„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 6. Dezember 2010

Zum Zerfall der Autoritäten: der eigene Verstand

Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit
bürgerlichen Geistes, Frankfurt a.M. 6/1998 (1935/59)
1. Die letzte Autorität
2. Der wissenschaftliche ‚Fortschritt‘
3. Lebenswelt und Nihilismus
4. Postscriptum: Resonanz

Vom Zerfall der Autoritäten sind alle gesellschaftlichen Institutionen betroffen, auch die Wissenschaft. Die kantische Aufwertung der regressiven Synthesis als ausschließlichem Vernunftsprinzip und als Mittel der ‚Entlarvung‘ falscher Autoritäten bildet zugleich den inneren Motor des wissenschaftichen ‚Fortschritts‘, der nicht etwa im kontinuierlichen Aufbauen auf schon gesicherten Erkenntnissen besteht, denen neue Erkenntnisse lediglich hinzugefügt werden, oder auch nur im Widerlegen bisheriger Erkenntnisse, sondern im ständigen Wechsel der Leitdisziplinen, mit damit einhergehendem Desinteresse am Wissen der bisherigen Leitdisziplinen; d.h. wir haben es mit einem beständigen Verdrängungswettbewerb nicht nur der Geisteswissenschaften durch die Naturwissenschaften, sondern auch der Naturwissenschaften untereinander zu tun: „Es ist eine schlechte Gewohnheit geworden, dem geschichtlichen Wandel die Kategorie der Entwicklung aufzupressen. ... Die Geschichte der Wissenschaften, welche hier gewöhnlich als Modell dient, weil Mehrung und Vertiefung zum Wissen jedes Wissenwollens zu gehören scheinen, darf davon keine Ausnahme bilden. Für sie gilt nicht weniger wie für irgendein anderes Lebensgebiet das Prinzip der Ablösung des Vergehenden durch das Kommende im Sinne der Äquivalenz. Das Neue nimmt die Stelle des Alten ein, es vertritt seine Funktion, die es im abgelebten Zusammenhang einer Gemeinschaft von Menschen, Leistungen und Dingen hatte, für den sich erst bildenden Konnex, den die Menschen jeweils zu erarbeiten haben. Was im Rückblick aus einander hervorzugehen scheint, stellt sich im Vorblick auf das erst zu Schaffende als ein immer erneutes Beantworten immer neuer und unvorhersehbarer Situationen dar.“ (Nation, S.155f.)

Das von Plessner angesprochene Äquivalenzprinzip beinhaltet in bezug auf die Menschheitsgeschichte nichts geringeres als die Gleichwertigkeit aller geschichtlichen Epochen ‚vor Gott‘, im Sinne Rankes (vgl. Nation, S.115), und darüberhinaus die Gleichwertigkeit aller gegenwärtigen Kulturen. Im Sinne dieser Gleichwertigkeit sind die Antworten, die die Menschen auf „immer neue() und unvorhersehbare() Situationen“ finden als funktional äquivalent zu kennzeichnen.

Was aber im Bereich der Kulturgeschichte zu einer Toleranz, ja sogar zu einer Wertschätzung der menschlichen Vielfalt führt, bedeutet für die Wissenschaft, daß die jeweils neuesten wissenschaftlichen Disziplinen funktional äquivalent an die Stelle der älteren Disziplinen treten. Sie schaffen zwar die älteren Disziplinen nicht einfach ab – höchsten indirekt über die politische Verteilung finanzieller Mittel –, bestreiten ihnen aber ihren Objektivitätsstatus und damit ihre Wahrheitsfähigkeit, nicht etwa, weil sie tatsächlich objektiver und wahrer sind, sondern, wie Plessner schreibt, einfach weil sie neuer sind: „In der Geschichte der Entlarvung des Bewußtseins im 19. Jahrhundert haben die jeweils jüngsten Wissenschaften für die Zeit, in der sie noch neu waren und besonders in Deutschland weltanschauliche Hoffnung erweckten, eine besondere Rolle gespielt. Erst bildeten die jungen Geisteswissenschaften wie Linguistik, die klassischen Fächer, Germanistik, Rechtsgeschichte und die anderen historischen Kulturdisziplinen die Basis einer universalgeschichtlichen Weltanschauung. ... Dann zogen Nationalökonomie und Gesellschaftswissenschaft das spekulative, verdeckt religiöse Bedürfnis an sich. Und es verband sich vielfach dabei mit der jungen genetischen Biologie.“ (Nation, S.144f.)

Diese „immer gleiche Logik der Verdächtigung und Entlarvung“, „der Frontnahme der Philosophie gegen die Theologie, der Geschichte gegen die Philosophie, der Soziologie gegen die Geschichte und schließlich, zu voller Abstraktion heute entfaltet, der Biologie gegen die Soziologie“ (vgl. Nation, S.105), die zu Unrecht den Anspruch wissenschaftlichen ‚Fortschritts‘ erhebt, führt mit ihrem paradox aufklärerischen, den Menschen letztlich vollständig entmündigenden Gestus die empirische Reihe der Erscheinungen immer tiefer hinab, um schließlich bei Molekülen und Atomen zu enden: „So natürlich es scheint, daß jede verlorengegangene Autorität durch eine neue Autorität ersetzt wird und jede spätere der Erde und den Sinnen näher liegt, so seltsam berührt es zugleich, daß diese im biologischen Materialismus mündende Ersatzfolge von dem Willen nach Freiheit beseelt ist und dem Menschen nicht nur vom Christentum, sondern schließlich von allen Bindungen losmachen will. Je gründlicher das Bewußtsein über seinen bisherigen Glauben aufgeklärt wird, desto tiefer sinkt es im Sein, um sich am Ende im Mechanismus der Natur zu verlieren.“ (Nation, S.119)

Dieser wissenschaftliche ‚Fortschritt‘ ist letztlich nur ein sinnleerer Mechanismus, weil er weder auf vorhandenem Wissen aufbaut noch zu wirklich neuem Wissen führt, sondern altes Wissen lediglich durch funktional äquivalentes Wissen ersetzt, wie z.B. in der Gegenwart sich die Neurophysiologie mit ihren neologistischen Worthülsen der Neuro-Linguistik, Neuro-Didaktik, Neuro-Anthropologie, Ethno-Neurowissenschaften etc. funktional äquivalent an die Stelle der bisherigen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zu setzen versucht. Als Erziehungswissenschaftler war ich bislang der Meinung, daß die Pädagogik ein Sonderfall im universitären Fächerkanon darstellt, weil sie seit ihrer Entstehung von fremden gesellschaftlichen Kräften und wissenschaftlichen Disziplinen dominiert wurde und es bis heute nicht geschafft hat, sich mit einer eigenständigen pädagogischen Methodik zu etablieren. Die Pädagogik ist aber wohl doch kein Sonderfall, denn wir haben es Plessner zufolge mit einer gesellschaftspolitischen Dynamik zu tun, die die Wissenschaftsgeschichte schon immer untergründig und hinterrücks bestimmt, so daß wir es mit einer wechselseitigen Spiegelung gesellschaftlicher Bedürfnisse und wissenschaftlicher ‚Antworten‘ darauf zu tun haben, denn „(w)as im Rückblick aus einander hervorzugehen scheint, stellt sich im Vorblick auf das erst zu Schaffende als ein immer erneutes Beantworten immer neuer und unvorhersehbarer Situationen dar.“ (Vgl. Nation, S.155f.)

– nur eben nicht in dem guten, die individuelle Urteilskraft bereichernden Sinn einer Vielfalt menschlicher Sinnstiftung, sondern in dem schlechten Sinn eines machtförmigen Verdrängungswettbewerbs.

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