„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 27. Dezember 2010

Die Erkenntnisethik der pädagogischen Wirklichkeit I

Aufgrund des Vormarsches (radikal-) konstruktivistischer Vorstellungen von (pädagogischer) Wirklichkeit wird in der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich, wie sie klassischerweise von Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft entwickelt worden ist, das Ding an sich im Rahmen gegenwärtiger Forschungstheorie zusehends vernachlässigt (vgl. hierzu beispielhaft: Ernst v. Glaserfeld, Konstruktivistische Gedanken bei Kant, www.acc-weimar.de /veranstaltungen/special/kant/kant-glasersfeld.pdf). Der Gedanke, dass erziehungswissenschaftliche Erkenntnis nicht der pädagogischen Wirklichkeit an sich, sondern lediglich unseren neurophysiologisch zu erklärenden Konstruktionen derselben entstammt, stellt mittlerweile ein fest etabliertes Dogma pädagogischer Diskurse dar (vgl. Roland Reichenbach / Hans-Christoph Koller / Norbert Ricken, Wirklichkeit und Erkenntnispolitik. Call for Papers. Herbsttagung der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), Mülheim/Ruhr, Bildungszentrum „Wolfsburg“, 1.10. – 3.10. 2008, www.dgfe.de/ueber/sektionen/folder.2004-09-09.0410735705/BuEphil/
aktuelles/file.2008-09-09.6065761130). Übersehen wird dabei oft die ,erkenntnispolitische‘ (Michael Wimmer) Funktion dieses Forschungsparadigmas, die in der Absicht besteht, „die Pädagogik auf ein scheinbar unwiderlegbares Fundament harter biologischer Tatsachen zu stellen“ (Jörg Ruhloff, Konstruktivistischer Hirnglaube und Pädagogik, http://www2.uni-wuppertal.de/FB3/ paedagogik/systematische/temp/Publ_Internet/ konstrukt.pdf, S.4). „Epistemische Zweifel“ bezüglich ungeklärter erkenntnisphilosophischer Voraussetzungen werden durch das Argument der logischen Konsistenz der eigenen Methode von vornherein ausgeräumt (Daniel Brandt, Das Noumenon Gehirn, e-Journal Philosophie der Psychologie 1 (2006), http://www.jp.philo.at /texte/BrandtD1.pdf, S.7). Die grundlagentheoretische Aufgabe einer jeden allgemeinen und systematischen Pädagogik, „der jeweiligen Konstruktivität der Konstruktionen genauer nachzugehen“ (Reichenbach / Koller / Ricken, Wirklichkeit und Erkenntnispolitik, a.a.O.), um so von einer sie adäquat begründenden pädagogischen Wirklichkeit auszugehen, wird dadurch verunmöglicht.

Wir plädieren deshalb für eine, im Rahmen der pragmatischen Wende der Erkenntnistheorie zusehends auch in der Pädagogik nicht weiter verfolgte Entwicklungslinie, die die Differenz zum Ding an sich wieder ernst nimmt. Notwendig ist hierzu eine Methode, die – über den erkenntnistheoretischen (empirischen) Wirklichkeitsbegriff Kants hinaus gehend –, nicht nur dessen erkenntniskritischen Grenzbegriff eines ,Noumenon im negativen Verstande‘ wieder Beachtung schenkt, sondern auch dessen erkenntnisethisch bedeutsame Vorstellung eines ,Noumenon im positiven Verstande‘. (Zu einer entsprechenden Differenzierung des Kantischen Wirklichkeitsbegriffes, siehe u.a.: Hans Lenk, War Kant ein methodologisch-erkenntnistheoretischer Interpretationist? Zu Kants Wirklichkeitsentwurf unter Bedingungen der Einbildungskraft, in: A. Lorenz / U. Wroclawski / W. Röd (Hgg.), Transzendentalphilosophie heute. Würzburg 2006, S.69-89; Claudio Almir Dalbosco, Die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich. Würzburg 2002; Walter Putt, Transzendentale Identität. Kants Lehre von der Subjektivität der Anschauung. Bonn 1985.)

Diese Wirklichkeit an sich, die Kant aus programmatischen Gründen nur anzudeuten vermochte, stellt als ethische Wirklichkeit (Eberhard Grisebach), als Tatsächlichkeit vor allen Tatsachen (Franz Rosenzweig), als Sinn aus sich selber (Franz Fischer) bzw. als radikale Andersheit des Anderen (Emmanuel Lévinas) zugleich die praktisch-ethische Grundlage für das pädagogische Denken einer Reihe von Bildungs- und Erziehungsphilosophen des 20. Jahrhunderts dar, welches das Wesen des Pädagogischen zu ergründen versucht.

Wir argumentieren deshalb in Weiterführung dieser Entwicklungslinie, dass das Pädagogische an der Wirklichkeit nicht hinreichend durch deren Konstruktivität erfasst werden kann. Dazu werden wir die in erziehungswissenschaftlichen Diskursen generell nur auf erkenntniskritischem Wege erfolgte Kritik am gegenwärtig dominanten erkenntnistheoretischen Paradigma des Konstruktivismus noch weiterführen, indem wir eine Methode heranziehen, die wir als eine erkenntnisethische bezeichnen wollen. Während die Erkenntniskritik uns lediglich an das Problem des Konstruktionsregresses durch die Abwesenheit eines theoretisch zu erfassenden Ansich der Wirklichkeit heran führt und somit die Frage nach dem Anlass unserer (pädagogischen) Erkenntnis- bzw. Wirklichkeitskonstruktionen offen lässt (vgl. Stephan Krause, „Zum Begriff des Konstruierens im Radikalen Konstruktivismus“. Zeitschrift für philo-sophische Forschung. 54/4 (2000). S.532-556; Brandt, Das Noumenon Gehirn, a.a.O.), versucht die Erkenntnisethik, diesen Regress wiederum als an sich sinnbestimmtes Merkmal pädagogischer Wirklichkeit zu begreifen. Der Pädagoge stößt hier an die Grenzen seines Erkenntnisapparates, die ihn wiederum auf die pädagogische Verantwortung gegenüber seinem Adressaten in der ethischen Wirklichkeit aufmerksam macht.

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