„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 5. Mai 2013

Getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringen!

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 3/1996 (1935/36)

1. „Jedermann, der diese Methode verstehen und zu üben vermag“
2. Gewißheit jenseits allen Zweifels
3.„Daten und Datenkomplexe“
4. Geschichte als Sedimentation
5. Zweite Naivität

Wenn Husserl schreibt, daß er sich nicht der „naturwissenschaftlichen Sprechweise“ bedienen könne, weil es ihm darum gehe, „die ‚ursprüngliche Anschauung‘ zur Geltung zu bringen“ (vgl. Husserl 3/1996, S.64), so meint er sicherlich nicht, daß man im Ernst von ihm erwartet hätte, daß seine 1936 als Buch erschienenen, in Wien und Prag gehaltenen Vorträge statt in mehr oder weniger wohlgeformten Sätzen mit Subjekt-Prädikat-Struktur (vgl. meinen Post vom 23.01.2011) in lauter mathematischen Formeln abgefaßt und vorgetragen würden.

Wenn Husserl dennoch zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer naiven Sprechweise unterscheidet, dann geht es ihm um eine neue Gewichtung dieser naiven Sprechweise und ineins damit um eine Neubewertung der vorwissenschaftlichen Lebenswelt. Die mathematischen Satzstrukturen bestehen Husserl zufolge aus „Buchstaben“, wie in der Algebra, und aus „Verbindungs- und Beziehungszeichen“ wie + und × usw. (Vgl. Husserl 3/1996, S.49) Bei ihrer Zusammenordnung, ihrer ‚Syntax‘, haben wir es lediglich mit „Spielregeln“ zu tun, wie bei einem „Karten- und Schachspiel“. (Vgl. ebenda)

Worin besteht aber der Unterschied zwischen bloßen Spielregeln und den Regeln bzw. der Grammatik einer Sprache? Auch die Sprache ist bei einigen französischen Strukturalisten wie etwa Ferdinand de Saussure mit einem Schachspiel verglichen worden. Und angelsächsische Linguisten sprechen gerne vom „Sprachspiel“. Als Student habe ich mir den Spaß gemacht, mir anhand der unterschiedlichen Spielregeln von Doppelkopf und Schach entsprechend unterschiedliche Sprachmodelle auszudenken. Und ich weiß noch, wie ich in einem Seminar zur generativen Transformationsgrammatik (Noam Chomsky) gesessen habe, wo uns ein junger Dozent, der zu diesem Thema seine Doktorarbeit geschrieben hatte, vorführte, wie man den Satz: „Der Rabe ist ein Vogel!“ in eine mathematische Formel übersetzt. Wir bestaunten damals den jungen Dozenten wie ein Alien von einem fremden Planeten, weil wir es kaum fassen konnten, daß sich jemand ernsthaft mit solchen Spinnereien befaßte. Das war zu Beginn der achtziger Jahre, und es dauerte noch ein bißchen bis zur allgemeinen Computerisierung von Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Freizeit. Es war uns damals noch nicht bewußt gewesen, daß wir es hier mit Algorithmen zu tun hatten, die die Grundlage für eine Software bildeten, die die Welt nachhaltig bis zur Unkenntlichkeit verändern würde.

Wenn Husserl also von einer naturwissenschaftlichen Sprechweise spricht, dann sind diese „Spielregeln“ innerhalb eines „technischen Verfahren(s)“ gemeint, das wie ein Karten- oder ein Schachspiel auf nichts verweist als auf sich selbst und dem erst von einem „ursprüngliche(n) Denken“ her „Sinn“ und „Wahrheit“ verliehen wird (vgl. Husserl 3/1996, S.49); also von einem Denken her, das noch um die Vogelartigkeit des Raben weiß und beides in naiven Worten zum Ausdruck bringt, bevor sie in Buchstaben und Verbindungszeichen aufgelöst werden.

Husserl verweist auf einen „tief verborgenen Sinn“ (Husserl 3/1996, S.82) in Descartes’ Gewißheits-‚Formel‘, dem cogito ergo sum! Wobei wir jetzt angesichts der vorangegangenen Erörterung nicht mehr irreführend von einer ‚Formel‘ sprechen dürfen: Der Satz, der Descartes zufolge die allergewisseste Gewißheit jenseits allen vernünftigen Zweifelns zum Ausdruck bringt (Husserl 3/1996, S.83), bildet nämlich tatsächlich einen echten, vollständigen Satz und keine abstrakte Formel! Descartes hat diese Gewißheit in Worte gefaßt und nicht in mathematische Zeichen. Denn das ‚ego‘ im ‚cogito‘ bildet als transzendentales Ego zugleich ein Satzsubjekt, das nach seinen Prädikaten verlangt, den cogitata, und ineins mit diesen cogitata nach einer Welt als der Totalität aller cogitata: „in derselben Evidenz“, wie das ‚ego‘ des Cogito, „ist auch sehr Mannigfaltiges beschlossen. Sum cogitans, diese Evidenzaussage lautet konkreter: ego cogito – cogitata qua cogitata.“ (Vgl. Husserl 3/1996, S.85)

Die Welt und ihre Inhalte bilden nun, schreibt Husserl, „unabtrennbare Bestände meiner cogitationes, eben als ihre cogitata“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.85) Das heißt aber nichts anderes als: die fundamentalste Gewißheit, aus der alles andere hervorgeht, auch die Mathematik, hat eine S/P-Struktur. Die Sprache ist fundamentaler als die Mathematik, und erst von dieser Sprache her, von ihrer das menschliche Selbst- und Weltverhältnis organisierenden S/P-Struktur her, erhält die Mathematik mit ihren „technischen Verfahren“ ihren Sinn. Wer ‚Ich‘ sagt, muß auch ‚Welt‘ sagen; oder ‚Seele‘.

Soweit folge ich Husserl. Aber an dieser Stelle unterläuft Husserl ein Gedankenfehler, gegen den ich Einspruch erheben möchte. Was meint Husserl an dieser Stelle mit ‚Seele‘? Er bezeichnet damit das Verhältnis des transzendentalen Ego zu sich selbst, also zu seinen ‚inneren‘ Phänomen, während der Weltbezug sich auf alle äußeren Phänomene richtet. (Vgl. Husserl 3/1996, S.108f.) Die ‚Seele‘ bildet also das Gesamt aller cogitata bzw. Prädikate, die mich selbst ausmachen, und die ‚Welt‘ bildet das Gesamt aller cogitata bzw. Prädikate, die anderes bezeichnen als mich.

Mit dieser Unterscheidung will Husserl vermeiden, daß man das transzendentale Ego, also das Satzsubjekt im cogito, mit der Seele gleichsetzt. Das Ego setzt sich in der Selbstgewißheit des cogito eine Welt gegenüber, kann also selbst keine Welt bilden: „Das Ego ist nicht ein Residuum der Welt, sondern die absolut apodiktische Setzung, die nur durch die Epoché, nur durch die ‚Einklammerung‘ der gesamten Weltgeltung ermöglicht und als einzige ermöglicht wird.“ (Husserl 3/1996, S.87f.)

‚Einklammern der Weltgeltung‘ soll hier heißen, daß wir es hier nur mit einer Satzstruktur zu tun haben, nicht mit der realen Welt. In dieser realen Welt können wir nämlich an allem möglichen zweifeln. Nichts in der realen Welt ist dem radikalen Zweifel entzogen. Das Einzige, was ich mit apodiktischer Gewißheit nicht bezweifeln kann, bin ich selbst, der ich meinem Zweifel in meinen cogitationes Ausdruck verleihe. Und ineins mit diesen cogitationes bezweifel ich auch die Welt nicht, denn ohne cogitata – ohne ‚Welt‘ oder auch ohne Prädikate – keine cogitationes. Einfacher gesagt: kein Denken ohne Gedanken, kein Bewußtsein ohne Inhalt.

Wenn also das transzendentale Ego kein „Residuum der Welt“ bildet, weil es die Welt im Denkakt allererst konstituiert, so kann es auch nicht die ‚Seele‘ sein, die ja Husserl zufolge selbst nur den Gegenstand bzw. ein Prädikat des sich selbst denkenden Ichs bzw. Egos bildet.

Halten wir also fest: sowohl Seele als auch Welt bilden beides notwendige und unabtrennbare Bestände meiner cogitationes. Kaum beginnt Ego zu denken – cogito –, so ergibt sich damit ineins eine Welt von cogitata, und in logischer Zwangsläufigkeit mit dieser Welt auch eine Seele.

Jetzt kommen wir zu Husserls Gedankenfehler. Husserl stellt in apodiktischer Form fest, daß mit derselben Naivität, mit der das transzendentale Ego immer wieder mit der Seele verwechselt worden ist, seit Jahrhunderten niemand an „Schlüssen von dem Ego und seinem cogitativen Leben aus auf ein ‚Draußen‘ Anstoß nahm und eigentlich niemand sich die Frage stellte, ob hinsichtlich dieser egologischen Seinssphäre ein ‚Draußen‘ überhaupt einen Sinn haben könne ...“ (Vgl. Husserl 3/1996, S.88f.)

Daß Husserl die Scheidung zwischen Innen und Außen nicht als einen Bestandteil der S/P-Struktur der unbezweifelbaren Selbstgewißheit des transzendentalen Ego akzeptieren will, liegt wahrscheinlich daran, daß die reale Geltung der Welt in dieser Selbstgewißheit eingeklammert ist und diese Welt nur als syntaktische Notwendigkeit der S/P-Struktur des cogito zur Geltung kommt. Aber auf dieser Ebene eines fehlenden Realweltbezuges stellt die S/P-Struktur in ihrer Selbstbezüglichkeit – also ohne sie als Index auf die Realitätshaltigkeit von Welt zu verstehen – tatsächlich nur noch ein Sprachspiel dar, auf einer Ebene mit Schach. Sie würde sich von mathematischen Formeln nicht unterscheiden, und auf diesen Unterschied kommt es Husserl doch eigentlich an.

Denn daß mathematische Formeln keine S/P-Struktur beinhalten, macht noch keinen qualitativen Unterschied aus, sondern erst der mit der fehlenden S/P-Struktur einhergehende fehlende Realweltbezug. Und nur weil die S/P-Struktur einen solchen Realweltbezug indiziert, ist sie als Satzstruktur im ursprünglichen Sinne für das ganze menschliche Selbst- und Weltverhältnis so grundlegend.

Husserls Hinweis darauf, daß im Weltbezug der cogitationes der Unterschied zwischen der ‚Welt‘ und der ‚Seele‘, als Bezug des transzendentalen Egos zu sich selbst, mit einbeschlossen ist, beinhaltet das Zugeständnis einer Unterscheidung zwischen ‚inneren‘ und ‚äußeren‘ cogitata, so daß sich Husserl hier selbst widerspricht, wenn er den Schluß vom Ego auf ein „Draußen“ für nicht zulässig hält.

Jedes Selberdenken beruht also auf einer ständigen Neubesinnung an der Schwelle eines individuellen Selbst- und Weltverhältnisses auf der Basis einer vorwissenschaftlichen, ‚naiven‘ Sprechweise. Damit ist unsere Frage aus dem vorangegangen Post beantwortet: nicht nur ist Selberdenken jenseits der Mathematik möglich, sondern auch deren Beurteilung; und letzteres sogar nur jenseits der Mathematik.

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