„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 25. Oktober 2011

Gegenstandstheorie der Wahrnehmung versus Informationstheorie der Wahrnehmung

1. Informationstheorie der Wahrnehmung
2. Gegenstandstheorie der Wahrnehmung

Es ist bemerkenswert, daß Friths Beispiele, nämlich Kritzeleien, Skizzen und grobe Entwürfe, mit denen er das Interesse an der Außenwelt veranschaulicht, aus dem Bereich der menschlichen Expressivität stammen und nicht aus dem Bereich der physischen Außenwelt. (Vgl. Chris Frith 2010/2007, S.182f.) Er hätte ja auch den ‚unattraktiven‘ Gedankenvorstellungen attraktive Ereignisse aus der physischen Außenwelt gegenüberstellen können, etwa ein Beutetier, dem ein Jäger auf der Jagd auflauert. Die damit verbundenen Emotionen physiologischer wie psychologischer Art wären eigentlich viel einleuchtender, wenn es darum geht, zu verstehen, inwiefern unsere Innenwelt vergleichsweise langweilig ist. Eine bloß vorgestellte Jagd, z.B. in Form einer Tagträumerei, kann erlebnismäßig einfach nicht mit einer wirklichen Jagd mithalten.

Indem Frith aber nun auf solche biologischen Analogien verzichtet und stattdessen auf Mittel unserer Expressivität verweist, kommt er dem eigentlichen Knackpunkt, der menschlichen Doppelaspektivität nämlich, schon sehr nahe. Erinnern wir uns an die entsprechenden Posts zu Plessner (vgl. meine Posts vom 28.10.2010 und 29.10.10): Die Struktur unseres Weltverhältnisses, von innen nach außen und von außen nach innen, ist gebrochen. Wir erreichen unsere Ziele nicht gradlinig, im Sinne eines Reiz-Reaktions-Mechanismusses. Aufgrund dieser Gebrochenheit haben wir ein Selbstbewußtsein. Würden wir unsere Intentionen unmittelbar verwirklichen, wie z.B. beim Essen und Trinken, wüßten wir nichts von ihnen. Uns werden unsere (inneren) Gedanken und unsere (inneren) Gefühle erst dadurch bewußt, daß wir mit ihnen in der Außenwelt scheitern. Diesen Vorgang des Scheiterns an der Realisierung von Gedanken und Gefühlen hält Plessner für so entscheidend, daß er ihn sogar als Grundform unserer Expressivität bezeichnet.

Expressivität wird so zum Alleinstellungsmerkmal des Menschen: Wir haben ein unstillbares Bedürfnis, uns auszudrücken, uns in der Außenwelt durch Handeln zu verwirklichen. Das heißt wiederum, daß wir nur wir selbst sein können, wenn wir versuchen, uns im Handeln vor uns selbst verständlich zu werden. Dieser Versuch wird eben dadurch immer wieder neu motiviert, daß wir uns im jeweils gefundenen Ausdruck jedesmal verfehlen.

Wenn nun Frith darauf verweist, daß bloße Gedankenvorstellungen im Vergleich mit Kritzeleien, Skizzen und groben Entwürfen unattraktiv sind, so bedeutet das nichts anderes, als daß wir das, was uns innerlich bewegt, nach außen wenden müssen, eben in Form von Kritzeleien, Skizzen und groben Entwürfen. Dabei sehen wir z.B., daß ein Satz, den wir niedergeschrieben haben, oder eine Zeichnung, die wir gemacht haben, unserem Gedanken oder unserer Vorstellung nicht genau entspricht. Wir müssen also an dem Satz oder an der Zeichnung arbeiten, um sie ‚besser‘ zu machen. Wenn wir dann etwas zustande gebracht haben, was uns für den Moment zufriedenstellt, müssen wir es anderen zeigen, um zu sehen, ob sie den Gedanken im niedergeschriebenen Text oder die Vorstellung, auf der die Zeichnung beruht, verstehen. Dabei werden wir dann oft genug verunsichert sein, weil wir ein vernichtendes Urteil befürchten. Und wir werden schon beim Hinzeigen unseres Textes, beim heimlichen Mitlesen, ohne daß unser Freund, Bekannter, Lehrer, wer auch immer, etwas sagen muß, von selbst auf ‚Fehler‘ stoßen, die wir schnell noch korrigieren wollen, bevor jemand den Text weiterliest, und wir werden möglicherweise versuchen, in den Text hineinzukorrigieren, während unser Bekannter noch versucht ihn zu lesen.

Allein schon das nach außen Wenden von inneren Vorgängen wirkt also korrigierend auf diese inneren Vorgänge zurück, und wir beurteilen sie nun anders als vorher. Genau das ist Expressivität auf der Grundlage der Doppelaspektivität von Innen und Außen. Was hat das nun mit einer Gegenstandstheorie der Wahrnehmung zu tun?

Die Gegenstandswahrnehmung hat ihr Modell, ihr Urbild im Körperleib, d.h. in der Doppelaspektivität von Körper (Außen) und Leib (Innen). Die Gegenüberstellungen von Mensch und Welt und von Leib und Körper beruhen wiederum auf der Arbeitsteilung unserer Organfunktionen, insbesondere in der Gegenüberstellung von zentralem Nervensystem und den übrigen Organen. Aufgrund dieser Gegenüberstellung beinhaltet unsere Anatomie eine Doppelaspektivität als ‚Leib‘ (Modell des Körpers im Gehirn: bewußte Kontrollierbarkeit) und als ‚Körper‘ (das Gehirn als Teil des umfassenden bzw. ihn beinhaltenden Gesamtorganismusses: weitgehend nicht kontrollierbar).

Indem der eigene Körper als Modell für die Gegenstandswahrnehmung fungiert, müssen wir Plessner zufolge nicht erst ‚lernen‘, den anderen Menschen uns gegenüber zu beseelen, weil wir schon immer alles, was wir wahrnehmen, beseelen, also auch ‚tote‘ Gegenstände. Ein weiterer Aspekt dieses Körpermodells besteht meiner Ansicht nach nun darin, daß wir so, wie wir unseren Körper vollständig ‚haben‘ wollen, eben als Leib, wir auch unsere Welt und die Gegenstände vollständig ‚haben‘ wollen. Das hat etwas mit dem Husserlschen Begriff der Selbsthabe zu tun. So wie wir mit unserem Körper ein Ganzes bilden, wollen wir auch mit der Welt ein Ganzes bilden. Das ist die Grundlage unserer Neugierde, unserer Wissensbegierde.

Hier macht es Sinn, noch einmal zwischen Gegenstandswahrnehmung und Sinnwahrnehmung zu differenzieren. Wir können zwischen phänomenalen Gegenständen im engeren Sinne und narrativen ‚Gegenständen‘, eben dem Sinn differenzieren. Bei den phänomenalen Gegenständen handelt es sich um Gegenstände und Ereignisse der äußeren, physischen Welt. Bei den narrativen Gegenständen handelt es sich um Sinnzusammenhänge der inneren Welt. Die narrativen Gegenstände bilden sowohl Bewußtseinsinhalte wie auch Gedächtnisinhalte. Das Gedächtnis fungiert dabei als innere Welt, der das Bewußtsein in der Erinnerung genauso gegenüber gestellt ist wie in der Wahrnehmung der äußeren Welt. Das Gedächtnis ist narrativ strukturiert und beinhaltet die zwei Ebenen des kommunikativen Gedächtnisses und des kulturellen Gedächtnisses.

Das Interesse an der äußeren Welt ist also nicht in erster Linie auf den Überraschungseffekt zurückzuführen, mit dem uns die unerwarteten Ereignisse konfrontieren. Der Überraschungseffekt ist vielmehr nur ein Nebeneffekt der Doppelaspektivität des vom eigenen Körper vorgegebenen Verhältnisses von Innen und Außen. Weil wir unsere Intentionen nicht ungebrochen verwirklichen können – was uns dann tatsächlich auch überrascht –, ist unser Interesse an der Außenwelt gleichermaßen expressiv und dauerhaft. Keine Innenwelt kann ohne Kontakt zur Außenwelt dieses Interesse befriedigen.

Wird aber wie bei der Informationstheorie der Wahrnehmung vom Körper abstrahiert und werden Gegenstände digitalisiert, also in Informationen umgewandelt, erlischt mit dem Verschwinden des Körpers notwendigerweise auch das Interesse an jeder Außenwelt. Und wenn schon nicht das Interesse, dann zumindestens das Wissen darum. Es kommt schließlich dahin, daß wir uns mit Informationen zufrieden geben, wo wir sonst immer aufs Ganze gegangen sind.

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