„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 23. Januar 2011

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 7/1988 (1956)

(Über prometheische Scham, S.21-95; Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, S.97-211; Sein ohne Zeit. Zu Becketts Stück „En attendant Godot“, S.213-231; Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit, S.233-308)

1. Bilder, Phantome und Informationen
2. Falsche Lebenswelten (coram publico)
3. Falsche Lebenswelten (Verbiederung)
4. Falsche Lebenswelten (Produktion)
5. Falsche Lebenswelten (Technik)
6. Falsche Lebenswelten (persönliche Verantwortung)
7. Mensch und Natur
8. homo ‚excentricus‘
9. Skizzen zu einer ästhetischen Bildung

In meinem Post vom 14.12.2010 hatte ich einige Überlegungen zum falschen Bewußtsein angestellt. Diesen Überlegungen folgen nun weitere Überlegungen zur falschen Lebenswelt. Damit möchte ich gleich zu Anfang festhalten, daß ich die Lebenswelt in erster Linie für ein Bewußtseinsphänomen halte und sie deshalb an der notwendigen Falschheit des Bewußtseins ihren nicht minder notwendigen Anteil hat. Zugleich gibt es aber – wie beim Bewußtsein – eine nicht-notwendige Falschheit der Lebenswelt, also eine Falschheit, die vom falschen Gebrauch unseres Verstandes stammt. Und auch hier gilt wiederum die Formel der Aufklärung: wir selbst und unser mangelnder Mut sind schuld an dieser falschen Lebenswelt, und es geht letztlich nur darum, uns zu ihr in ein rechtes Verhältnis zu setzen, um diese nicht-notwendige, überflüssige Falschheit zu überwinden. Daß wir diese Möglichkeit haben, trotz aller verhängten Falschheit von Bewußtsein und Lebenswelt, liegt ausschließlich in dem Umstand, daß der Mensch zu sich und zur Welt exzentrisch positioniert ist.

Es ist äußerst bemerkenswert, daß Anders – der im übrigen von Plessners anthropologischen Arbeiten keine Kenntnis zu haben scheint – gleich in seinem ersten Essay „Über prometheische Scham“ (Antiquiertheit Bd.1, S.21-95) eine Analyse der körperlichen Reaktionsweisen der Scham liefert, die stark an Plessners „Lachen und Weinen“ erinnern, – ohne dabei allerdings im mindesten zur von Plessner beschriebenen „exzentrischen Positionalität“ vorzustoßen. Erinnern wir uns: Plessner beschreibt das Lachen als die Reaktion auf einen gestörten Situationsbezug des Menschen und das Weinen als die Reaktion auf einen gestörten Weltbezug. Anders beschreibt die Scham als die Reaktion auf einen gestörten Identitätsbezug. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.65 u.ö.) Und ganz ähnlich wie Plessner führt dieser gestörte Identitätsbezug zu eine Desorientierung und zu einem Kontrollverlust über die körperlichen Prozesse: „Da nämlich der sich-Schämende mit der widerspruchsvollen Begegnung nicht ‚fertigwird‘, wird auch die Scham selbst nicht fertig.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.66) – Wir werden mit der Scham nicht fertig, und das Gefühl akkumuliert, ohne daß wir diesen Prozeß unterbrechen können. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.28f.) Der Körper übernimmt also die Herrschaft und wo wir vor Scham erst einmal rot geworden sind, werden wir mit ansteigender ‚Hitze‘ immer röter.

Bei Plessner hätte der sich-Schämende noch eine Chance, die Situation zu retten: zu lachen. Das Lachen würde ihn von der Situation lösen und von der unausweichlichen Niederlage befreien, ja, sogar die Niederlage in einen Triumph verwandeln. Und in diesem Moment hätten wir das Äußerste erreicht, was den Menschen zum Menschen macht: wir hätten uns exzentrisch positioniert!

Aber wie gesagt: so weit dringt Anders in seiner Analyse der Scham nicht vor. Seine Analyse bleibt der Scham ‚verhaftet‘. Dafür kommt Anders aber zu einer interessanten Neubestimmung von Intentionalität: als Doppelintentionalität. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.66) Diese Doppelintentionalität besteht zum einen in der schon bekannten intentionalen Ausrichtung auf einen Gegenstand und zum anderen – und das ist die Neubestimmung – in der Ausrichtung auf ein Publikum, die Anders als „coram“ bezeichnet. Coram publico bedeutet, wir schämen uns, weil wir uns immer von einem Publikum beobachtet fühlen. Und sich ‚immer‘ beobachtet fühlen, bedeutet: auch dann, wenn gar kein Publikum anwesend ist: Es gibt „wohl keinen, noch so eremitenhaften, Akt ..., der nicht, wenn auch ahnungslos oder gar modo privativo, einen Hinweis auf jene Mitwelt enthält, mit der er rechnet, vor deren Augen er sich abspielt oder deren Augen er zu vermeiden sucht. Da sich die klassische Phänomenologie Husserls (ohne sich über dieses ihr Auswahlprinzip klar zu sein) fast ausschließlich auf die Analyse derjenigen Akte beschränkte, die dieses ‚coram‘ nicht offen verrieten, mußte ihr Bewußtseinsbegriff immer hart an der Grenze des Solipsismus bleiben.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.67) – Was Husserl betrifft irrt sich Anders allerdings. Denn was beinhaltet der Begriff der Lebenswelt anderes als dieses von Anders beschriebene „coram“?

Wir können uns also auch vor der Welt schlechthin schämen, – und wir können uns sogar vor ‚toten‘ Gegenständen schämen, weil wir uns von ihnen angeblickt fühlen. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.79) Anders geht also wie Plessner davon aus, daß Gegenstände nicht einfach tot, sondern für uns lebendig sind. Wir fühlen uns also immer und überall angeblickt und können diesen Blicken nicht entgehen. Dieses andere Moment der Doppelintentionalität ist also im Unterschied zu jenem einen, direkt auf Gegenstände gerichteten Moment, wesentlich eine negative Intentionalität. Denn anstatt die Gegenstände aufzusuchen, versuchen wir nun, sie zu meiden, uns vor ihnen zu verstecken: „Was die Scham intendiert, ist weder, ihre Instanz zu sehen noch diese nicht zu sehen, sondern von ihr nicht gesehen zu werden. Und das ist eine Beziehung, die sich von dem, was gewöhnlich ‚Intentionalität‘ heißt, so fundamental unterscheidet, daß man eigentlich einen anderen Terminus für sie erfinden müßte.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.67) – Wieder befindet sich Anders ganz dicht bei Plessners Anthropologie, denn von was anderem spricht er hier als von jenem „Noli me tangere“, mit dem Plessner die Seele beschreibt?

Dieses coram publico ist jedenfalls genau die Instanz, die uns daran hindert, unseren eigenen Verstand zu gebrauchen, weil wir uns seiner – schämen, seiner Unzulänglichkeit, seiner Individualität, weswegen auch immer. Dieses coram publico ist jene „massive soziale Realität“, von der Anders an anderer Stelle (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.204) spricht, und die eine Konkurrenzrealität zur Realität der Natur und zur individuellen Realität unserer Person darstellt. Eine weitere Realitätsebene also, die sich abhebt von jenem materiellen, organischen, psychischen und geistigen Sein, wie es Plessner in „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ beschrieben hat. In unserem Bewußtsein verschränken sich also Gegenstandsbezug und Sozialbezug zu einem Identitätsbezug, – der im Falle des sich-Schämens zusammenbricht, und immer weiter zusammenbricht, ad infinitum. Anders’ Doppelintentionalität bezeichnet letztlich genau jene Differenz zwischen individuellem und kulturellem Denken, die Michael Tomasello in seinem Buch „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (2002) beschreibt.

Diese wechselseitige Verschränkung doppelter Intentionalität wird von Anders, wie schon angedeutet, in schicksalshafter Ausweglosigkeit entfaltet. Diese Ausweglosigkeit ist aber allein dem Umstand geschuldet, daß Anders offensichtlich keine Kenntnis von Plessners Anthropologie hatte. Welche Möglichkeiten sich vom Standpunkt einer exzentrischen Positionalität aus eröffnen, werden wir noch erörtern.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen