„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 19. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Die bei der Beobachtung von Hirnaktivitäten von den verschiedenen nichtinvasiven Methoden gelieferten Daten beruhen vor allem auf statistischen Berechnungen. So weit ich es mit meinem mathematisch ungeschulten Verstand beurteilen kann, haben wir es dabei vor allem mit zwei Formen der Statistik zu tun, – zumindestens subsumiere ich diese beiden mathematischen Gebiete unter die Statistik, auch wenn das fachlich vielleicht nicht ganz korrekt ist. Gemeint sind die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die vergleichende Korrelation von verschiedenen, willkürlich zusammengestellten Mengen zwecks Feststellung, ob sich so signifikante Zusammenhänge sichtbar machen lassen.

Solche ‚Mengen‘ können einerseits Häufigkeiten sein, wie z.B. das Feuern von Neuronen und Neuronengruppen, und andererseits können es Bewußtseinsphänomene sein, etwa subjektive Erlebnisse und Wahrnehmungen, oder auch Haltungen und Verhaltensweisen, etwa einfache Denkprozesse, situationsbezogene Vorstellungen etc. Komplexeres Verhalten in realen sozialen Situationen begleitende Hirnaktivitäten lassen sich mit den umständlichen Apparaturen, die den Neurophysiologen bislang zur Verfügung stehen, noch nicht beobachten.

Die neurophysiologischen Erkenntnisse, die sich so gewinnen lassen, beruhen also unabhängig von den verwendeten Apparaturen vor allem auf der Interpretation von statistisch erworbenen Daten. Nicht umsonst hält Jacobs fest, daß man auf diesem Weg bestenfalls zu ‚Kausalnarrationen‘ gelangen kann. (Vgl. Jacobs 2011, S.25) Mit den auf harten Fakten zurückzuführenden Kausalgesetzlichkeiten der klassischen Naturwissenschaften hat das nicht mehr viel zu tun. Daten sind keine Fakten! Daten werden im Unterschied zu Fakten überhaupt erst dann zu Daten, wenn sie interpretiert werden! Ohne Interpretation haben wir es noch nicht einmal mit Daten zu tun. Das gilt schon für die Phase, in der wir Daten sammeln. Denn um Daten sammeln zu können, müssen wir schon eine ungefähre Vorstellung, also eine mögliche Interpretation davon haben, was wir da gerade sammeln. Und das gilt erst recht für die Phase, in der wir die Daten auswerten. Erst in der Auswertung – also wiederum durch die Interpretation – wird durch die Daten etwas sichtbar, das unser Wissen über bestimmte Zusammenhänge erweitern könnte.

Nicht von ungefähr sprechen Schrott und Jacobs von einem „Blindenstock“ (vgl. Schrott/Jacobs 2011, S.9), mit dem wir – um diese Metapher auszubauen – in eine bestimmte Richtung stochern, in der Hoffnung auf eine Bordsteinkante zu stoßen oder auf eine Tür, oder was auch immer sich nach unserer Erwartung auf diesem Weg finden sollte und uns bestätigen könnte, daß wir nicht in die Irre gehen. Statistiken leisten also vor allem eines: sie machen sichtbar, was wir auf anderem Wege nicht in den Blick bekommen können. Meistens haben wir es dabei mit überkomplexen Situationen zu tun oder mit riesigen Zahlenverhältnissen – wenn z.B. moderne Scanner Nervenaktivitäten an 100.000 Orten im Gehirn gleichzeitig messen –, die unseren einfachen Menschenverstand überfordern.

Es sollte also für jeden Forscher selbstverständlich sein, daß er es beim Umgang mit statistisch erhobenen Daten nicht mit der Wirklichkeit zu tun hat, sondern mit Interpretationen von Zahlenverhältnissen. Statistik ist also zwar eine Forschungsmethode aber kein Naturprozeß! Sie ist nicht das Faktum selbst, – nicht einmal eine Interpretation eines Faktums. Sie ist lediglich die Interpretation eines Datums.

Wenn Schrott an einer Stelle dennoch von „harten statistischen Fakten“ spricht (vgl. Schrott 2011, S.270), so haben wir es hier mit einem Oxymoron zu tun. Die Wörter ‚hart‘, ‚statistisch‘ und ‚Fakten‘ zu einem Begriff zusammenzufügen, ist etwa so sinnvoll wie das berüchtigte hölzerne Eisen.

Noch an anderen Stellen habe ich Probleme mit Schrotts und Jacobs Umgang mit der Statistik, auf die ich dann aber noch in einem der folgenden Posts eingehen werde. Für jetzt will ich nur kurz darauf verweisen, daß ich es für falsch halte, das kindliche Erlernen der Sprache, insbesondere der Syntax, auf eine statistische Methode zurückzuführen. (Vgl. Schrott 2011, S.181) Denn Statistik ist nicht nur kein Naturprozeß, – sie ist auch kein Bewußtseinsprozeß. Sie hat allererst gewisse fundamentale Bewußtseinsprozesse zur Voraussetzung, Bewußtseinsprozesse, die auch dem Sprechenlernen zugrundeliegen. Ich meine hier generell die Gestaltwahrnehmung und beim Sprechenlernen insbesondere das Verstehen von Bedeutungen und von Sinn.

Keine Statistik funktioniert ohne Kategorienbildung und – wie ebenfalls in den folgenden Posts noch zu zeigen sein wird – Kategorienbildung beruht auf der Fähigkeit zur Gestaltwahrnehmung. Erst wo wir Ähnlichkeiten zwischen Dingen und Intentionen erkennen und verstehen, können wir sie Mengen zuordnen, die wir dann vergleichen können. Und nur aufgrund der Ähnlichkeit von Kausalverhältnissen, Intentionen und Situationen, können wir Erwartungshaltungen herausbilden hinsichtlich dessen, welche Wörter in einem beim Sprechen oder Lesen sich formenden Satz wahrscheinlich noch folgen werden, so daß das sprechenlernende Kind erste rudimentäre Vorstellungen von einer Syntax entwickeln kann.

Das kann man natürlich als statistische Methode bezeichnen, die das Kind beim Sprechenlernen anwendet. Dabei übersieht man aber die eigentliche Bewußtseinsleistung, die diesem Lernprozeß zugrunde liegt. Bei aller anerkennenswerten Interdisziplinarität, die Schrott und Jacobs in „Gehirn und Gedicht“ zeigen, wird hier doch eine Gefahr deutlich, die sich gerade in interdisziplinären Untersuchungen verbirgt: der unbedachte Umgang mit verschiedenen Methoden, hier z.B. insbesondere Phänomenologie, Hermeneutik und Statistik. Die Phänomenologie eignet sich am besten, um unmittelbare, subjektive Erlebnisse zu beschreiben; die Hermeneutik eignet sich am besten, um mittelbare Kontexte zu beschreiben; und die Statistik eignet sich am besten, um Zusammenhänge dort sichtbar zu machen, wo sie sich dem einfachen menschlichen Verstand prinzipiell entziehen. Der Verschiedenheit dieser Methoden müssen wir uns immer bewußt sein, um unberechtigte, in die Bereiche des Bewußtseins hineinreichende Kausalnarrationen zu vermeiden.

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