„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 20. November 2011

Plessner und Merleau-Ponty im Vergleich

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966
Erster Teil: Der Leib: VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache

1. Ähnlichkeiten
2. Unterschiede: Geste, Gebärde und Haltung
3. Unterschiede: Sprache und Sinn
4. Unterschiede: Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur
5. Unterschiede: Einheit der Sinne versus leibliche Konfusion
6. Unterschiede: Wandlung versus Differenz
7. Unterschiede: Emergenz versus Gestalt

In seiner Vorrede zur zweiten Auflage von „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ schreibt Plessner: „Bei Sartre, vor allem in seinen frühen Arbeiten, und Merleau-Ponty finden sich manchmal überraschende Übereinstimmungen mit meinen Formulierungen, so daß nicht nur ich mich gefragt habe, ob sie nicht vielleicht doch die ‚Stufen‘ kannten. ... Konvergenzen beruhen nicht immer auf Einfluß. Es wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt.“ (Plessner 3/1975, S.XXIII)

In der Tat gibt es diese Konvergenzen, aber es gibt eben auch signifikante Unterschiede, insbesondere zu Merleau-Ponty, die sich gravierend auf das Menschenbild, also auf die Anthropologie der beiden Denker auswirken. Ich habe mir zu Vergleichszwecken insbesondere ein Kapitel aus Merleau-Pontys „Phänomenologie der Wahrnehmung“ vorgenommen. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.207-235) Dieses Kapitel ermöglicht es mir, beide Denker hinsichtlich ihrer Überlegungen zum menschlichen Ausdrucksvermögen und seiner Funktion für das spezifisch menschliche Selbst- und Weltverhältnis zu bewerten. Plessners Position, zu der ich mich schon in einigen früheren Posts ausführlich geäußert habe, will ich hier kurz zusammenfassen.

Plessner bestimmt den Menschen als exzentrische Positionalität, die sich aus der Doppelaspektivität seines Körperleibs ergibt, die man auch als eine Grenzbestimmung zwischen Innen und Außen beschreiben kann. Der Körperleib wurzelt in der Gegenüberstellung von zentralem Nervensystem und allen anderen Organen des tierischen und menschlichen Organismus. ‚Körper‘ ist hierbei der Aspekt des Körperleibs, der das Gehirn als Organ unter Organen kontrolliert, und ‚Leib‘ ist der Aspekt des Körperleibs, über den in Form des Körperschemas das Gehirn den Körper kontrolliert. Zugleich bildet der Körper das äußere Moment des Körperleibs, als Bestandteil der Außenwelt, und der Leib das innere Moment des Körperleibs, als Innenwelt.

Ähnlich wie nun die physiologischen Prozesse zwischen Gehirn und Körper zugleich einen Bewußtseinsprozeß beinhalten, in dem der Körper das erste ‚Objekt‘ unserer Weltzugewandtheit bildet, wenden wir uns dann auch den Dingen der äußeren Welt, in Analogie zum Körperleib, zu: der Körperleib und die Dinge der äußeren Welt bilden einen kontinuierlichen Erfahrungszusammenhang. Wir ‚beseelen‘ also auch die ‚toten‘ Dinge und sprechen ihnen ähnlich wie uns selbst ein vom Außen unterschiedenes Inneres zu. Daß nicht alle Dinge der Außenwelt beseelt sind, sondern nur die lebendigen, müssen wir erst lernen.

Für den Menschen bedeutet die Doppelaspektivität von Körper und Leib, von Außen und Innen, einen Bruch, der die „fundamentale() Unmöglichkeit“ beinhaltet, unvermittelt „von einer Erfahrungsstellung“, z.B. als Körper unter Körpern, „in die andere ... zu gelangen“, z.B. als Leib und als Innenwelt (vgl. Plessner 3/1975, S.60): „Ihm (dem Menschen –DZ) ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper und als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären.“ (Vgl. Plessner 3/1975, S.292)

Die mit dieser Doppelaspektivität verbundene exzentrische Positionalität, zugleich Mitte und Peripherie der Welt zu sein, bedeutet nun für das menschliche Weltverhältnis, daß alle seine auf die Welt gerichteten Intentionen nur umwegig und in modifizierter Form verwirklicht werden können. Weder im Sprechen noch im Handeln kann es dem Menschen gelingen, ‚sich‘ oder seine Intentionen in ungebrochener Form zum Ausdruck zu bringen. Das ist wiederum darin begründet, daß er noch nicht einmal sicher wissen kann, wer er selbst ‚ist‘ bzw. was er wirklich selbst ‚will‘. Es gibt keine ursprüngliche Authentizität, sondern nur vermittelte Unmittelbarkeit: „Adäquatheit der Äußerung als einer das Innere wirklich nach außen bringenden Lebensregung und ihre wesenhafte Inadäquatheit und Gebrochenheit als Umsetzung und Formung einer nie selbst herauskommenden Lebenstiefe –, diese scheinbare Paradoxie läßt sich nach dem Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit ebenso verstehen und als bindend für das menschliche Dasein erweisen wie die scheinbare Paradoxie des Realitätsbewußtseins auf Grund der Immanenz.“ (Plessner 3/1975, S.333f.)

Parallelen zu Plessners Bestimmung des Mensch-Welt-Verhältnisses finden sich bei Merleau-Ponty hinsichtlich der Dingwahrnehmung und einiger Aspekte der menschlichen Sprachlichkeit. So heißt es von der „Identität des Dinges“, daß sie „ein anderer Aspekt der Identität meines eigenen Leibes“ sei (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.219f.): „Mit meinem Leibe lasse ich mich auf die Dinge ein, sie koexistieren mit mir als inkarniertem Subjekt ... Durch meinen Leib verstehe ich den Anderen, so wie ich auch durch meinen Leib die ‚Dinge‘ wahrnehme.“ (Merleau-Ponty 1966, S.220) – Auch hier bildet also der Leib, ähnlich wie der Körperleib bei Plessner, das Urmodell jeder Dingbeziehung.

Außerdem kommt Merleau-Ponty der Plessnerschen Doppelaspektivität und der mit ihr verbundenen vermittelten Unmittelbarkeit nahe, wenn er vom „Genie der Äquivokation“ spricht: „Beim Menschen ist – wie immer man zu sagen vorzieht – alles hergestellt oder alles natürlich, insofern kein Wort, kein Verhalten des Menschen ist, das nicht einiges dem einfach biologischen Sein verdankte – und nicht den Sinn des vitalen Verhaltens verschöbe in einer Art Entzug und vermöge eines Genies der Äquivokation, das förmlich zur Bestimmung des Wesens des Menschen dienen könnte.“ (Merleau-Ponty 1966, S.224)

Indem Merleau-Ponty vom „Genie der Äquivokation“ spricht, also die Ambivalenzen des menschlichen Welt-Verhältnisses als positives, schöpferisches Vermögen des Menschen beschreibt, und seinem „vitale(n) Verhalten“, also seiner Intentionalität, vielleicht könnte man noch biologienäher formulieren: seinem ‚Appetit‘ die Erfüllung versagt, deckt sich diese „Bestimmung des Wesens des Menschen“ mit dem Plessnerschen Bruch, der „raumhaft innere(n) Grenze“, der „zeithafte(n) Pause zwischen dem von außen Kommenden und dem nach außen Gehenden“, dem „Hiatus“, der „Leere“, der „binnenhafte(n) Kluft, durch die hindurch auf den Reiz die Reaktion erfolgt.“ (Vgl. Plessner 3/1975, S.245)

So ist auch bei Merleau-Ponty vom „Mangel“ die Rede, den wir mit unseren Bedeutungsintentionen auszufüllen versuchen und in dem wir in „synchrone(r) Modulation“ mit dem je gefundenen Ausdruck im Sprechen und Handeln zu einer „Verwandlung“ unseres Seins gelangen, so daß wir also über unser Sprechen und Handeln nicht dieselben bleiben können, sondern zu etwas Anderem, Neuem werden. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.218) Es gibt – so könnte man daraus schließen – keine Unmittelbarkeit des Mensch-Welt-Verhältnisses, keinen Ursprung, aus dem heraus wir unser Sprechen und Handeln beginnen und auf den hin wir es orientieren könnten.

Soweit deutet also tatsächlich alles auf eine weitgehende Ähnlichkeit der Plessnerschen und Merleau-Pontyschen Anthropologien hin. Doch dieser erste Eindruck, den ja auch Plessner selbst äußert, täuscht. Wir haben es hier lediglich mit einigen Konvergenzen in der Beschreibung des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses zu tun, die sich gewissermaßen aus der ‚Sache‘ ergeben. Aber in der Bewertung dieser Konvergenzen, liegen Plessner und Merleau-Ponty weit auseinander. Wie im nächsten Post gezeigt werden soll, beinhalten beide Anthropologien völlig gegensätzliche Menschenbilder.

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