„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 20. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Plessners exzentrische Positionalität basiert auf der Gegenüberstellung von Körper und Gehirn, dem Körperleib. Schrott entwickelt in „Gehirn und Gedicht“ neben der schon im Titel zum Ausdruck kommenden Gegenüberstellung weitere, das ganze Buch durchziehende Gegenüberstellungen, von denen die wichtigste die sowohl wahrnehmungspsychologische Strukturen wie kulturelle und rhetorische Techniken betreffende Gegenüberstellung von Figur und Grund ist: „Gestaltpsychologisch gesprochen erhalten Figur und Grund ... somit erst in der Gegenüberstellung ihre Konturen ...“ (Schrott 2011, S.203)

Wie schon im letzten Post angesprochen handelt es sich hierbei um Analogien zwischen optischen und figurativen Täuschungen. Schrott zählt insgesamt vier optische Täuschungen auf, die ihre Entsprechung auf der Ebene des Sprachverstehens (figurative Täuschungen) haben: Ambiguitäten (Kippfiguren und perspektivische Täuschungen), Verzerrungen (Stock im Wasser, Müller-Lyersche Täuschungen (gleich lange Linien, die durch zusätzliche Markierungen als unterschiedlich lang erscheinen)), Fiktionen (Gestaltillusionen beim Rorschach-Test, Auffüllen von Lücken beim Kaniza-Dreieck) und Paradoxa (M.C. Eschers unmögliche Welten, das unmögliche Dreieck). (Vgl. Schrott 2011, S.148f.) Sprachliche Analogien zu diesen optischen Täuschungen bilden Sätze wie „Jeder Mann liebt eine Frau“ (ambig): es könnte hier eine bestimmte Frau wie Helena gemeint sein oder einfach nur irgendeine Frau. – „Er ist Kilometer größer“: Übertreibung bzw. perspektivische Verzerrung. – „Im Rückschritt liegt der Fortschritt.“ (Paradox) – „Sie lebt in einem Spiegel“ (Fiktion): sprachliche Konstruktion einer virtuellen Welt. (Vgl. Jacobs 2011, S.157)

Alle diese Täuschungen beruhen auf Gestaltprinzipien: „1. Wir trennen eine Figur vom Grund. 2. Wir sehen jedes Reizmuster so, dass die resultierende Struktur so einfach wie möglich ist (Gesetz der guten Gestalt). 3. Ähnliche oder nahe Dinge erscheinen uns zu Gruppen geordnet (Gesetz der Ähnlichkeit und der Nähe). 4. Wir tendieren dazu, Punkte auf direktestem Weg zu Linien zu verbinden (Gesetz der fortgesetzt durchgehenden Linie). 5. Dinge, die sich in die gleiche Richtung bewegen, erscheinen uns zusammengehörig (Gesetz des gemeinsamen Schicksals).“ (Schrott 2011, S.483) – Sowohl auf der Wahrnehmungsebene wie auch auf der Ebene des Sprachverstehens vervollständigen wir deshalb einzelne Sinneseindrücke wie z.B. gleichfarbige, sich in die gleiche Richtung bewegende Flecken im Gebüsch zu einem Löwen (vgl. Schrott 2011, S.130) oder bestimmte Redefiguren wie z.B. Metalepsen, die einzelne Argumentationsschritte überspringen, zu einer wohlgeformten, schlüssigen Logik, der wir uns beugen, ohne den impliziten Betrug zu bemerken. (Vgl. Schrott 2011, S.452)

Mit perspektivischen Verzerrungen, Auslassungen und insbesondere Gegenüberstellungen von Strukturen und Figuren arbeiten insbesondere Metaphern und Analogien. Um die verschiedenen stilistischen Elemente, die Schrott insgesamt unter dem Sammelnamen Metapher/Analogie zusammenfaßt, zu unterscheiden, schlägt er vor, eine Skalierung vorzunehmen, „die vom empirisch Überprüfbaren zum nur subjektiv Nachvollziehbaren führt:
  1. Eigenschaften von A gehören auch B an. (Synekdoche: pars pro toto – DZ)
  2. Eigenschaften von A hängen von B ab. (Metonymie – DZ)
  3. Eigenschaften von A verhalten sich zueinander wie Eigenschaften von B zueinander. (Analogie – DZ)
  4. Einzelne Eigenschaften von A sehen aus wie B. (Simile – DZ)
  5. A ist nicht B; aber da ist etwas an A, das an B erinnert (ohne dass es sich anders sagen lässt.)“ (Metapher – DZ (Schrott 2011, S.193))
Für diesen Post ist hier am interessantesten, wie Schrott den Unterschied zwischen Simile und Metapher begründet. (Vgl. Schrott 2011, S.193f.) Der zunächst nur rein äußerliche, nicht inhaltlich bestimmte Unterschied besteht vor allem darin, daß man bei einem Simile ein ‚wie‘ einfügt: „Julia ist wie die Sonne.“ Verzichtet man auf das ‚wie‘, haben wir eine Metapher. Aber dieser zunächst nur rein äußerliche Unterschied hat nun einen erstaunlichen Effekt: Benutzen wir nämlich das ‚wie‘, verhalten wir uns Julia (A) und der Sonne (B) gegenüber wie Beobachter, die zwei nebeneinandergestellte Objekte von außen betrachten. Verzichten wir aber auf das ‚wie‘, werden die beiden miteinander verglichenen Objekte A und B überblendet und sie erhalten eine räumliche Tiefenschärfe, in deren Mitte wir uns nun versetzt fühlen: „Statt A und B (wie beim Simile – DZ) perspektivische Linien zu verleihen, an denen gemeinsame Ähnlichkeiten augenfällig werden, vereinnahmt das absolut gesetzte Ist-Gleich der Metapher den Betrachter: statt von außen, besieht er sie gleichsam von innen; und um ihren Sinn zu erkennen, muss er sich in die durch sie geschaffene Welt stellen.“ (Schrott 2011, S.203)

Hier entsteht etwas, das Plessner die Doppelaspektivität von Innen und Außen nennt. Wir sind beim Verstehen einer Metapher gleichzeitig Mitte und Peripherie. Mit der Metapher eröffnet sich so etwas wie ein „dreidimensionaler Denkraum“ (vgl. Schrott 2011, S.196): „So konstruieren wir quasi zwischen A und B einen psychisch fühlbaren, dreidimensionalen Raum; wir entwerfen von den beiden Begriffspolen aus – über die Längen- und Breitenkreise der mit ihnen assoziierten Konzepte – ein in sich geschlossenes Universum, in dessen Mitte wir uns selbst sehen.“ (Schrott 2011, S.197)

Das ist an sich schon eine interessante Parallele zu Plessners exzentrischer Positionalität. Noch interessanter wird es aber für mich, wenn Schrott feststellt, daß die Metapher „eine Art optischer Täuschung“ darstellt, „durch die wir paradoxerweise die reale Welt besser erkennen.“ (Vgl. Schrott 2011, S.200) – Diesen Gedanken, daß Täuschungen nicht unbedingt ein Erkenntnishindernis darstellen müssen, sondern sogar ein Erkenntnismittel sein können, habe ich in meinem Post zu Günther Anders (vom 24.01.2011) mit meinen Überlegungen zur zweiten Naivität verbunden. Schrott meint mit seiner ‚paradoxen‘ Überlegung, daß im Unterschied zur optischen Täuschung die figurative Täuschung der Metapher Sachverhalte zum Ausdruck bringen hilft, die durch wörtliche Rede nicht erfaßt werden können: „... denn ihre Bilder wollen ja das nur ungenau Geschaute sichtbar werden lassen und dem Überhörten zur Sprache verhelfen.“ (S.260) – Jenes ungenau Geschaute nämlich, das durch genaueres Hinsehen nicht etwa deutlicher wird, sondern im Gegenteil ganz aus unserem Blickfeld verschwindet.

Dazu gehört natürlich, daß wir das Verwenden von Metaphern kontrollieren und wir uns nicht durch rhetorische Tricks am Gebrauch unseres Verstandes hindern lassen. So hatte ich auch die zweite Naivität verstanden, die sich als kontrollierte Naivität über die erste, unkontrollierte Naivität erhebt.

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