haltenden, gleichsam „schwebenden Intentionalität“ zu tun haben. (Vgl. Schrott/Jacobs 2011, S.281)

Zweitens gibt es die referentielle Differenz: Das Zeichen verweist auf das Bezeichnete so, wie der Finger auf einen Gegenstand zeigt. Die Entsprechung zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist vollständig, ohne Rest, ohne daß dabei aber die Differenz zwischen dem Finger bzw. dem Zeichen und dem Gegenstand fraglich würde. Sobald wir aber versuchen, nicht nur auf den Gegenstand zu verweisen, sondern ihn auszusagen, entsteht eine neue Differenz, die Sinndifferenz oder: der Sinn von Sinn.

Drittens die Differenz des Sinnes von Sinn: Dabei handelt es sich um die Differenz zwischen Vordergrund und Hintergrund. Hier geht es um den Kontext, in den alle Gegenstände eingebettet sind, so daß jeder Versuch, einen Gegenstand vollständig in allen seinen Bezügen auszusagen, an der Komplexität seines Kontextes scheitern muß.

So wird es auch möglich, zwischen ‚Sinn‘ und ‚Zweck‘ zu unterscheiden. Wenn etwas einen Zweck hat bzw. einen Zweck erfüllt – man spricht hier auch davon, daß ‚etwas Sinn macht‘ –, handelt es sich nicht um Sinn als umfassenden, sinnstiftenden Kontext, bei dem wir es mit einem Ganzen aus Teilen (Sinn von Sinn, Vordergrund/Hintergrund) zu tun haben, sondern um eine isolierte Funktion, d.h. um ein Mittel-Zweck-Verhältnis. Bei ‚Mitteln‘ und ‚Zwecken‘ ist die Festlegung darauf, was gerade Zweck und was Mittel ist, subjektiv beliebig. In einem Sinnzusammenhang ist der Bezug auf das Ganze aber nicht subjektiv beliebig, sondern subjektiv zwingend. Das hat mit dem Gestaltcharakter des Sinns zu tun.

Der Unterschied zwischen subjektiver Beliebigkeit (Mittel/Zwecke) und subjektiver Nötigung (Gewissen) ist im Alltag schwer zu durchschauen und stiftet leicht Verwirrung. Das zeigt sich an der Redewendung, nach der angeblich die Zwecke die Mittel heiligen. Die Antithese lautet, daß die Mittel die Zwecke richten. Was stimmt nun? An der Differenz zwischen Zweck und Sinn kann man zeigen, daß Mittel und Zwecke in keinem moralischen, sondern in einem funktionalen Verhältnis zueinander stehen. Es ist eben nicht so, daß Mittel und Zwecke in einem wechselseitigen Rechtfertigungszusammenhang stehen. Ein Rechtfertigungsverhältnis ergibt sich erst aus einem Sinnzusammenhang. Und erst dann haben wir es auch mit einer Gewissensfrage zu tun.

In „Liberty Stands Still“ wird z.B. der Sohn eines im Dienste der Waffenlobby stehenden, korrupten US-Senators erschossen. Der Todesschütze verweist ironisch auf die damit verbundene günstige Gelegenheit für diesen Senator, den Tod seines Sohnes als Argument für die Waffenlobby zu nutzen, daß jeder freie Bürger zu seinem eigenen Schutz das Recht haben muß, eine Waffe zu besitzen. Und der Todesschütze fügt hinzu, daß so der Tod des Senatorensohnes wenigstens einen Zweck gehabt habe, und er unterstellt damit, daß das dem Senator ein gewisser Trost sein müßte.

In der Tat hat der Tod des Senatorensohnes einen ‚Zweck‘ gehabt, wenn er im Streit um die Freiheit des unbeschränkten Waffenbesitzes als Argument dient. Aber hat er deshalb auch einen Sinn gehabt? Diese Frage kann man getrost verneinen. Der Sinn des Senatorensohnes besteht weder darin, Sohn eines Senators zu sein, noch darin, dem Schützen in seinem Kampf gegen die amerikanische Waffenhysterie als Demonstrationsobjekt zur Verfügung zu stehen. Der Sinn des Senatorensohnes liegt in einem Ganzen seiner noch vor ihm liegenden Bestimmung, die so sehr über seine Vereinzelung hinausgeht, wie sie ohne ihn nur unvollständig wäre und scheitern müßte. Dieser Bestimmung gegenüber hat sich der Senatorensohn zu bewähren. Daß er auf seinem Weg dorthin einem Zweck zum Opfer fällt, sollte weder für seinen Vater noch für sonst irgendjemanden ein Trost sein dürfen.

Wenn man also von einem Rechtfertigungszusammenhang sprechen kann, so nur zwischen Mittel-Zweck-Verhältnissen und dem Sinn. Und dieser Rechtfertigungszusammenhang ist kein wechselseitiger. Widersprechen die Mittel unserer Lebenserhaltung dem Sinn unserer Menschlichkeit, so ist es nicht der Sinn, der modifiziert werden müßte.

Diese Verhältnisbestimmung von Mitteln und Zwecken auf der einen Seite und von Sinn auf der anderen Seite stimmt übrigens mit der zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs überein. Wenn Kant festhält, daß jeder Mensch niemals nur als Mittel, sondern immer auch als ‚Zweck‘ behandelt werden müsse, so verbirgt sich in diesem ‚Zweck‘ der Sinn, den jedes Menschenleben haben muß, um als menschenwürdig wahrgenommen werden zu können.

Wie ist diese Definition von ‚Sinn‘ mit einem aufgeklärten Nihilismus vereinbar? Indem es hier nicht um Sinn schlechthin geht, sondern um „Sinn von Sinn“, wie er der Figur-Hintergrund-Relation der Gestalttheorie entspricht. Die Horizontstruktur von Figur und Hintergrund beinhaltet, daß wir es hier nicht einfach nur mit einer Problematik des hin und her Springens zwischen Vordergrund und Hintergrund zu tun haben, sondern mit einem Hintergrund, der jedesmal, wenn wir ihn zu fokussieren versuchen, neue Hintergründe eröffnet.

„Sinn von Sinn“ (Franz Fischer) bedeutet, daß wir Sinn erst im Handeln konstituieren (nicht ‚rekonstruieren‘!), ähnlich wie Realität erst durch Wahrnehmung konstituiert wird (vgl. meine Posts vom 04.06.2010 und 05.06.2010 zu Lambert Wiesing). Außerhalb unseres Handelns gibt es Sinn nur als kulturellen Sinn, also als gemeinsame Intentionalität (Tomasello). Die verschachtelte Horizontstruktur des Sinns von Sinn eröffnet sich also individuell über unser Handeln und kulturell über gemeinsame Intentionalität. Dies ist die Differenz des Sinnbegriffs.

Viertens gibt es die Differenz zwischen Sagen und Meinen, also die Bedeutung im eigentlichen Sinne. Sie ist unmittelbare Folge unserer exzentrischen Positionalität, also der Doppelaspektivität von Innen und Außen. (Vgl. meine Posts zu Plessner) Diese Differenz beruht darauf, daß unsere Intentionen weder in dem, was wir sagen, noch in dem, was wir tun, jemals vollständig zum Ausdruck kommen können. Im Unterschied zur referentiellen ‚Differenz‘ bleibt immer ein Rest; d.h. unsere Intentionen brechen sich in den Medien des Sagens und des Handelns. Mit der Intentionalität ist hier sowohl die individuelle (Ich) wie auch die gemeinsame (Ich und Du, Wir) Intentionalität gemeint. Ein Rest an Nicht-Ausgesagtem bleibt immer, gleichgültig, ob wir nur uns selbst (Bedeutung) oder einen gemeinsamen Sinn (Sinn von Sinn) zum Ausdruck bringen wollen.

Und fünftens gibt es die ‚artikulatorische‘ Differenz (differánce). Damit meine ich, daß sich die Zeichen wechselseitig untereinander differenzieren, z.B. auf der Ebene von Buchstaben, wo die Differenz vom ‚a‘ zum ‚e‘ festlegt, wie sich ‚a‘ anhört, auf der syntaktischen Ebene, wo beliebig Objekte als Subjekte und Subjekte als Objekte oder Handlungen als Dinge und Dinge als Handlungen auftreten können, oder auf der lexikalischen Ebene, wo wir es je nach einem Bestand von 5.000 oder von 300.000 Wörtern mit einem gröberen oder feineren Geflecht von Bedeutungen zu tun haben. Denn im Lexikon verweisen die Wörter auf nichts als auf einander und auf sich selbst. Diese Binnendifferenzierung innerhalb des Zeichensystems bildet die Grundlage des Informationsbegriffs.

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