„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 1. Januar 2011

Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen des menschlichen Verhaltens, München 1950 (1941)

1. Positionalität und Haltung
2. Positionalität und Situation
3. Gefühl und Sinn
4. Verstand und Herz
5. Dummheit und Intelligenz

Im Lachen ist der Mensch „zur Welt geöffnet“: „Und es wirkt nicht zufällig, daß der Ausbruch des Lachens unmittelbar, mehr oder weniger ‚schlagartig‘ einsetzt und wie zum Ausdruck des Geöffnetseins des Lachenden auf der Ausatmung in die Welt hineinschallt“ (vgl. Lachen/Weinen, S.154). Das Weinen bringt hingegen eine „Abkehr von der Welt“ mit sich und entwickelt sich „in der Richtung der Einatmung“. (Vgl. ebenda) In beiden haben wir es mit Verhältnisbestimmungen zur Welt zu tun, mit Grenzfällen, in denen die Haltung des Menschen zusammenbricht und Lachen und Weinen die Situation, an der die Haltung scheitert, ‚beantworten‘, indem sie sie „quittieren“ (vgl. Lachen/Weinen, S.147).

Quittung kommt von ‚quietare‘ und meint ‚von einer Verbindlichkeit freimachen‘, lösen. Schopenhauer spricht im Unterschied zu ‚Motiven‘ von ‚Quietiven‘, also von Mitteln, die uns aus unserer Befangenheit in und mit der Welt befreien. Bricht die Haltung zusammen, verliert der Mensch die Fassung, weil er sich zu dem, was geschieht, nicht ‚verhalten‘ kann, – so quittiert er mit Lachen und Weinen die Situation, d.h. er löst sich von ihr: „Wer lacht oder weint, verliert in einem bestimmten Sinne die Beherrschung, und mit der sachlichen Verarbeitung der Situation ist es fürs erste zu Ende.“ (Lachen/Weinen, S.29) – Der Mensch löst seine gefühlsmäßige Bindung an die Sache, an die Situation und wird wieder frei und offen für Neues.

Positionalität und Situation beinhalten wie Positionalität und Haltung den gleichen Sinnzusammenhang. Auch in die Situation ist der Mensch hineingesetzt und zugleich ihr gegenüber gesetzt, d.h. ‚situiert‘: „Überall erlaubt die Bewandtnis der Situation dem Menschen, ja sie verlangt von ihm, zur Mehrdeutigkeit seines physischen Daseins als Körper im Körper im Hinblick auf sie ein eindeutiges Verhältnis zu finden.“ (Lachen/Weinen, S.87f.) – Die Situation ist also der der Welt zugewandte Zustand, der es dem Menschen ermöglicht und von ihm verlangt, zur Welt eine Haltung einzunehmen, sich in ihr zu halten und sich zu ihr zu verhalten. Sie ist ein „Sinnzusammenhang“ (vgl. Lachen/Weinen, S.188), der ihm einen „Spielraum“ (vgl. Lachen/Weinen, S.193) zur Verfügung stellt, in dem er „zwischen Haben und Sein“ „spielen“ (vgl. Lachen/Weinen, S.199), eben sich verhalten kann. – Nebenbei: dieses „Haben und Sein“ hat nichts mit dem „Haben oder Sein“ von Erich Fromm zu tun.

In vielem, was Plessner über den Spielraum der Situation zu sagen weiß, fühle ich mich an den Begriff der Lebenswelt erinnert. Speziell das Weinen ‚antwortet‘ auf einen Grenzfall der Lebenswelt, auf ihr Zerbrechen: Plessner spricht hier von der „Aufhebung der Verhältnismäßigkeit des Daseins“. (Vgl. Lachen/Weinen, S.193). An anderen Stellen spricht Plessner auch von der „normalen Verhältnismäßigkeit unseres Lebens“ (vgl. Lachen/Weinen, S.179 (Hervorhebung – DZ)), vom „normierten Gang des Lebens“ (vgl. Lachen/Weinen, S.30) und von der „Selbstverständlichkeit des eigenen vertrauten Daseins“ (vgl. Lachen/Weinen, S.38) Alles das sind Formulierungen, für die ich gerne den Begriff der Lebenswelt in Anspruch nehmen würde, obwohl Plessner von der Lebenswelttheorie nicht viel zu halten scheint.

Zumindest glaube ich, ihn so verstehen zu müssen, wenn er schreibt: „Sie (die Lebenswelttheorie – DZ) weicht ihr (der Leib-Seeleproblematik – DZ) in Wahrheit aus, indem sie in eine angeblich noch problemlose, ursprüngliche Schicht des Daseins und der Existenz zurückgeht, die sich mit der Schicht des Benehmens, des Verhaltens im Niveau, wenn man so sagen darf, nicht aber in der inneren Struktur deckt. Durch eine, wie wir noch näher zeigen werden, jederzeit plausible Technik, die Formen des Benehmens (bzw. der Haltung – DZ) von vornherein so zu charakterisieren, daß die Kluft zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ überhaupt nicht sichtbar wird, läßt sich der Anschein einer ursprünglichen Problemlosigkeit der menschlichen Seinssituation erzeugen, jedenfalls im Hinblick auf das Verhältnis der Psyche bzw. des Menschen zum Körper. Solcher Unverbindlichkeit und Naturflüchtigkeit des modernen Anticartesianismus gegenüber zwingen Phänomene wie Lachen und Weinen Farbe zu bekennen und der wahren Schwierigkeit des menschlichen Daseins sich zu stellen.“ (Lachen/Weinen, S.39)

Das Problem ist, daß wir es an dieser Stelle mit einer Art Lückentext zu tun haben, so daß der Bezug des „Sie“ unklar bleibt. Aber die „problemlose, ursprüngliche Schicht des Daseins“ ist letztlich nur eine weitere Formulierung für die Lebenswelt. Daß die Husserlsch-Blumenbergsche Lebenswelttheorie den Leibbezug vernachlässigt, habe ich schon in meinem Post vom 8.08.2010 angemerkt. Deshalb fülle ich diesen Lückentext entsprechend den von mir im Zitat eingefügten Klammern.

Letztlich kommt es aber vor allem darauf an, daß das Weinen als Reaktion auf die „Aufhebung der Verhältnismäßigkeit des Daseins“ auf die „Unterbindung jeder Möglichkeit von Sinn und Sinnverständnis“ schlechthin verweist. (Vgl. Lachen/Weinen, S.205) Und damit kommt hier die Lebenswelt nicht nur als unüberschreitbarer wie beschränkter Horizont menschlichen Verhaltens in den Blick, sondern als etwas, das wir im Lachen und Weinen jederzeit durchbrechen. Es sind offensichtlich die unwillkürlichen, der Beherrschung entzogenen Reaktionen des Körpers, die uns aus der Lebenswelt herausstoßen, in die offene Weite. In ganz ähnlicher Weise läßt sich auch Keiji Nishitani über das Niesen aus (vgl. ders., Was ist Religion? (2/1986), S.93ff.), wobei Plessner das Niesen zusammen mit den reflexartigen Vorgängen „wie Erröten, Erbleichen, Schweißsekretion, Erbrechen, Husten“ und eben auch das „Niesen“ von den Ausdrucksgebärden des Lachens und Weinens unterscheidet. (Vgl. Lachen/Weinen, S.43)

Damit ist die Lebenswelt eben nicht mehr unzerstörbar, wie bei Blumenberg, sondern „von einer verschwimmenden Grenze durchzogen, die den Bereich der Vertrautheit von dem der Fremdheit scheidet.“ (Lachen/Weinen, S.186) Anstatt also eines die Lebenswelt umgrenzenden, unzerstörbaren Horizonts, hinter dem das Fremde lauert, taucht die Grenze im Lachen und Weinen unvermittelt aus der lebensweltlichen Mitte heraus auf, als für den Menschen unbeantwortbare, aber insbesondere im Weinen eben doch beantwortete Situation. Diese innere Grenze, die die Lebenswelt durchzieht und nicht umgibt (vgl. Lachen/Weinen, S.186), entspricht der Leibesgrenze des exzentrisch positionierten Menschen und erscheint als eine Grenze der Haltung, als sich in der Situation nicht mehr halten können, so daß die Lebenswelt bzw. die Verhältnismäßigkeit des Daseins zerbricht. Als immanentes Moment der Lebenswelt, ihr also nicht äußerlich, wie Blumenberg es darstellt, geht die Fremdheit aus dem Zerbrechen der Vertrautheit, als ihre Zwillingsschwester – genau dies ist wiederum exzentrische Positionalität: Vertrautheit und Fremdheit in einem –, unmittelbar hervor: „Welche Gewalt sie (die Grenze alles Verhaltens – DZ) auch bildet, einbrechender Schmerz oder lösende Freude, schenkende Gnade oder stille Entrücktheit, immer begegnet sie als ein unbedingtes Ende in unvermittelter Nähe.“ (Vgl. Lachen/Weinen, S.192)

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3 Kommentare:

  1. Hallo, mich würde interessieren was das Lachen nach Plessner nicht bedeutet??

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  2. Deine Frage ist interessant, aber unpräzise. Es ist leichter, eine Frage nach der Bedeutung von etwas zu beantworten, als eine Frage nach dem zu beantworten, was etwas nicht bedeutet. Denn da kommt ein ganzes Universum an möglichen Bedeutungen in Betracht. Am einfachsten scheint noch die Antwort mit dem Gegenteil zu sein: daß Lachen nicht Weinen ist. Im Lachen zerbricht nur eine Situation, im Weinen aber eine Welt. Aber ansonsten muß ich leider passen. Was Lachen nicht bedeutet? Alles mögliche!

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  3. Nach ein bißchen drüber Nachdenken fällt mir doch noch etwas ein: Lachen ist etwas anderes als Niesen, Übelkeit und andere reflexhafte Reaktionen. Es hat wie Weinen immer einen Sinnbezug, also einen Bezug zur seelischen und zur geistigen Ebene. Es stellt demnach zwar eine körperliche und auch reflexhaft ablaufende Reaktion dar, befreit aber dennoch von seelischen und geistigen Bindungen, und es stiftet – im gemeinschaftlichen Lachen – sogar neue, soziale Bindungen. Hierbei ist aber die Sachlosigkeit dieser sozialen Bindungen zu beachten. Nach Plessner sind Gefühle (Bindungen), die keinen Sachbezug aufweisen – und das ist bei dieser durch gemeinsames Lachen gestifteten sozialen Bindung der Fall –, ‚unecht‘.

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