„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 2. August 2014

Klaus Mainzer, Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data, München 2014

(Verlag C.H. Beck, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, geb. 24,95 €, S.352)

1. Methode und These I
2. Methode und These II
3. Sätze und Formeln
4. Zelluläre Automaten und der Strukturalismus
5. Superpositionen, Metaphern und Intuitionen
6. Semantik
7. Anthropologie

Zum Schluß möchte ich noch einmal auf die Anthropologie zurückkommen, die meine ganze Auseinandersetzung mit Klaus Mainzers Buch begleitet hat. Dabei geht es mir insbesondere um die Berechenbarkeit des Faktors Mensch im „Human Factor Engineering“. Ich will zeigen, daß sich dieser ‚Faktor‘ ganz und gar nicht auf den Anwendungsbereich „integrierte(r) hybride(r) System- und Architekturkonzepte für eine verteilte analoge/digitale Kontrolle und Steuerung, Mensch-Technik-Interaktion und integrierte Handlungsmodelle, soziotechnische Netzwerke und Interaktionsmodelle“ begrenzen läßt, wie Mainzer meint. (Vgl. Mainzer 2014, S.183f.)

Mainzer selbst differenziert im größeren Maßstab zwischen gestaffelten Entwicklugsdynamiken: „Neben der Komplexität ist der Faktor Zeit zu berücksichtigen. Physikalische, chemische, biologische, psychologische und soziologische Theorien operieren auf unterschiedliche Zeitskalen. So erklären sich auch die Naturkonstanten in der Physik.“ (Mainzer 2014, S.225)

So verlegt Mainzer den Beginn der „Laufzeit“ des Planckschen Wirkungsquantums auf eine Zeit noch vor dem Big Bang, während er die Gravitationskonstante erst mit diesem Big Bang auftreten läßt. Danach kam irgendwann die Feinstrukturkonstante hinzu. (Vgl. Mainzer 2014, S.225) Wenn ich Mainzers Ausführungen zu mathematischen Modellen richtig verstanden habe, kann man davon ausgehen, daß für jeden Zeitpunkt des Hinzutretens einer Naturkonstante neue mathematische Modelle nötig werden, die deren Wirkungsweise beschreiben und außerdem auch die Wechselwirkung zwischen diesen Naturkonstanten zu formalisieren versuchen. Da wir es hier mit dynamischen Zuständen zu tun haben, braucht man dazu Differentialgleichungen, die Kurvenverläufe modellieren: „Die Naturgesetze bestimmen häufig Zustandsveränderungen von Systemen. Sie werden daher durch Differentialgleichungen modelliert. Damit wird die Natur berechenbar: Die Lösungen solcher Gleichungen für bestimmte Anfangs- und Nebenbedingungen entsprechen Zuständen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ (Mainzer 2014, S.114) – Wie gesagt: Ich äußere mich hier als absoluter Laie, der wirklich nichts davon versteht, und wahrscheinlich ist alles falsch, was ich hier schreibe.

Ich will mich deshalb auch nicht weiter auf das dünne Eis hinauswagen und es bei diesen vagen Andeutungen belassen. Stattdessen möchte ich direkt auf die wirklich interessanten Berührungspunkte zu meinem anthropologischen Konzept eines anachronistischen Prozesses aus drei verschiedenen Entwicklungslinien, der biologischen, kulturellen und der individuellen Linie, zu sprechen kommen, die nur als Ganzes einen Menschen ergeben. Mainzer fügt nämlich den verschiedenen ‚Laufzeiten‘ der Naturkonstanten noch die biologische Evolution und das menschliche Verhalten hinzu: „Biologische Prozesse der Evolution traten erst mit Beginn des Lebens auf. Verhaltensregeln des Menschen gibt es erst seit wenigen Millionen Jahren. Sie korrelieren mit der Entwicklung des Gehirns.“ Mainzer 2014, S.225)

Mainzers Zusammenfassung der drei Entwicklungslinien brachte mich auf die Idee, eine frühere Graphik (vgl. meinen Post vom 14.04.2014) zu überarbeiten. In dieser neuen Graphik bilden die beiden Entwicklungslinien (Biologie und Kultur), die in der individuellen Entwicklungslinie zusammentreffen und sich in ihr brechen, mathematisch gesprochen ‚Trajektorien‘: „Zeitliche Entwicklungsbahnen (Trajektorien) im Zustandsraum der klassischen Mechanik sind weder vollständig regulär noch vollständig irregulär, sondern hängen empfindlich von den gewählten Anfangsbedingungen ab. Winzige Abweichungen von den Anfangsdaten führen zu völlig verschiedenen Entwicklungstrajektorien. Daher können die zukünftigen Entwicklungen in einem chaotischen System langfristig nicht vorausberechnet werden, obwohl sie mathematisch wohl definiert und determiniert sind.()“ (Mainzer 2014, S.132)


Diese Beschreibung von Trajektorien entspricht ziemlich genau dem, was ich unter ‚Anachronismus‘ verstehe. Möglicherweise könnte es also ein mathematisches Modell zur Berechnung des menschlichen Anachronismusses geben, das von den unterschiedlichen Logiken der drei Entwicklungslinien abstrahiert und lediglich deren Wechselbeziehung modelliert. Das Ganze verhält sich wie ein seinen Ausgangsbedingungen gegenüber äußerst empfindliches Chaos. Dabei muß man wissen, daß das Chaos, mathematisch gesehen, sich dadurch vom bloßen Zufall unterscheidet, daß chaotische Ereignisse wechselseitig aufeinander reagieren, während Zufallsereignisse unabhängig von anderen Ereignissen stattfinden: „Im Unterschied zu chaotischen sind zufällige Entwicklungen prinzipiell (also auch kurzfristig) nicht vorausberechenbar, da (wie z.B. beim fairen Münzwurf) alle Ereignisse unabhängig sind. Der Zufall ist zwar im Alltag eine mathematische Fiktion, da es dort z.B. keine perfekte faire Münze geben kann – solange wir uns in der makroskopischen Physik bewegen. In der Quantenwelt gehören zufällige ‚Quantensprünge‘ zu den Grundgesetzen. Wie wir später sehen werden, ist es daher leichter, das Verhalten eines Menschen mit Big Data vorauszuberechnen als das eines einzelnen Elementarteilchens mit der Quantenmechanik.“ (Mainzer 2014, S.135)

In meinem anthropologischen Konzept bildet also der Anachronismus der drei Entwicklungslinien ein chaotisches System. In meiner Graphik habe ich noch einmal zwischen der individuellen Perspektive und dem Generationenverhältnis unterschieden. In der individuellen Perspektive wirken sich biologische (b) und kulturelle (c) Prozesse nur auf die individuelle Biographie des einzelnen Menschen aus. Wenn sich der Mensch aber reproduziert, wirken sich alle drei Prozesse, (a), (b) und (c) auch auf die nachfolgende Generation aus. Das ist natürlich wiederum nur verkürzt dargestellt. Denn auch Menschen, die sich nicht vermehren, hinterlassen durch ihre Lebensführung ein Erbe, das das künftige Leben nachfolgender Generationen beeinflußt.

In der Graphik habe ich im oberen Teil neben den Naturkonstanten noch die Geologie als eine weitere Entwicklungsdynamik hinzugefügt, die von Mainzer nicht erwähnt wird. Mit ‚Geologie‘ sollen zwar auch, aber nicht nur die im engeren Sinne geologischen Prozesse dieses Planeten gemeint sein. Letztlich soll damit zum Ausdruck gebracht werden, daß sich der ganze Planet wie ein lebendes, quasi ‚intelligentes‘ Wesen verhält, das nicht nur Leben ermöglicht, sondern ganz spezifisch eben auch menschliches Leben. Wir arbeiten zur Zeit daran, das zu ändern und den Planeten in etwas zu verwandeln, das menschlichem Leben nicht mehr zuträglich sein wird.

Ich kann Mainzer deshalb nur mit ganzem Herzen zustimmen, wenn er festhält: „Daher werden wir uns ändern müssen, wenn wir unter komplexen Zivilisationsbedingungen weiter existieren wollen.“ (Mainzer 2014, S.226) – Allerdings habe ich den Eindruck, daß er das nicht auf die von mir gemeinte Notwendigkeit einer menschenfreundlichen ‚Geologie‘ bezieht, sondern auf die Notwendigkeit einer Anpassung des Menschen an die technische Zivilisation, der die, so Mainzer, „Verhaltensprogramme der Steinzeit“ nicht gewachsen sind. (Vgl. ebenda)

In dieser Beziehung zwischen Mensch und Technik, als alleiniger Zweckbestimmung des „Human Factor Engineering“, werden weder Biologie noch Geologie mitgedacht. Und das ist einfach zu kurz gedacht.

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5 Kommentare:

  1. Wie schreibe ich etwas, das ich geschrieben habe, nochmal anders, jetzt aber im ‚Klartext‘? Anscheinend bin ich mal wieder mit meinem Anspruch, mich verständlich auszudrücken, gescheitert. :-(

    Immerhin an dieser Stelle ein leicht verlegener Hinweis auf meinen allerersten, diesen Blog eröffnenden Post vom 21.04.2010. Dieser Post ist ebenfalls mit einer Graphik versehen.

    Vielleicht hilft eine Kurzfassung meines Gedankens: Der Mensch ist als Individuum aus drei Entwicklungsprozessen hervorgegangen: aus der biologischen Evolution, aus der Kulturgeschichte und aus dem, was jeder Einzelne zu jedem Zeitpunkt seines Lebens daraus macht bzw. gemacht hat. Weil wir alle also die ganze Last der Menschheitsgeschichte (und der Geschichte dieses Planeten) mit uns schleppen, bilden wir einen Anachronismus. Das kann man sich ungefähr so vorstellen, als führe ein Schimpanse Auto, einen protzigen BMW oder Audi, – mitten im dichtesten Verkehrsgeschehen auf der Autobahn. Ich denke, das ist von der Realität nicht weit entfernt. ;-)

    So geht es uns Menschen ständig: einerseits irgendwie ‚sapiens‘, andererseits das ganze Säugetiererbe, und jeder von uns versucht, irgendwie damit klarzukommen. Und währenddessen geht die Welt unter, also die ‚Welt‘, in der sowas wie wir Menschen überhaupt möglich geworden ist.

    Ich glaube, das trifft in etwa das, worum es mir in diesem Post geht.

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    1. Danke. Ich fand diesen Blog eigentlich sehr interessant, als ich ihn entdeckt habe. Ich kann nur leider nicht alles so gut verstehen.
      Normalerweise bin ich diejenige, die andere mit Fremdwörtern aus der Fassung bringt, aber offenbar gibt es noch mehr Fachwörter die ich jetzt lernen muss.
      Eigentlich ist dieser Bog sehr abgesetzt von den die ich sonst lese, aber ich wollte mal was Neues entdecken.

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    2. Mein Trick mit Fremdwörtern, die ich nicht kenne (man lernt halt nie aus), ist: einfach ignorieren und sich an das halten, was man versteht, so wenig es möglicherweise auch sein mag. Nur deshalb bin ich mit Mainzer zuendegekommen. Von Mathematik verstehe ich nämlich gar nichts. Naja, ein bißchen schon; bilde ich mir zumindestens ein; sonst hätte ich kaum diese Kommentare schreiben können. – Hauptsache, man läßt sich nicht am denken hindern.

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  2. Ach ja – ich vergaß: Willkommen in meinem Blog!

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