„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 27. Januar 2011

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 7/1988 (1956)

(Über prometheische Scham, S.21-95; Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, S.97-211; Sein ohne Zeit. Zu Becketts Stück „En attendant Godot“, S.213-231; Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit, S.233-308)

1. Bilder, Phantome und Informationen
2. Falsche Lebenswelten (coram publico)
3. Falsche Lebenswelten (Verbiederung)
4. Falsche Lebenswelten (Produktion)
5. Falsche Lebenswelten (Technik, A & B)
6. Falsche Lebenswelten (persönliche Verantwortung)
7. Mensch und Natur
8. homo ‚excentricus‘
9. Skizzen zu einer ästhetischen Bildung

Anders legt insgesamt eine begrifflich unklare, leicht widersprüchliche Einstellung zur Frage nach der Natur des Menschen an den Tag. Ich führe das zum einen darauf zurück, daß er sich etwas darauf zugute hält, „Gelegenheitsphilosophie“ zu betreiben. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.8, 14; Bd.2 (1980), S.10) Er freut sich darüber, in seinen über mehrere Jahrzehnte hinweg verfaßten, zum Zweck ihrer Publikation im zweiten Band seines Buches zur Antiquiertheit des Menschen zusammengestellten Schriften keine Widersprüche zu finden. Er hat aber nicht vor, daraus nun nachträglich ein System zu machen: „Nichtwidersprüchlichkeit genügt durchaus.“ (Vgl. Antiquiertheit Bd.2 (1980), S.11) – Diese Freude an der Gradlinigkeit des eigenen Denkens ist ihm sehr wohl zu gönnen. Er hat sie sich durch sein nicht minder gradliniges Handeln im Widerstand gegen die atomare Aufrüstung verdient. Dennoch bleibt unter anderem eben deshalb seine Einstellung zu den Grenzen und Möglichkeiten der menschlichen Veränderbarkeit letztlich ungeklärt. Der andere Grund liegt meiner Ansicht nach in seiner Ablehnung von Tier-Menschvergleichen. Dazu aber gleich in diesem Post mehr.

Es ist nicht so, daß Anders nicht klar und deutlich zur Frage nach der Natur des Menschen Stellung nehmen würde. So spricht er von der „Unfestgelegtheit des Menschen“: „Die ‚Unfestgelegtheit des Menschen‘(), d.h.: die Tatsache, daß dem Menschen eine bestimmte bindende Natur fehlt; positiv: seine pausenlose Selbstproduktion, seine nicht abbrechende geschichtliche Verwandlung – macht die Entscheidung darüber, was ihm als ‚natürlich‘ und was als ‚unnatürlich‘ angerechnet werden solle, unmöglich. Schon die Alternative ist falsch. ‚Künstlichkeit ist die Natur des Menschen‘.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.309) – Deutlicher kann man sich wirklich nicht positionieren.

Leider stehen dieser Aussage aber eine Fülle von sie relativierenden anderslautenden Aussagen gegenüber. Mal ist im Zusammenhang der Anpassung des Menschen an die technischen Geräte vom „in seiner Adaptiertheit begrenzte(n), morphologische(n) Typ“ des Menschen die Rede, von einem „Wesen also, das weder durch andere Mächte noch durch sich selbst nach Belieben ummodeliert werden kann ...“ (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.18). Dann heißt es wiederum von unseren Gefühlen, daß sie der technischen Entwicklung „hinterherhummpeln“, weil sie „geschichtlich nicht synchronisiert sind“. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.271) Überhaupt könne „das emotionale Leben auf Grund seiner Langsamkeit geradezu als ‚Natur‘, als das Konstante und Ungeschichtliche im Menschen gelten ...“ (Ebenda, S.271) Und wieder an anderer Stelle spricht Anders von einer „ontischen Mitgift“, womit „alles Nicht-Ichhafte überhaupt“ gemeint sei: „alles Vor-Individuelle, welcher Art auch immer, an dem das Ich, ohne etwas dafür zu können, ohne etwas dagegen tun zu können, teilhat ...“ (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.69)

Angesichts solcher Aussagen zu den Grenzen der Veränderbarkeit des Menschen frage ich mich schon, wie Anders zu der starken These einer praktisch grenzenlosen Veränderbarkeit des Menschen kommt. Noch deutlicher wird die Begrenztheit der von Anders propagierten Gelegenheitsphilosophie, wenn man sich einmal überlegt, was denn wohl mit der „ontischen Mitgift“ anderes gemeint sein kann, als das biologische, also auch tierische Erbe des Menschen und Anders’ Ablehnung von Tier-Menschvergleichen danebenhält. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.69, 81f., 327, 332) Anders hält die „Folie“ des Tierreichs für „fragwürdig. Einmal deshalb, weil es philosophisch gewagt ist, für die Definition des Menschen eine Folie zu verwenden, die mit der effektiven Folie des menschlichen Daseins nicht übereinstimmt: schließlich leben wir ja nicht vor der Folie von Bienen, Krabben und Schimpansen, sondern vor der von Glühbirnfabriken und Rundfunkapparaten. Aber auch naturphilosophisch scheint mir die Konfrontation ‚Mensch und Tier‘ inakzeptabel: die Idee, die Einzelspezies ‚Mensch‘ als gleichberechtigtes Pendant den abertausenden Tiergattungen und -arten gegenüberzustellen und diese abertausende so zu behandeln, als verkörperten sie einen einzigen Typenblock tierischen Daseins, ist einfach anthropozentrischer Größenwahn.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.327)

Zum ersten Argument, daß es nicht angeht, für die Bestimmung des Menschen den Vergleich mit Tieren heranzuziehen, kann man entgegnen, daß es ja genau dieses tierische Erbe ist, das vor der angeblich ‚effektiven‘ Folie von Glühbirnfabriken und Rundfunkapparaten als das nicht Passende erscheint. Hätte Plessner den Menschen nur mit den Ansprüchen technischer Produkte verglichen, wäre er nie auf die exzentrische Positionalität des Menschen gekommen. Auf dieses spezifisch menschliche Merkmal konnte er nur im Pflanzen-Tier-Menschvergleich aufmerksam werden. Dem zweiten Argument kann man zumindestens zugute halten, daß Anders wahrscheinlich nur die unseligen Behavioristen vor Augen hatte. Bei den Behavioristen wurden tatsächlich Menschen auf Tiere reduziert. Aber nicht nur die Menschen wurden reduziert. Auch die Tiere mit ihrem komplexen Verhalten wurden auf mechanische Reflexbögen reduziert. Es geht im Tier-Menschvergleich aber nicht um unspezifische Gleichsetzungen von Menschen und Tieren, sondern um eine artspezifische, methodisch kontrollierte Suche nach Unterschieden.

Auch Plessner hat sich hier gelegentlich ungerechtfertigte Verallgemeinerungen erlaubt, von einer oder mehreren Tierarten auf alle Tiere geschlossen und diese insgesamt als Tierreich dem Menschen gegenübergestellt. Aber auch hier ging es in erster Linie um die Unterschiede, also um das, was den Menschen als Menschen ausmacht, und nicht darum, den Menschen mit ‚den‘ Tieren gleichzustellen.

Der Widerspruchsfreiheit seines Argumentationszusammenhangs, über die sich Anders so freut, schadet jedenfalls dieser Reflexionsverzicht, was allerdings der analytischen Schärfe seiner Aufsätze keinen Abbruch tut. Als schwerwiegender erscheint mir da schon, daß Anders die spezifisch menschliche Bedeutung der Leib-Körpergrenze entgeht, also eben, wie schon angemerkt, die exzentrische Positionalität.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen