„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 5. August 2016

Richard Breun, Scham und Würde. Über die symbolische Prägnanz des Menschen, München 2014

(Verlag Karl Alber, kartoniert, 232 S., 29,-- €)

1. Das System als Verdopplung des Lebens
2. Befreiung vom Sinnlichen
3. Entwicklungslogik
4. Doppelaspektivität und Aspektverlust
5. Dualer Modus und Gruppendynamik

Plessner unterscheidet zwei Bewußtseinsbereiche: das repräsentative und das präsentative Bewußtsein. (Vgl. meine Posts vom 30.01.2012) Dem repräsentativen Bewußtsein ordnet Plessner die drei Sinnesbereiche des Gesichts, des Gehörs und des Getasts zu, und dem präsentativen Bewußtseinsbereich ordnet er neben dem Gehör (die Sinnesbereiche überschneiden sich teilweise) vor allem die Zustandssinne Geschmack, Geruch, Temperaturempfinden etc. zu. Im repräsentativen Bewußtseinsbereich entsprechen den Sinnen spezifische Gegenstandsbereiche, optische, akustische und taktile, was Plessner als „Akkordanz“ bezeichnet. (Zur Akkordanz vgl. Breun 2014, S.123f.) Die Zustandssinne des präsentativen Bewußtseinsbereichs haben Plessner zufolge keine eigene Akkordanz ausgebildet. Sie beziehen sich nicht auf Gegenstände, sondern auf Zustände, also auf Befindlichkeiten. Umgangssprachlich handelt sich um den Bereich der ‚Bauchgefühle‘.

Breun macht darauf aufmerksam, daß den Zustandssinnen sehr wohl ein eigener Gegenstandsbereich zugeordnet werden kann, wobei es sich aber nicht direkt um Dinge bzw. Objekte handelt, sondern um einen bestimmten Modus der Weltzugewandtheit. Die „Akkordanz der Zustandssinne“ besteht Breun zufolge im „dualen Modus“ (vgl. Breun 2014, S.144):
„Diese Dualität macht sich primär darin geltend, dass mir die Aufmerksamkeit im Blick des Anderen auf mich bewusst wird; aus der Fremdbeachtung resultiert die Eigenbeachtung im Durchgang durch den Blick des Anderen.“ (Breun 2014, S.136)
Die Zustandssinne vermitteln keine Gegenstände im dinglich-objektiven Sinne, sondern eine Atmosphäre, ein „Zwischen“ (Breun 2014, S.29), wie es Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) mit der „Zwischenleiblichkeit“ auf den Begriff bringt. (Vgl. Breun 2014, S.133) Im dualen Modus erfaßt der Mensch, so Breun, sich und die Welt „atmosphärisch“: „... wobei das Attribut ‚atmosphärisch‘ zugleich das Räumliche der so sich vollziehenden Synthesis meint und in Hinsicht sowohl auf Mimik, Gestik, Haltung des Selbst als auch auf die erscheinende Welt gebraucht und verstanden werden kann.()“ (Breun 2014, S.134)

Der Begriff der Atmosphäre scheint mir weitgehend dem Husserlschen Begriff der Lebenswelt zu entsprechen.

Breun verbindet mit dem Begriff des dualen Modus zwei verschiedene Ebenen des Sozialen, die meiner Ansicht nach begrifflich auseinandergehalten werden müssen, obwohl sie natürlich lebensweltlich meistens miteinander vermischt auftreten: die Ebene der Zweiheit bzw. der, wie Tomasello es nennt, „Zweitpersonalität“ (vgl. meine Posts vom 28.10. und 29.10., 02.11. und 04.11.2014) und die Ebene der Gruppe (vgl. auch meinen Post zu den Sozialperspektiven vom 24.08.2015). Dabei tut sich gerade hier eine Differenz auf, die wesentlich zum Schamphänomen dazugehört. Breun weist selbst darauf hin: „... das Schamgefühl kann völlig versagen bzw. seine Vermeidung kann intendiert werden, wenn die Handlung eines Normverstoßes in Gemeinschaft mit anderen Personen geschieht, denn dann geht das Ichbewusstsein, sprich: das Verantwortungsgefühl, verloren.“ (Breun 2014, S.36)

Die Scham ist ganz offensichtlich ein individuelles und individualisierendes Phänomen! Wer sich schämt, fällt aus einer Gruppe heraus und fühlt sich den Blicken einer Gruppe, meistens seiner eigenen, schutzlos ausgeliefert. Im Schutz der Gruppe sind Menschen zu Handlungen der Schamlosigkeit fähig, die sie auf sich allein gestellt niemals begehen würden. Es ist vor allem der einzelne Andere, das Du im eigentlichen Sinne des Wortes, also die Ebene der Zweiheit, dem gegenüber bzw. auf der die Schammechanismen wirksam werden.

Insofern muß man auch nochmal zwischen ‚Ehre‘ und ‚Würde‘ differenzieren. Auf Gruppenebene ist es nicht die Würde, die uns von Schamlosigkeiten abhält, sondern die Ehre. (Vgl. hierzu meine Posts vom 13.04. bis zum 15.04.2014) Die Würde repräsentiert die individuelle Person, die Ehre hingegen repräsentiert immer nur eine Gruppe. Deshalb ist die Ehre auch, wie es in einem Bonmot heißt, wie ein Streichholz: Man kann es nur einmal verwenden! Sie erneuert sich nicht, wenn sie einmal verletzt wurde. Der Ausschluß aus der Gruppe ist nach einer Ehrverletzung dauerhaft. Da kann sich der Betroffene schämen, so viel er will. Die Gruppe verzeiht keine Ehrverletzungen. – In meinem Post vom 14.04.2014 habe ich das zwar mit Bezug auf das Duell etwas anders dargestellt, aber gerade das Duell zeigt auch, daß zur Wiederherstellung von Ehre Blut fließen muß, wie ja auch aktuell die sogenannten ‚Ehrenmorde‘ belegen.

Die Würde hingegen erneuert sich im Schamausdruck, wie Breun in seinem Buch festhält. Und sie erneuert sich, weil sie ein individuelles, an die Person gebundenes Phänomen ist. Auch deshalb befindet sich, wie Breun schreibt, der duale Modus aktuell in einer Krise:
„Es ist offensichtlich, dass das Alltagsleben inzwischen von einer Medialität und Selbstdarstellung geprägt ist, die zum Selbstzweck geworden sind; das gilt aber auch, entgegen der propagierten Sachlichkeit des in Szene gesetzten prätendierten Forschungsethos, für einen nicht geringen Anteil des wissenschaftlichen Lebens mit der aus Marketingzwecken zur Übertreibung neigenden Darstellung von Forschungsvorhaben. ... Die Krise des dualen Modus ist als Krise des Menschen und der Menschheit, im Sinne der Menschhaftigkeit (hominitas) wie der Menschlichkeit (humanitas),() eine moralische Krise.“ (Breun 2014, S.188f.)
Die Scham gehört zur Seele, die Plessner als ein „noli me tangere“ beschreibt. (Vgl. „Grenzen der Gemeinschaft“ (2001/1924), S.65) Sie ist ein „Geschöpf der Nacht“, das das Tageslicht scheut. (Vgl. „Grenzen der Gemeinschaft“ (2001/1924), S.32) Darin liegt ihre Expressivität begründet, die darin besteht, daß die Seele einerseits zum Ausdruck drängt, sich aber andererseits dem Ausgedrückten entzieht: die Differenz von Sagen und Meinen. Medialität schadet der Seele. Wer sich der heutigen sozialen Medien bedient, um sich selbst darzustellen, verliert unweigerlich seine Würde. Vielleicht ist der shitstorm, die Verletzungswut in den sozialen Medien auch deshalb ein so verbreitetes Phänomen.

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