„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 1. Juli 2015

Gunter Gebauer, Hand und Gewißheit, in: Anthropologie, hrsg.v. Gunter Gebauer, Leipzig 1998

In seinem Buch zur „Krisis der europäischen Wissenschaften“ (1935/36) entwickelt Edmund Husserl aus Descartes’ Gewißheitsformel „cogito ergo sum“ die logische Notwendigkeit von einer mit dieser Gewißheit untrennbar verbundenen Weltgewißheit: nicht nur bin ich mir aufgrund meines Denkens meiner selbst gewiß, sondern ineins damit auch des Vorhandenseins einer Welt. (Vgl. meinen Post vom 05.05.13)

Das sieht Gunter Gebauer in seinem 1984 geschriebenen Aufsatz „Hand und Gewißheit“ (im von ihm herausgegebenen Sammelband „Anthropologie“ (1998), S.250-274) anders. Er bezweifelt sowohl Descartes’ Gewißheitsformel (vgl. Gebauer 1998, S.255) wie auch die Möglichkeit eines logischen Rückschlusses auf irgendwelche damit einhergehende Prädikationen (vgl. Gebauer 1998, S.252). Aus dem Denken ergeben sich Gebauer zufolge keine Gewißheiten, da aufgrund der durch die Logik des Zweifelns verursachten Loslösung des Denkens von den sinnlichen Gewißheiten unseres lebendigen Körpers sich der „radikale Erkenntniszweifel“ schließlich auch gegen das Verfahren der logischen Prüfung selbst richten muß. Die „prüfende Instanz“, so Gebauer, „ist nicht sicherer als das zu prüfende Wissen“. (Vgl. Gebauer 1998, S.255) Das bedeutet, daß ein konsequent durchgeführter Zweifel sich auch gegen sich selbst richten muß und damit sinnlos wird: „Das Cartesianische Verfahren, alles Gewußte, Gedachte und Erfahrene prinzipiell für Illusion zu halten, entspricht dem Verdacht, ‚daß wir uns in allen Rechnungen verrechnet haben‘ ..., und das heißt, daß der Zweifel ‚nach und nach seinen Sinn verliert‘ ...“ (Gebauer 1998, S.255)

Ich selbst habe im Rahmen meines Blogs zur Erkenntnisethik immer mit Bezug auf Helmuth Plessners Begriff des Körperleibs argumentiert, daß mit diesem Begriff eine anthropologische Dimension des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses bezeichnet wird, die allen menschlichen Lebensformen und Lebensäußerungen zugrundeliegt. (Vgl. meine Posts vom 21.10.2010 und vom 11.07.2013) Dabei habe ich die geistig-seelische Bedeutung der Morphologie – aufrechter Gang, Gegenüberstellung von Kopf (Gehirn) und Körper – hervorgehoben und mich damit insbesondere gegen molekularistische Versuche insbesondere der Neurowissenschaften gewandt, das menschliche Bewußtsein auf neuronale Funktionen zurückzuführen. Wenn Plessner vom Körperleib spricht, so denkt er vor allem an eine spezifisch menschliche Morphologie im Sinne einer bewußtseinsermöglichenden Verhältnisbestimmung von Gehirn und Organismus und an eine ebenfalls bewußtseinsbildende Verhältnis- und Funktionsbestimmung der verschiedenen Sinnesorgane.

An dieser Stelle setzt auch Gebauers Aufsatz an. Er verweist auf die Abhängigkeit des menschlichen Handelns „von der materiellen Form des menschlichen Körpers“ (vgl. Gebauer 1998, S.250), insofern z.B. die Hand eine Struktur vorgibt, wie wir in unserer Umwelt handelnd eingreifen und unsere Bedürfnisse befriedigen können: „Die Tätigkeit z.B. der Hand, ihr Greifen, Berühren, Schlagen, entwickelt ein regelhaftes Verhalten gegenüber allem, was von der Hand erfaßbar ist, und erzeugt eine verhaltensstrukturierte Umwelt. Die regelhafte Verwendung der Hand gibt dem Handeln und Wahrnehmen grundlegende Formen ...“ (Gebauer 1998, S.261)

Die Morphologie des menschlichen Körpers gibt also Regeln vor, die unser Handeln schon vorstrukturieren, noch ehe wir irgendwelche bewußten Überlegungen und Planungen anstellen können, was wir in einem besonderen Fall tun wollen: „Handeln ist im Ursprung eine Praxis des Körpers.“ (Gebauer 1998, S.261)

Der Mensch macht also immer schon, vor allem bewußten Denken, aber auch im bewußten Denken, einen durch die menschliche Morphologie bestimmten Gebrauch von seinem Körper. An dieser Stelle ist es nun hochinteressant, daß sich Gebauer auf den Begründer des linguistic turn, auf Ludwig Wittgenstein und seine „zentrale Kategorie des Gebrauchs“, bezieht. (Vgl. Gebauer 1998, S.263) Wohl kaum jemals zuvor in der Geschichte der Philosophie hat ein Philosoph durch ein von ihm selbst später als Irrtum deklariertes Konzept einen solchen Einfluß auf die nachfolgende Philosophieentwicklung gehabt wie Wittgenstein. Seine Vorstellung von der fundamentalen Funktion der Sprache und ihrem Gebrauch für das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen hat das geisteswissenschaftliche Denken des ganzen 20. Jhdts. geprägt.

Wittgenstein selbst hat seine früheren, im tractatus logico-philosophicus (1921) vertretenen Ansichten korrigiert. Gebauer bezieht sich in diesem Zusammenhang vor allem auf seine posthum veröffentlichte Schrift „Über Gewißheit“ (1969), in der sich Wittgenstein mit Descartes’ Gewißheitsformel auseinandersetzt. In dieser Schrift ist die Sprache und ihr Gebrauch nicht mehr fundamental. Fundamental – auch für die Sprache selbst – ist vielmehr der Gebrauch, den wir von unserem Körper machen: „Wittgensteins Bemerkungen über Gewißheit enthalten eine Problemwendung, die über den ‚lnguistic turn‘ der Sprachphilosophie hinausgeht. Seine Wende entsteht aus einem Erstaunen: Ist es nicht widersinnig anzunehmen, daß der Geist die aus dem Körpergebrauch stammende Gewißheit prüfe?“ (Gebauer 1998, S.258)

Der von Wittgenstein inspirierte und später von ihm selbst widerrufene linguistic turn stellt die Dinge auf den Kopf: anstatt das Denken an den körperlich vermittelten Gewißheiten zu prüfen, sollen die körperlich vermittelten Gewißheiten – Stichwort ‚Sinnestäuschungen‘ – über das Denken geprüft werden. Das führt zu einem unvermeidbaren unendlichen Regreß, denn im Denken selbst gibt es keinen ‚Grund‘, also kein Fundament, auf den der Prüfvorgang zurückgeführt werden könnte. (Vgl. Gebauer 1998, S.257)

Übrigens hatte schon Rousseau in seinem „Emile“ (1762) darauf hingewiesen, daß die Gewißheiten, die das Auge vermittelt, eine eigene Qualität haben. Bei einem ins Wasser gesteckten Stab sollte Emile deshalb nicht die Hände benutzen, um die an der Wasseroberfläche auftretende Krümmung des Stabes zu überprüfen. Der ‚Tastsinn‘, so Rousseau, – anders ausgedrückt: der Griff nach dem Stab – würde nämlich das Auge unmittelbar widerlegen, und dann hätte Emile nichts über den Gesichtssinn gelernt. Rousseau läßt Emile deshalb verschiedene Experimente durchführen, die alle nur auf das Auge gerichtet sind. Es ist letztlich also der Gesichtssinn, der sich selbst über seinen Seheindruck ‚belehrt‘, und so lernt Emile seinen Sinnen und seinem Verstand zu vertrauen. Letztlich, so Rousseau, täuscht uns der Gesichtssinn nicht; im Falle einer Täuschung verwenden wir ihn lediglich fehlerhaft. (Vgl. meinen Post vom 05.06.2010)

Gebauer zufolge enthält das Denken nicht nur keinen festen Grund: auch das Denken selbst bildet keinen solchen Grund. Es bedarf vielmehr eines unbezweifelbaren Rahmens, innerhalb dessen das Denken überhaupt erst möglich wird. Dafür steht der Begriff des Sprachspiels: „Sowohl Wissen als auch Zweifeln ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Daß man etwas wissen oder bezweifeln kann, ist nur innerhalb eines Sprachspiels möglich.()“ (Gebauer 1998, S.254) – Das Sprachspiel bzw. der Rahmen gibt vor, was sinnvoller Weise gesagt werden kann und was nicht gesagt werden kann. So ist z.B. der Verdacht, eine Wahrnehmung könnte nur geträumt sein, nur sinnvoll, wenn er mit der Gewißheit verbunden ist, „daß sich das Geträumte vom Nicht-Geträumten zweifelsfrei unterscheiden läßt und daß im Denken ein Bereich des Nicht-Geträumten existiert.“ (Vgl. Gebauer 1998, S.254f.)

So setzt also das Verwenden von Wörtern immer schon einen Bedeutungsrahmen voraus, eben das Sprachspiel, innerhalb dessen sie sinnvoll verwendet werden können und der selbst nicht anzweifelbar ist. Soweit jedenfalls der frühe Wittgenstein in seinem Traktat. Der spätere Wittgenstein weist darauf hin, daß auch die Sprachspiele selbst noch einmal fundiert werden müssen, nämlich durch den fundamentalen Gebrauch, den wir von unserem Körper machen: „Die mit Hilfe des Körpergebrauchs erzeugten Gewißheiten liegen tiefer als andere Gewißheiten unseres Weltbildes.()“ (Gebauer 1998, S.259)

Denken, das ausschließlich durch Sprachspiele organisiert wird, wird immer ‚grundlos‘ sein. Es wird aus sich selbst heraus nicht durch Gewißheiten, sondern durch Zweifel motiviert. Aber dennoch beginnt das Denken, so Gebauer, „nicht mit dem Zweifel, sondern mit Gewißheiten“. (Vgl. Gebauer 1998, S.256)

Alle Gewißheiten, wie sie dem Denken vorgegeben sind und die es nicht sinnvoll anzweifeln kann, werden durch die „strukturelle Analogie“ (Gebauer 1998, S.263) zwischen Gegenstandswahrnehmung und Semantik ermöglicht. Wir haben es hier mit einer Übertragung von räumlichen Gegenstandsqualitäten auf die symbolische Struktur von Wörtern (und Gedanken) zu tun. (Vgl. hierzu auch meinen Post vom 25.10.2011) Unser manueller „Umgang mit Gegenständen“ wird gewissermaßen zum Vor-Griff auf den Umgang mit „symbolischen Objekten“, also mit Wörtern bzw. ‚Begriffen‘. In beiden Fällen bleibt der „Symbolrahmen“ „im wesentlichen gleich“: „Nur ist innerhalb des Rahmens der Griff durch das Wort ersetzt worden.“ (Gebauer 1998, S.272)

Bei diesem Vorgang der Übertragung haptischer Strukturen auf symbolische Strukturen fungiert die schon erwähnte „materielle() Form des menschlichen Körpers“ als „Symbolkörper“. (Vgl. Gebauer 1998, S.265) Letztlich ist mit ‚Symbolkörper‘ auch nichts anderes gemeint, als daß die visuell-haptische Wahrnehmungskoordination (Hand/Auge) im Julian Jaynesschen Sinne zur ‚Metapher‘ für das abstrakt-begriffliche Denken wird. (Vgl. meinen Post vom 03.06.2015) Das bezieht sich nicht nur auf die Hand, sondern auch auf die verschiedenen Sinnesqualitäten (wie z.B. ‚inneres Auge‘ und ‚sehen‘ für Bewußtsein).

Die Struktur, die Anatomie und Morphologie des menschlichen Körpers dem subjektiven Selbst- und Weltverhältnis vorgeben, hat zunächst eine individuell-ontogenetische Ebene, die dem Erwerb der Sprache vorausgeht: „Wenn ein Kind beginnt, mit Wörtern umzugehen, hat es vorher schon die Gewißheiten festgesetzt, die für den Umgang mit Gegenständen nötig sind.“ (Gebauer 1998, S.264) – Wir haben es darüberhinaus aber auch mit einer phylogenetisch frühen Etappe der Menschheitsentwicklung zu tun, die fundamentaler ist und weiter zurückreicht als der neurophysiologische Befund eines relativ großen Gehirns. Gebauer beruft sich dabei auf Leroi-Gourhans „Hand und Wort“ (1980 (1964/65)): „Die Entwicklung des Gehirns folgt jener ‚des Körperapparates‘ ...“ (Gebauer 1998, S.267)

Es ist also nicht die Größe des Gehirns, die einen morphologischen Entwicklungsprozeß zum aufrechten Gang unterstützte, sondern es ist der Gebrauch, den schon die ältesten „Australanthropen“ und „Paläanthropen“ vom aufrechten Gang und von der von Fortbewegungszwecken freigesetzten Hand machten, der zum Gehirnwachstum führte: „Nach dieser Vermutung ist die menschliche Körperentwicklung zwar frühzeitig abgeschlossen, aber die Gehirnentwicklung steht mit den ersten Formen des Menschen erst an ihrem Anfang.“ (Gebauer 1998, S.268f.) – Wenn es also ein besonderes Organ der Bewußtwerdung des Menschen gibt, ist es die Hand, und nicht das Gehirn.

Seit diesen ersten Anfängen der Menschheitsentwicklung gehört Gebauer zufolge die „Verschränkung von Handgebrauch mit Werkzeug und Sprache“ „zu den rudimentären Eigenschaften des homo sapiens“ und spielt bis heute auch „in den entwickeltsten Formen des Denkens eine Rolle“. (Vgl. Gebauer 1998, S.269) Die Sprache ist also kein bloßes Produkt des Gehirns bzw. bestimmter neuronaler Bereiche des Gehirns. Das steckt schon in Wittgensteins sprachanalytischer These, daß die Sprache in erster Linie ihr Gebrauch sei. Aber der späte Wittgenstein geht hier sogar noch einen Schritt weiter. Auch die Sprache selbst hat ihren eigenen Ursprung allererst im Gebrauch des anatomisch modernen menschlichen Körpers. „Semantik“, so Gebauer, „ist im Ursprung eine körperliche Kategorie“. (Vgl. Gebauer 1998, S.274)

Gebauers Aufsatz ist für mich vor allem deshalb interessant, weil ich zwar bislang mit Plessner immer die fundamentale Bedeutung der Anatomie bzw. richtiger: der Morphologie des humanoiden Körpers in der Menschheitsentwicklung behauptet hatte, mir aber bislang das Argument fehlte, mit dem ich das hätte begründen können. Gebauer liefert mir jetzt dieses Argument, indem er beschreibt, wie die materielle Struktur dieses Körpers, insbesondere der Hand, zur Struktur des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses wird, als „Fähigkeit, sich in der Welt und der Welt gegenüber zu verhalten“. (Vgl. Gebauer 1998, S.259)

Natürlich beinhaltet auch Plessners Ästhesiologie (Verhältnisbestimmung der Sinnesorgane) so ein welt-konstituierendes strukturelles Moment. Aber die Sinnesorgane bilden ein primär passives Moment, im Sinne von Wiesings „Mich der Wahrnehmung“ (vgl. meinen Post vom 04.06.2010), das aus neurophysiologischer Perspektive gerne umstandslos auf Gehirnfunktionen zurückgeführt und zu einem Konstruktivismus umgedeutet wird. Bei der Aktivität unserer Hände hingegen haben wir es mit einer widerständigen Welt, mit Gegenständen zu tun. Halten, Verhalten und Haltung kommen auf der manuell-haptischen Ebene unmittelbar zusammen und verleihen unseren Bedürfnissen Gestalt und Ausdruck.

Die „Praxis des Körpers“ ist nämlich, wie Gebauer schreibt, nicht nur ein Handeln – was übrigens von ‚Hand‘ kommt –, sondern auch ein Verhalten ‚in‘ der Welt und der Welt ‚gegenüber‘, eine Haltung also, eine exzentrische Positionierung im Sinne Plessners: Zentrum und Peripherie zugleich.

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