„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 9. August 2016

Ludger Lütkehaus, Diktat der Geburt – Gentechnische Freiheit?

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.395-406)

In ihrem Vorwort danken die beiden Herausgeber Oliver Müller und Giovanni Maio ihren Autorinnen und Autoren, mit denen sie zum Teil „schon lange in einem fruchtbaren Austausch“ stehen und die sie zu einem anderen Teil „im Laufe der Konzeption des Buches kennen- und schätzen gelernt“ haben. (Vgl. Müller/Maio 2015, S.10) Da einer der beiden Herausgeber selbst zwei eigene Beiträge zu seinem Herausgeberbuch beigesteuert hat, erwartet man sich deshalb auch, daß sich dieser fruchtbare Austausch inhaltlich irgendwie auf diese Beiträge ausgewirkt hat. Das ist aber zumindestens beim ersten seiner beiden Beiträge nicht der Fall.

In seinem Beitrag zur Reproduktionsmedizin (vgl. Maio 2015a, S.381-394) schreibt Maio, daß erst mit den neuen biogenetischen Technologien die ‚Widersinnigkeit‘ denkbar werde, daß sich die Eltern ihren Kindern gegenüber für deren Existenz rechtfertigen müssen (vgl. Maio 2015a, S.393). Hätte Maio den von ihm herausgegebenen Beitrag von Ludger Lütkehaus, „Diktat der Geburt“ (2015), tatsächlich gelesen, hätte er gewußt, daß schon Immanuel Kant vor mehr als zweihundert Jahren genau diese Problematik der Rechtfertigungsbedürftigkeit der Existenz thematisiert hatte:
„Der Kronzeuge für das Diktat der Geburt indessen ist Kant. ... Den ‚Akt der Zeugung‘ muss man sich nach Kant ‚als einen solchen ansehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben‘.()“ (Lütkehaus 2015, S.399)
Ludger Lütkehaus ist, anders als Giovanni Maio (vgl. meinen Post vom 27.07.2015), jeder Romantisierung des Lebens unverdächtig. Dem Pathos vom „Geschenk des Lebens“ (vgl. Lütkehaus 2015, S.396 und S.398) setzt er das reproduktionstechnologisch begründete „Diktat der Geburt“ (im Titel und S.398f.) entgegen. Wo Zeugung und Geburt noch von der ‚Unschuld‘ der Unwissenheit und der „Nichttäterschaft“ geprägt gewesen waren (vgl. Lütkehaus 2015, S.403) und als eine Gabe bzw. als Geschenk hatten aufgefaßt werden können, mit all den Implikationen, die das für die Wertschätzung des neuen ‚Lebens‘ als „inkarniertes Überraschungsmoment“, „als Initiales und Initiatives“, mit sich bringt (vgl. Lütkehaus 2015, S.405), haben wir es jetzt – hier ist die Ironie, mit der Lütkehaus argumentiert, wirklich beeindruckend – mit einer „forcierte(n) genetische(n) Determination“ der „künftige(n)  Menschen“ zu tun (vgl. Lütkehaus 2015, S.400). Gerade also die Technologie, die die Freiheitsgrade des Menschen erhöhen helfen soll, trägt zu einer größeren Unfreiheit bei, und zwar gerade eben mit ihren technischen Mitteln der Mängelbeseitigung und der „Merkmalsplanung“ (vgl. ebenda): „Entschlossene Determination löscht alle Unbekannten in der Rechnung, die das Leben bisher nicht ist.“ (Lütkehaus 2015, S.404)

Die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin bzw. der „Biotechnik“ (Lütkehaus 2015, S.400) zwingen uns heute zu einer „Kritik der generativen Vernunft“ (vgl. Lütkehaus 2015, S.395, 397, 398, 400). Diese beginnt allererst damit, „die Geburt überhaupt“ in Frage zu stellen. (Vgl. Lütkehaus 2015, S.397) Die Geburt wurde bislang primär als ein fundamentaler Akt der Bejahung, des Einverständnisses derjenigen verstanden, die ihr ihre Existenz verdanken. Lütkehaus weist darauf hin, daß vor der Geburt bzw. vor der sogenannten Zeugung niemand dagewesen sei, der hätte gefragt werden können:
„Selbst der entschlossenste ‚Positivismus‘, dem der Geschenk-Charakter des Lebens eine ausgemachte Sache ist, muss indessen einräumen, dass die ‚Gebürtigen‘ – so der Begriff, den Hannah Arendt statt des griechischen Begriffs der ‚Protoi‘, der Sterblichen, für die Menschen gebraucht – es ungefragt erhalten.“ (Lütkehaus 2015, S.398)
Wo niemand gewesen ist, kann auch niemandem etwas geschenkt worden sein, so wenig wie irgendjemandem etwas gefehlt haben könnte, für dessen ‚Gabe‘ er sich nun als dankbar erweisen müßte. (Vgl. Lütkehaus 2015, S.397) Tatsächlich ist die ‚Existenz‘ ein zweifelhaftes Geschenk. Lütkehaus verweist auf eine beeindruckende Tradition von Zweiflern, die nicht so recht etwas mit der ‚Mühsal‘, die das Leben mit sich bringt, anzufangen wissen. Er beginnt mit dem Prediger Salomo und dem Buch Hiob im alten Testament, verweist auf die „östlichen Religionen und Philosophien“ und auf den Buddhismus, auf die Gnosis, für die Gott als Demiurg, als Weltenschöpfer, etwas Teuflisches hatte (vgl. Lütkehaus 2015, S.396), erwähnt „die ‚schwarze‘ Ontologie des Neognostikers und Eurobuddhisten Schopenhauer“ (vgl. Lütkehaus 2015, S.397) und kommt schließlich auf den bereits erwähnten Kant zu sprechen, der die Eltern in die Pflicht nimmt, die von ihnen gezeugten Kinder mit deren Existenz zu versöhnen (vgl. ebenda). Sie alle verbindet die Einstellung des Dämonen im griechischen Mythos, daß es das Allerbeste für den Menschen sei, „nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein“. (Vgl. ebenda)

Allerdings versäumt Lütkehaus den Hinweis auf das Patriarchat, dessen genealogischer Linie auch die Reproduktionsmedizin noch zuzuordnen ist. Denn der Gedanke einer Asymmetrie zwischen ‚Erzeugern‘ und ihren Kindern (vgl. Lütkehaus 2015, S.403) reicht weiter zurück als die reproduktionstechnologische „Merkmalsplanung“. Niemand hatte ein größeres Verfügungsrecht über seine Kinder als der römische pater familias. Er durfte sie wie Gegenstände verheiraten, verkaufen und sogar töten. Dieses Verfügungsrecht über die Kinder ist der historische Ursprung der modernen Reproduktionsmedizin und eine letzte Mitgift des Patriarchats im Zeitalter der Emanzipation.

Lütkehaus kommt dieser Traditionslinie nahe, wenn er Genetik und Genesis gleichsetzt und Gott als „erste(n) Biotechnologe(n)“ bezeichnet (vgl. Lütkehaus 2015, S.404), dem seine heutigen „Ebenbilder“ eifrig nacheifern. Aufgrund dieser verdrehten Ebenbildlichkeit erhält das alttestamentarische Bilderverbot eine neue Qualität. (Vgl. Lütkehaus 2015, S.402) Mit dem Bilderverbot wird nicht nur Gott geschützt, sondern auch der Mensch vor sich selbst. Denn auch das Ebenbild Gottes sollte sich von sich selbst kein Bild machen, indem es sich selbst „als Kopist im Klonen“ wiederholt (vgl. Lütkehaus 2015, S.402), im Sinne einer schlechten „Ewige(n) Wiederkehr der Gleichen“ (vgl. Lütkehaus 2015, S.404).

Lütkehaus plädiert mit Hannah Arendt dafür, daß die „Gebürtlichkeit“ des Menschen nicht darin bestehen kann und darf, daß schon jemand anderes – in Gestalt der Eltern und der Reproduktionsmedizinier – mit ihm angefangen hat, sondern daß er sich selbst und seinen Eltern ein Anfang in sich selbst und für sich selbst sei. (Vgl. Lütkehaus 2015, S.398 und S.405) Indem die Reproduktionsmedizin diese Anfänglichkeit des Menschen technologisch hintertreibt, „intendiert sie das endgültige Verschwinden der Kindheit“. (Vgl. ebenda)

Genau dieses ethische Engagement seiner Kritik an der Reproduktionsmedizin ist es, das den Nihilismus von Lütkehaus kennzeichnet, weshalb er als aufgeklärter Nihilist bezeichnet werden kann. Und das ist in meinen Augen durchaus ein Lob.

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2 Kommentare:

  1. eine ausführliche zitatesammlung zum thema "diktat der Geburt" gibt knut hacker in seiner homepqage im anhang zur theodizeefrage

    knut-hacker.de

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