„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 26. Januar 2011

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 7/1988 (1956)

(Über prometheische Scham, S.21-95; Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, S.97-211; Sein ohne Zeit. Zu Becketts Stück „En attendant Godot“, S.213-231; Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit, S.233-308)

1. Bilder, Phantome und Informationen
2. Falsche Lebenswelten (coram publico)
3. Falsche Lebenswelten (Verbiederung)
4. Falsche Lebenswelten (Produktion)
5. Falsche Lebenswelten (Technik, A & B)
6. Falsche Lebenswelten (persönliche Verantwortung)
7. Mensch und Natur
8. homo ‚excentricus‘
9. Skizzen zu einer ästhetischen Bildung

Nachdem es im letzten Post um das mit der technologischen Verlebensweltlichung unseres Wirtschaftssystems einhergehende Verschwinden der Zwecke in den Mitteln gegangen war (A), soll es hier nun (B) mit der ultimativen Zerstörung jedes Zweck-Mittel-Verhältnisses durch die Atombombe um das Verschwinden des Mittelcharakters selbst gehen. Dabei wird es im folgenden um die serienmäßige Produzierbarkeit von Waren, um das unendliche Fortschreiten der technologischen Optionen (Fortschritt) und um das prometheische Gefälle gehen.

Ein Grundprinzip der Wirtschaftsontologie besteht darin, daß, was nur einmal ist, nicht ist: „Einmal ist keinmal; das nur Einmalige ‚ist‘ nicht; der Singular gehört noch zum Nichtsein. Das Axiom klingt widersinnig und ist tatsächlich schwer zu verstehen. Und zwar deshalb, weil, was es als ‚seiend‘ anerkennt, weder das ‚Allgemeine‘ ist, noch das ‚Einzelne‘, sondern etwas Drittes: die Serie ...“ (Antiquiertheit Bd.1, S.180) – Damit dieses Grundprinzip funktioniert, müssen alle Produkte möglichst oft reproduziert werden, um so ihre Wirtschaftlichkeit zu beweisen. Dafür muß es einen entsprechenden Bedarf geben, zu dessen Befriedigung die Produkte als Mittel dienen können, denn sonst werden sie nicht konsumiert. Und wenn sie nicht konsumiert werden, können sie nicht nachproduziert werden.

Dieses Grundprinzip wird von der Atombombe außer Kraft gesetzt. Ihre apokalyptischen Ausmaße beinhalten, daß schon ihr einmaliger Gebrauch einen solchen Schaden anrichten würde, daß danach kein ‚Konsument‘ mehr übrig bliebe, für den neue Atombomben produziert werden könnten. Selbst als ‚Mittel‘ für den zwar ultimativen, aber ebendeshalb nur einmaligen Gebrauch zur Auslöschung der Menschheit scheidet die Atombombe aus wirtschaftsontologischer Perspektive aus. Denn es macht selbst für diesen einmaligen Gebrauch keinen Sinn, die Bombe in ‚Serie‘ gehen zu lassen. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.261)

Die Produzenten der Atombombe sind nun auf den Ausweg verfallen, die Bombe ‚versuchsweise‘ einzusetzen, aus Gründen ihrer ständigen Verbesserung, um zum Beispiel mit dem technologischen Fortschritt des jeweiligen Erzfeindes mitzuhalten. Der Experimentcharakter, der dem ‚versuchsweisen‘ Einsatz von Atombomben zugesprochen wird, ignoriert aber den Umstand, daß Experimente normalerweise in einer kontrollierbaren Form und in einer kontrollierbaren Umgebung mit möglichst wenig bis gar keinem Effekt auf die Umwelt stattfinden: „Jedes Experiment hatte ein isoliertes System konstituiert, einen Vorgang in einem konstruierten Mikrokosmos, dessen Effekt auf den Makrokosmos gleich Null oder uninteressant blieb, wie weitragend auch (da das gestellte Faktum ja ein ‚Gesetz‘ etablierte) die Schlüsse sein mochten, die man aus dem Ergebnis des mikrokosmischen Modellgeschehens ziehen dürfte.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.259)

Die Geschlossenheit des Experimentierfeldes ist bei Atombombenversuchen aber nur ideologisch aufrechtzuerhalten, da hier (wie heutzutage übrigens auch in der ‚grünen‘ Gentechnik) die „Verseuchung durch die ‚Experimente‘“ „heute“ schon „allgemein“ ist. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.260) Jeder Atombombenversuch ist deshalb kein Experiment, sondern unmittelbar Geschichte: „Denn Geschichte kennt keinen Spaß und kein ‚einmal ist keinmal‘.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.261) – So ist also die Atombombe das erste und einzige technologische Produkt in einer „Welt von Mitteln“, das kein Mittel mehr ist. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.248f.)

Damit kommen wir zum zweiten Punkt: ein ‚Gerät‘ wie die Atombombe, deren serienmäßige Produktion und deren beständige technologische Verbesserung schlichtweg keinen Sinn macht, stellt nicht nur den „Geist der Industrie“ in Frage (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.250), sondern die Grundidee der Moderne: die Fortschrittsidee: „Die Fähigkeit, uns auf ‚Ende‘ einzustellen, ist uns durch den generationenlangen Glauben an den angeblich automatischen Aufstieg der Geschichte genommen worden. Selbst denjenigen unter uns, die an Fortschritt schon nicht mehr glauben.()“ (Antiquiertheit Bd.1, S.277)

Der Begriff des Negativen ist uns nur als dialektisches Prinzip geläufig, wie es der Mephisto in Goethes Faust verkörpert: als Kraft die stets das Böse will, aber stets das Gute schafft. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.278) Ein ultimatives, absolutes Ende, aus dem nichts Neues mehr folgt, übersteigt die Grenzen unserer Vorstellungskraft, womit wir auch schon beim prometheischen Gefälle angelangt wären: unsere Vorstellungskraft hält mit dem, was wir machen können, nicht Schritt.

Der Begriff des Fortschritts ist – nebenbei gesagt – eng verwoben mit dem als unausweichliches Schicksal empfundenen Wirtschaftswachstum. Daß die Wirtschaft wachsen muß, ist trotz der letzten Bankenkrise von 2008 ja nach wie vor aus den Köpfen der Wirtschaftsexperten und der Politiker nicht herauszuoperieren. Wirtschaftswachstum liegt uns gewissermaßen – qua Evolution – in den Genen. Diese Einstellung gehört allerdings zu den Ideologien, die sich, anders als Anders es sich vorstellte, längst nicht mehr „wahrlügen“ können (siehe meinen Post vom 23.01.11), weil die Realität für offene Augen und eine ungetrübte Wahrnehmung längst eine andere ist. Dabei ginge es hier nun wirklich um ein ‚Ende‘, dem unsere Vorstellungskraft prinzipiell gewachsen ist, nämlich um ein Ende des Wachstums (was noch nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem Ende des Fortschritts wäre), aus dem nun wirklich etwas Neues hervorgehen könnte. Um sich so etwas vorzustellen, braucht es nur etwas Phantasie.

Kommen wir zum dritten Punkt, dem prometheischen Gefälle. Anders zufolge ist aus der alten bzw. veralteten Bildungsidee der proportio humana längst eine Disproportion geworden. Demnach „sind wir, sofern die Folgen dieses Gefälles uns nicht tatsächlich vernichten, die zerrissensten, die in sich disproportioniertesten, die inhumansten Wesen, die es je gegeben hat. Verglichen mit diesem heutigen Riß, waren die Antagonismen, mit denen der Mensch sich bisher hatte abfinden müssen, tatsächlich harmlos. Ob es der Antagonismus zwischen ‚Geist und Fleisch‘ war, oder zwischen ‚Pflicht und Neigung‘ – wie furchtbar der Streit in uns auch getobt haben mochte, jede Differenz war doch insofern noch immer eine humane Tatsache gewesen, als sie sich eben als Streit verwirklicht hatte ... da die Kämpfenden einander nicht aus den Augen verloren hatten, die Pflicht nicht die Neigung, und die Neigung nicht die Pflicht, war die Fühlungnahme und Zusammengehörigkeit der beiden eben noch verbürgt, war der Mensch noch dagewesen.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.272)

Worin besteht dieses Gefälle? Die Atombombe hat Anders zufolge den Menschen – bei gleichbleibender Morphologie – in eine neue Spezies transformiert, die die Generationenfolge irreversibel unterbrochen hat. (Antiquiertheit Bd.1, S.239ff.) Ihr apokalyptisches Ausmaß, das die endgültige Vernichtung der Menschheit beinhaltet, hat dem heutigen Menschen eine unendliche Macht verliehen, wie sie seine Vorfahren und Eltern nicht besessen haben. Er ist kein Mensch mehr, auch kein Übermensch im Nietzscheschen Sinne: er ist ein Titan. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.240f.) Aber nur hinsichtlich seiner Fähigkeit, zu handeln. Nicht aber hinsichtlich seiner Fähigkeiten, sich die Folgen seines Handelns vorzustellen und Mitgefühl für die davon Betroffenen zu empfinden. Seine Fähigkeiten passen also nicht mehr zueinander: „Da die Vermögen sich von einander entfernt haben, sehen sie schon einander nicht mehr; da sie einander nicht mehr sehen, geraten sie schon nicht mehr aneinander(); da sie nicht mehr aneinander geraten, tun sie einander schon nicht mehr wehe. Kurz: der Mensch als solcher existiert überhaupt gar nicht mehr, sondern nur der Tuende oder Produzierende hier, der Fühlende dort; der Mensch als Produzierender oder als Fühlender; und Realität kommt allein diesen spezialisierten Menschfragmenten zu.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.272)

Die Fähigkeiten des Menschen sind so auseinandergeraten, daß man ihn nicht mehr einfach als bloß Handelnden zur Rechenschaft ziehen kann. Schon sein Nichthandeln macht ihn schuldig. Damit ist nicht etwa gemeint, daß man gegen die Atombombe protestieren und gewaltlosen Widerstand leisten soll. Damit sind die Besitzer der Atombombe gemeint. Von ihnen geht eine virtuelle Gewalt aus, allein dadurch, daß sie sie besitzen, ohne sie anzuwenden. (Antiquiertheit Bd.1, S.250) Denn von der Bombe geht eine Bedrohung aus, als würde sie angewendet, und diese macht alle Menschen auf dieser Erde schon jetzt zu Opfern, noch bevor sie wirklich eingesetzt wird: „Solange der Täter das Gerät (die Atombombe – DZ) nicht abschafft; solange er, einfach dadurch, daß er es hat, mit ihm droht; solange er seine Aktionen, die er zu Unrecht ‚Versuche‘ nennt, fortsetzt, so lange muß er als schuldig angesehen werden. Und zwar, da der Effekt eines Tuns in Annihilation besteht: als schuldig des Nihilismus; des Nihilismus in globalem Maßstab.“ (S.295f.)

So bekommt mit der Atombombe sogar der Nihilismus einen neuen Sinn, den der Annihilation, also den der Vernichtung der Menschheit. Und Nihilisten sind nicht mehr irgendwelche im Untergrund agierenden Einzelkämpfer gegen die jeweils Herrschenden, sondern die Herrschenden selbst, auch wenn sie selbst davon nichts wissen und sich selbst in einem ganz anderen Lichte sehen.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen