„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 31. Dezember 2010

Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen des menschlichen Verhaltens, München 1950 (1941)

1. Positionalität und Haltung
2. Positionalität und Situation
3. Gefühl und Sinn
4. Verstand und Herz
5. Dummheit und Intelligenz

Bei „Lachen und Weinen“ handelt es sich inzwischen um das fünfte Buch von Plessner, das ich hier bespreche, und es soll vorläufig auch das letzte sein. Eigentlich hatte ich schon ein Buch von Hermann Schmitz vor mir auf dem Tisch liegen, als ich bei ihm wieder auf einen Hinweis auf Plessners „feinsinnige Analyse von Lachen und Weinen“ (in: Leib und Gefühl, 2/1992, S.15) stieß. Nachdem auch schon andere Autoren immer wieder auf dieses Buch verwiesen, habe ich es mir antiquarisch erworben und bin auch nicht enttäuscht worden.

Tatsächlich liest sich „Lachen und Weinen“ leichter als Plessners andere anthropologischen Bücher und faßt deren oft umwegige und kleinteilige Argumentationen gut verständlich zusammen. Vor allem Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität wird in „Lachen und Weinen“ wesentlich verständlicher dargestellt als in den „Stufen“. Ich werde hier auf „Lachen und Weinen“ nur punktuell eingehen, um diejenigen Aspekte hervorzuheben, die mir im Sinne meines Anliegens, Bedingungen und Möglichkeiten der individuellen Urteilskraft zu klären, als besonders interessant erscheinen. Zunächst möchte ich dabei auf den Begriff der ‚Haltung‘ eingehen.

‚Positionalität‘ und ‚Haltung‘ beinhalten den gleichen Sinnzusammenhang. Bei beiden geht es um ein Sich-Positionieren und ein Sich-Halten zur Welt und in der Welt. Das ist etwas anderes als bloß raum-zeitliche Relationalität bzw. Relativität. Dieser Positionalität ‚zur‘ Welt und ‚in‘ der Welt entspricht die Doppelaspektivität der körperlichen Existenz: „Die körperliche Existenz zwingt dem Menschen eine Doppelrolle auf. ... Bald steht die menschliche Person ihrem Körper als Instrument gegenüber, bald fällt sie mit ihm zusammen und ist Körper. Wo immer es auf Beherrschung der körperlichen Mechanismen ankommt, beim Handeln und Sprechen, in der Zeichengebung, in Gesten und Gebärden, erfährt der Mensch die Doppeldeutigkeit physischen Daseins. Das Verhältnis zwischen ihm (als Person, als Träger von Verantwortlichkeit, Subjekt des Willens und wie immer die Prädikate seiner geistig-seelischen Natur lauten) und dem Leib spielt – und muß spielen – zwischen Haben und Sein.“ (Lachen/Weinen, S.199)

Betrachten wir den Menschen unter dem Aspekt des Körper-Seins, so ist er in der Welt, Objekt unter Objekten bzw. wie Plessner sich auch ausdrückt: ‚Peripherie‘. So versteht ihn die Naturwissenschaft, wenn sie ihn beobachtet und seziert. Betrachten wir den Menschen unter dem Aspekt des Körper-Habens, so befindet er sich in der Mitte seiner selbst und steht so der Welt als Subjekt gegenüber; er stellt bzw. positioniert sich zu ihr oder er ist, wie Plessner sich auch ausdrückt: ‚Zentrum‘ bzw. ‚Mitte‘: „Diese Position, Mitte und Peripherie zugleich zu sein, verdient den Namen der Exzentrizität. Zu ihr muß der Mensch beständig ein Verhältnis finden, da er weder allein in der Mittelpunktsituation (‚im‘ Körper Sein oder ihn Haben) noch allein in der Peripheriesituation (der Körper selber Sein) aufgeht. Jede Beanspruchung seiner Existenz verlangt einen Ausgleich zwischen der Weise des Seins und der Weise des Habens.“ (Lachen/Weinen, S.200)

Dieser Ausgleich ist nichts anderes als ‚Haltung‘, für die ich auch gerne einen Begriff in Anspruch nehmen möchte, den ich bei Antonio Damasio gelesen habe: ‚Homöodynamik‘! (Vgl. ders., Ich fühle also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin 8/2009, S.172) Notwendiger Ausgleich zwischen Körper-Sein und Körper-Haben, eine Haltung erwerben und einnehmen, Homöodynamik, – das sind alles verschiedene Formulierungen für denselben Problemzusammenhang von ‚Körper‘, ‚Seele‘ und ‚Geist‘. Die beiden zuletzt genannten Begriffe entstammen einer spezifisch europäisch geprägten spirituellen und philosophischen Tradition. Plessner betont deshalb, daß es sich bei diesen Begriffen nicht etwa um substantielle Phänomene handelt, sondern nur um eine bestimmte Art und Weise, über den Doppelaspekt von Körper-Sein und Körper-Haben zu reden. Wenn Plessner deshalb auch in seinen eigenen Texten an diesem Begriffen festhält, so nur, um damit an die „alltägliche Verständnisbereitschaft“ der Leser zu appellieren, und sie sollen deshalb auch „nicht mehr zum Ausdruck bringen, als was sie in deren Gesichtskreis geltend machen.“ (Lachen/Weinen, S.23) Es mache keinen Sinn an die Stelle der „Gemeinsprache“ eine „Kunstsprache“ zu setzen, die den Zugang zur Thematik unnötig erschwert, und damit leichtfertig auf den Sinngehalt von Begriffen wie ‚Seele‘ und ‚Geist‘ zu verzichten, an dessen Reichtum zweieinhalb Jahrtausende der Antike und des Christentums mitgearbeitet haben. (Vgl. Lachen/Weinen, S.24)

Der Begriff der Haltung vereint nun, wie ich finde, auf günstige Weise zwei Momente der exzentrischen Positionalität: das schon erwähnte Moment des Hinein-Gestellt-Seins bzw. des Gesetzt-Seins und des Sich-Gegenüber-Stellens bzw. Sich-Gegenüber-Setzens und das Moment der Expressivität. Oder anders formuliert: Der Begriff der exzentrischen Positionalität beschreibt die strukturelle Verhältnismäßigkeit des Menschseins, und die Haltung bildet die existentielle Antwort auf diese menschliche Grundstruktur. Die exzentrische Positionalität zwingt zum ständigen Ausgleich des Menschen mit sich und der Welt, zur Haltung als „Einheit des expressiven Ganzen“ (S.71), das der Mensch ist. Dabei ist der „neutrale(), von jeder Deutung menschlicher Wesentlichkeit und Eigentlichkeit sich zurückhaltende() Begriff()“ der exentrischen Positionalität frei von jeder Metaphysik des Leib-Seele- bzw. Leib-Geist-Dualismus: „Unter bewußter Vermeidung belastender, vieldeutiger Worte, welche den anschaulichen Grundbestand verdecken, weist dieser Begriff auf ihn als auf eine Verfassung und Weise des leibhaftigen Daseins hin.“ (Lachen/Weinen, S.51)

Haltung ist nicht nur etwas Inneres und Unsichtbares, sondern auch etwas Äußeres und Sichtbares. Die Haltung ist vergleichbar mit dem Gesicht, nicht als Sinnesorgan, sondern als Fläche, und wiederum nicht so sehr als Grenzfläche zwischen Innen und Außen, als vielmehr als Ausdrucksfläche, die dem Mitmenschen etwas signalisiert bzw. zum Ausdruck bringt: „Wie die Haltung des ganzen Körpers an sich schon die seelische Verfassung widerspiegelt, so wird das Gesicht – und in abermals verdichtender Weise der Blick – zum Spiegel, ja ‚Fenster‘ der Seele. ... Verdecktheit und Offenheit machen das Gesicht zur Front, zur Grenz- und Vermittlungsfläche des Eigenen gegen das Andere, des Inneren gegen das Äußere.“ (Lachen/Weinen, S.59)

Ähnlich wie das Gesicht ist auch die Haltung dabei nicht völlig kontrollierbar. Es kommt zu Ausfallerscheinungen, in denen wir in bestimmten Situationen die ‚Fassung‘ verlieren. Diese alltäglichen Katastrophen, in denen wir uns lächerlich machen, verweisen unmittelbar auf das problematische Verhältnis von Innen und Außen, von Körper-Haben und Körper-Sein. Es ist in gewisser Weise ein Übergangsproblem, insbesondere von innen nach außen (vgl. Lachen/Weinen, S.21). Gelingt der Ausgleich zwischen Körper-Haben und Körper-Sein, zwischen Innen und Außen, so kontrollieren wir auch den Übergang von innen nach außen, wenn wir uns sprechend, gebärdend und handelnd unserem Mitmenschen zuwenden. Mißlingt der Ausgleich, so kippt das Innen ins Außen um, wir verlieren die Kontrolle über unsere Außendarstellung und setzen uns dem Lachen und dem Spott unserer Mitmenschen aus.

Verlieren wir auf diese Weise unsere Haltung, also den beherrschten, kontrollierten Bezug zu unserem Körper, so bleibt uns noch eine letzte Möglichkeit: uns dem Kontrollverlust völlig hinzugeben und mit den Anderen mitzulachen: „Dieses Ins-Lachen-und-Weinen-Geraten und -Verfallen zeigt, zumal im Hinblick auf den eigentümlich selbständigen Prozeß, der dann einsetzt und sich häufig der Dämpfung und Steuerung bis zur völligen Erschöpfung entzieht, einen Verlust an Beherrschung, ein Zerbrechen der Ausgewogenheit zwischen Mensch und physischer Existenz.“ (Lachen/Weinen, S.86)

An diesem Kontrollverlust wird noch einmal deutlich, daß es im Verhältnis zwischen Körper-Sein und Körper-Haben eines beständigen Ausgleichs in Form der Haltung bedarf, die wir nicht nur für uns einnehmen, sondern auch für andere, also ein innerer Ausgleich im Sinne der Selbst-Erhaltung, wie auch ein Ausgleich nach außen, zur Welt hin, der sich beim Menschen immer expressiv, also sich-ausdrückend vollzieht. Und Lachen und Weinen bilden dabei Grenzfälle des Verhaltens, die in zweifacher Weise diesen Übergang von Innen nach Außen wie auch von Außen nach innen begrenzen, nämlich als Reaktion auf die „Unterbindung des Verhaltens durch unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungsmöglichkeiten“ (in mehrdeutigen komischen Situationen oder in doppelsinnigen Witzen) – in diesem Fall brechen wir in Gelächter aus –, oder als Reaktion auf die „Unterbindung des Verhaltens durch Aufhebung der Verhältnismäßigkeit des Daseins“ – in diesem Fall brechen wir in Weinen aus. (Vgl. Lachen und Weinen, S.193)

Beim Lachen fällt der Übergang ganz aus, unser Verhalten kippt unmittelbar um, der Kontrollverlust geschieht abrupt, und wir bestätigen ihn durch das Lachen. Beim Weinen geschieht der Übergang allmählich, wir lassen ihn zu, indem wir uns ihm überlassen. Wir können sogar noch einige Zeit nach dem Anlaß in Tränen ausbrechen und können also auf die passende Gelegenheit, wo wir uns gehen lassen können, warten. (Vgl. Lachen/Weinen, S.155-159, 169ff., 177, 196f.) Interessanterweise richtet sich nun das Lachen vor allem nach außen und geht mit dem Prozeß des Ausatmens einher, und Weinen richtet sich nach Innen und geht mit dem Einatmen einher. (Vgl. Lachen/Weinen, S.154) Diese körperlichen Reaktionsformen entsprechen also der exzentrischen Positionalität, dem typisch menschlichen Verhältnis zwischen Innen und Außen und machen sie somit zu spezifisch menschlichen Monopolen, die den Menschen vom Tier grundsätzlich unterscheiden. (Vgl. Lachen/Weinen, S.10f., 13, 29-34, 31ff., 41, 50, 52f.)

Lachen und Weinen unterscheiden sich deshalb von den anderen Ausdrucksgebärden wie Erröten, Erblassen, Zittern, Hervortreten von Adern auf der Stirn, aufgerichteten Haaren etc. Mit diesen Ausdrucksgebärden ist nichts gemeint, während Lachen und Weinen gerade im Loslassen mal die seelisch-leibliche Ebene (Lachen), mal die personale Ebene (Weinen) zum Ausdruck bringen. (Vgl. Lachen/Weinen, S.87f.) Denn der Ausdruck, den diese Dimensionen des Menschseins finden, besteht gerade im bereitwilligen Verzicht auf die Kontrolle der körperlichen Funktionen, die sich im Lachen und Weinen verselbständigen und die Situation ‚beantworten‘, vor der der Mensch kapitulieren muß. Dabei macht es, was die Zusammengehörigkeit von Lachen und Weinen betrifft, keinen Unterschied, ob wir, wie im Lachen, zwangsläufig kapitulieren oder, wie im Weinen, aus freiem Willen.

Lachen und Weinen, obwohl sie gerade im Verlust der Haltung möglich werden, haben dabei durchaus ihre Haltungen, wie Humor oder Albernheit das Eine oder Sentimentalität das Andere, um nur einige wenige Grundhaltungen aufzuzählen. Insbesondere der Humor, den Plessner als Fähigkeit beschreibt, sogar als Betroffener noch über sich selbst lachen zu können, verweist auf die Exzentrizität des Menschseins. (Vgl. Lachen/Weinen, S.151) Diese Exzentrizität zeigt sich auch in den verschiedenen Stadien des Weinens (wie sie das Lachen nicht kennt: das Lachen geschieht überfallartig und abrupt), in denen wir uns selbst gegenüber fremd werden und so zum Mitleid mit diesem Fremden, der wir uns selber sind, motiviert werden. (Vgl. Lachen/Weinen, S.159)
PS (03.01.2011): Im Gespräch mit meiner Freundin über Plessners Konzept zum Lachen kam gleich ein Einwand: daß es doch gar nicht stimmt, daß Lachen einem Kontrollverlust entspringt, – vor allem nicht angesichts eines äußeren Ereignisses, einer komischen Situation oder einem Witz! Sie bezog sich gleich auf die von innen hervorströmende Freude und das damit verbundene Lachen. Das zeigt mir – denn sie hat Recht, wie immer –, daß ich Plessner wiedermal viel zu einseitig dargestellt habe. Denn er selbst bezieht sich auch auf die Freude und das Lachen, wendet aber ein, daß das Lachen nur lose mit diesem Gemütszustand verbunden sei und mehr ein Jubeln sei als ein Lachen. Echtes Lachen will Plessner vor allem auf Gefühle und Situationen beziehen, mit denen es eben zwangsläufig verbunden ist. Aber auch hier ist natürlich der Einwand berechtigt, daß auch echtes Lachen unterdrückt werden kann, was Plessner durchaus zugibt, doch nur um wiederum zu entgegnen, daß dazu aber ein erheblicher Kraft- und Willenseinsatz notwendig ist. Das entkräftigt natürlich nicht den letzten Einwand meiner Freundin: daß das Weinen ebenso zwanghaft aus uns hervorbrechen kann, wie das Lachen, und wir dann nicht mehr die Wahl haben, das Weinen auf einen anderen Zeitpunkt zu verschieben. Insgesamt ist dieses Unterscheidungskriterium, Lachen zwanghaft und Weinen freiwillig, wohl doch etwas künstlich und läßt sich so nicht halten.
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