„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 2. August 2016

Richard Breun, Scham und Würde. Über die symbolische Prägnanz des Menschen, München 2014

(Verlag Karl Alber, kartoniert, 232 S., 29,-- €)

1. Das System als Verdopplung des Lebens
2. Befreiung vom Sinnlichen
3. Entwicklungslogik
4. Doppelaspektivität und Aspektverlust
5. Dualer Modus und Gruppendynamik

Um ein umfassendes System des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses konstruieren zu können, bedarf es Breun zufolge einer Anschauung des Ganzen, und diese sieht er in dem universellen, kulturübergreifenden, „historisch und kulturell“ unterschiedlich artikulierten Anspruch auf Würde gegeben. (Vgl. Breun 2014, S.87ff.) Diese Anschauung ist aber vor allem negativ vermittelt, denn sie kommt weniger in symbolischen Steigerungsformen wie der „Gravität“ zum Ausdruck (vgl.u.a.S.110), als vielmehr in ihrem Gegenteil, dem Schamausdruck: „Scham ist die andere Seite der Würde. Im Schamausdruck verschmelzen sinnliche Anschaulichkeit und Sinngebung so, dass mit der materiellen Erscheinung deren Bedeutung sogleich mit offenbart wird ...“ (Breun 2014, S.88)

Breun zufolge verkörpern die „Bilder der Scham“ die „anthropologische Struktur“ so, „dass daraus der Geltungsanspruch der Würde notwendig resultiert“. (Vgl. Breun 2014, S.89) Die Schamröte bringt in der Hervorkehrung der puren unkontrollierten Körperlichkeit die völlige Nichtigkeit der menschlichen Position zum Ausdruck. (Vgl. Breun 2014, S.180) Gerade deshalb wird die Scham zum „Umschlagspunkt“ entweder für die völlige Selbstaufgabe des Selbst bis hin zum Selbstmord oder für eine Revolte, in der das Selbst „seiner Lebendigkeit (wieder) Raum und Zeit verschafft“. (Vgl. Breun 2014, S.144)

Das „Paradigma“ für diesen paradoxen Umschlageffekt von der Scham zur Würde bildet Breun zufolge der Tod. Der Leichnam steht für die absolute Körperlichkeit des Menschen und strahlt um so mehr eine Würde aus, die die ganze Menschheit umfaßt:
„Denn der sterbende Mitmensch ist nicht das Man, sein Leichnam nicht irgendwer, ‚er ist ‚Jedermann‘.‘() Die symbolische Prägnanz des Mitmenschen in Sterben und Tod zeigt an, dass er ‚alle Anderen‘() verkörpert. Deutlicher noch als im bloßen Leben repräsentiert der Einzelne, der stirbt und tot da liegt, die Menschheit, er steht für alle Glieder der Mitwelt.“ (Breun 2014, S.202)
Für diesen Prozeß der paradoxen Symbolisierung des Ganzen, der Würde, im Zustand seiner bzw. ihrer absoluten Nichtigkeit verwendet Breun Plessners Begriff der „Entkörperung“, nicht ohne zugleich darauf hinzuweisen, daß wir es hier eigentlich mit einer „Entleiblichung“ zu tun haben. (Vgl. Breun 2014, S.148f.) Damit verweist Breun auf Plessners Begriff des Körperleibs, in dem der Begriff des Leibs für die Beseeltheit bzw. Lebendigkeit des menschlichen Körpers steht. Im Zustand der Scham haben wir es mit dem puren Körper zu tun, also mit einer Entleiblichung und nicht mit einer Entkörperung.

Dennoch bezeichnet Breun die Begriffe der Entkörperung und Entleiblichung als „gleichwertig“ (vgl. Breun 2014, S.148f., Anm.101), und er verwendet im Folgenden nur noch den Begriff der Entkörperung, der beide Aspekte, also auch den der Entleiblichung, mit umfaßt. Damit geht aber ein kritisches Moment, nämlich die eigentliche Entkörperung, die an ganz anderer Stelle stattfindet, verloren. Darauf will ich jetzt detaillierter eingehen.

Die polare Entgegensetzung von Scham und Würde eröffnet eine Spannbreite von „Möglichkeiten der menschlichen Expressivität zwischen Scham und Würde“, die die „historisch und kulturell inhaltlich je anders geprägte Artikulation von Selbst und Welt formt“. (Vgl. Breun 2014, S.89) Breun zufolge entspricht die „antinomische Struktur“ von Scham und Würde der „Differenzierung von Körper und Leib“, und diese lässt sich so „nachvollziehen“, „dass der Widerspruch nicht als solcher stehenbleibt, sondern theoretisch in der richtigen Unterscheidung, praktisch im Vollzug ‚aufgelöst‘ werden kann, und viel mehr noch: die Körper-Leib-Differenzierung erweist sich überhaupt als notwendige Bedingung der Möglichkeit des Vollzugs.“ (Breun 2014, S.24)

Die paradoxe Struktur von bzw. der Widerspruch zwischen Scham und Würde – und damit auch die Differenz von Körper und Leib – bildet also keinen unüberbrückbaren Hiatus, sondern ermöglicht eine „Hermeneutik des menschlichen Selbst“ (Breun 2014, S.24; Hervorhebung: DZ). Mit dem Begriff der Hermeneutik kommt Breun aber nun zu Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ (1923-1929), die eine dialektische Stufenbildung der Befreiung vom Sinnlichen hin zu gesteigerter „Bewusstheit und zunehmender Souveränität“ beinhaltet. (Vgl. Breun 2014, S.24) Wie schon im letzten Post erwähnt, legt Cassirer dabei den Schwerpunkt nicht direkt auf den Körperleib, sondern auf die symbolischen Formen, die dem Selbst- und Weltverhältnis des Menschen apriorisch zugrundeliegen. Der Körperleib ist nicht einfach nur symbolisch „prägnant“, in dem Sinne einer sinnlich strukturierten Bedeutungshaftigkeit, sondern er ist immer schon symbolisch-mitweltlich geformt. Die Mitwelt tritt bei Cassirer an die Stelle des Körperleibs: „Und so ist es kein Zufall, dass die symbolische Prägnanz mit der Du-Wahrnehmung in der noch ungeschiedenen, aber die Unterscheidungen entwicklungslogisch zwingend machenden Sphäre der Mitwelt anhebt.“ (Breun 2014, S.98)

An die Stelle des körperleiblich eröffneten Bruchs zwischen Mensch und Welt tritt eine Entwicklungslogik, eine Dialektik, also eine „Bewegung, die am Körper ansetzt und vom davon sich allmählich abhebenden Leibselbst in ein Selbstbewusstsein übergeht, das sich nicht mehr an den Körper binden muss, ohne ihn doch hinter sich lassen und völlig negieren zu können.“ (Breun 2014, S.99)

Mit der Bemerkung, daß diese Bewegung den Körper nicht völlig „hinter sich lassen“ kann, überführt Breun diese Dialektik von Steigerungsformen der Bewußtheit in einen hermeneutischen Zirkel, in dem sich der Mensch in seiner gebrochenen sinnhaften Sinnlichkeit durchschaut und so zu immer neuen Ausdrucksformen seiner selbst motiviert wird. (Vgl. Breun 2014, S.99) Dennoch erinnert die Sinnesfeindlichkeit dieser Dialektik an Hegel. Denn Cassirer geht von einem Kontinuum der Bedeutungsbildung aus, die auf ‚reine‘, also von der Sinnlichkeit bzw. vom Körper abstrahierende symbolische Formen gerichtet ist:
„Geistige Sinngebung ist nur deshalb möglich, weil die bedeutungsstiftende Funktion des Bewusstseins sich vom Sinnlichen lösen und befreien, das Sinnliche, an das sie doch ‚andockt‘, um es zu bezeichnen, auszudrücken, in Symbolen zu fixieren und es dadurch allererst zu bestimmen oder zumindest bestimmbar zu machen, in seinem bloßen Dasein vernichten muss, damit sie ihre Leistung ausüben kann.“ (Breun 2014, S.107)
Die Entwicklung der Ausdrucksformen geht dabei aus von der Mimesis, also von Gesten, Mimik und Körperhaltung, befreit sich von der körperleiblichen Bindung und geht zu einem analogischen Gebrauch der Sprache über, in der Wörter und Bilder stellvertretend für Gegenstände und Gedanken stehen können, und mündet im „rein Symbolischen“ der Mathematik, im bilderfeindlichen Monotheismus und in den autonomen Formen der abstrakten modernen Kunst. (Vgl. Breun 2014, S.94ff.) André Leroi-Gourhan beschreibt die Entwicklungsrichtung der Kunst übrigens völlig anders: ihm zufolge beginnen ihre Zyklen mit abstrakt-symbolischen Darstellungen, und sie enden mit naturgetreuen gegenständlichen Abbildungen. (Vgl. „Hand und Wort“ (1964/65); vgl. auch meinen Post vom 24.03.2013)

Der Bewegungsimpuls dieser Steigerungsformen, deren Linie Breun bis hin zur „absoluten Loslösung vom sinnlichen Dasein“ im Schweigen des Mystikers und in der Leere der Zen-Kunst zieht (vgl. Breun 2014, S.95), besteht in der Negation:
„Im Korrespondenzverhältnis von Selbst und Welt liegt die zweite Seite des Symbolisierungsprozesses darin, ‚dass der Mensch sich die Welt beseitigt, um die Welt an sich zu ziehen‘(), d.h. (a) in der Nichtigung der Welt durch (b) ‚Vergeistigung‘ bzw. Sinndurchdringung.“ (Breun 2014, S.151)
Der dialektische Bewegungsraum zwischen Scham und Würde besteht also nicht einfach in der paradoxen Struktur einer „Entkörperung“, die eigentlich eine „Entleiblichung“ ist, also im akuten Schamausdruck oder im Tod, vor deren Negativfolie die Würde in unabweisbarer Dringlichkeit zum Vor-Schein kommt. Vielmehr bilden Entleiblichung und Entkörperung zwei weit auseinanderliegende Pole, zwischen denen die symbolischen Formen ihre Dialektik entfalten. Am einen Pol, dem Schamausdruck, entleiblicht sich der Körper und steht leer und seelenlos in seiner materiellen Nacktheit da. Am anderen Pol ‚befreien‘ sich die reinen symbolischen Formen von allem sinnlichen Ausdruck: sie sind entkörpert im eigentlichen Sinne des Wortes!

Solcherart entkörperte Symbole bedeuten aber nichts mehr. Bedeutung geht aus der Differenz des Körperleibs hervor, „die, ausgehend von der Verkörperung, die bereits die Sinne selbst leisten, allererst zum Erzeugen von Symbolen bereits beim Wahrnehmen und zur Verkörperung von Bedeutungen führt.“ (Vgl. Breun 2014, S.55, Anm.21) Das ist die Bewegung, die Plessner beschreibt, die anders als bei Cassirer beim Körperleib ansetzt; nicht bei den Symbolen und der Mitwelt. Die Grundlage unserer Sprachlichkeit besteht nicht in einer fundamentalen Synthesis, sondern in der mit dem Körperleib gegebenen Differenz von Sagen und Meinen. (Zur Differenz als bedeutungsstiftendem Moment vgl. meine Posts vom 07.07.2011 und vom 15.06.2012) Diese Differenz führt niemals zu reinen, von aller Sinnlichkeit befreiten Ausdrücken. Mathematische Symbole sind leer und bedeutungslos, und gerade das ist auch der Grund für ihre universelle Anwendbarkeit. Denn wie auch immer wir mathematische Symbole in Technologien übersetzen: niemals meinen sie das, was wir mit ihnen tun.

Die von Cassirer als mittlere Stufe der Symbolformung angesprochene Analogie bildet das eigentliche Wesen der menschlichen Sprache. Wilhelm von Humboldt hat darauf hingewiesen, daß alle Sprache Analogiebildung sei. Um innere oder äußere Gegenstände nicht nur zu bezeichnen, sondern auch zu beschreiben und zum Ausdruck zu bringen, bedarf es der Analogiebildung. Im Umkehrschluß können wir festhalten, daß eine Sprache, die nicht analogisch ist, auch keine Sprache ist. Die Mathematik ist also keine Sprache. Wo unser Meinen im Sagen 1:1 zum Ausdruck kommt, haben wir aufgehört, etwas zu meinen. Auch Plessner weist deutlich auf diesen Umstand hin, wenn er von der Unmöglichkeit spricht, daß die Expressivität des Menschen – intentional ausgerichtet auf ein immer uneinholbares Noch-nicht – ein Ende findet:
„Der Abstand des Zielpunktes der Intention vom Endpunkt der Realisierung der Intention ist eben das Wie oder die Form, die Art und Weise der Realisierung. Jede Lebensregung der Person, die in Tat, Sage, oder Mimus faßlich wird, ist daher ausdruckshaft, bringt das Was eines Bestrebens irgendwie, d.h. zum Ausdruck, ob sie den Ausdruck will oder nicht. Sie ist notwendig Verwirklichung ...“ („Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.338)
Mit anderen Worten: wenn der Abstand zwischen Intention und Erfüllung auf Null schrumpft, haben wir nichts mehr zu sagen. Alle Worte werden bedeutungslos.

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