„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 25. August 2014

Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Berlin 2014

(Vorbemerkung: Von Erbe, Sünde und Moderne (S.9-29) / Kapitel 1: Die permanente Flut. Über ein Bonmot der Madame de Pompadour (S.31-53) / Kapitel 2: Dasein im Hiatus oder: Das moderne Fragen-Dreieck De Maistre – Tschernyschweski – Nietzsche (S.54-74) / Kapitel 3: Dieser beunruhigende Überschuß an Wirklichkeit. Vorausgreifende Bemerkungen zum Zivilisationsprozeß nach dem Bruch (S.75-94) / Kapitel 4: Leçons d’histoire. Sieben Episoden aus der Geschichte der Drift ins Bodenlose: 1793 bis 1944/1971 (S.95-221) / Kapitel 5: Das Über-Es: Vom Stoff, aus dem die Sukzessionen sind (S.222-311) / Kapitel 6: Die große Freisetzung (S.312-481) / Ausblick: Im Delta (S.483-489))

Wenn Sloterdijk von einem „modernen Frage-Dreieck“ spricht und dieses in den historischen Persönlichkeiten von Joseph de Maistre (1753-1821), Nikolai Tschernyschweski (1828-1889) und Friedrich Nietzsche (1844-1900) repräsentiert sieht, so ignoriert er damit bewußt jenes Fragedreieck, das auf Immanuel Kant zurückgeht: 1. Was kann ich wissen? – 2. Was soll ich tun? – 3. Was darf ich hoffen? Kants Fragen stehen mitten in der besten Tradition der Aufklärung und sollen klären helfen, was dem Menschen vernünftiger Weise zuzutrauen ist, d.h. was die Möglichkeiten und die Grenzen des gesellschaftlichen Fortschritts sind.

Kants Fragen waren also gleichermaßen vernunftskritisch wie ideologiekritisch gemeint und keineswegs von einem naiven Fortschrittsoptimismus geprägt. Dennoch sind sie für Sloterdijk anscheinend immer noch von einer viel zu optimistischen Grundstimmung geprägt, von einem naiven Vertrauen in die Fähigkeiten des Menschen, sich zu bescheiden und sich in die jeweiligen Notwendigkeiten ihrer Zeit einzurichten. Deshalb läßt er jede der Fragen jeweils von einem anderen als Kant stellen, anders ausformulieren und anders beantworten.

Die Frage, was wir wissen können, überträgt Sloterdijk Joseph de Maistre, dem „ranghöchsten reaktionären Denker()“ nicht nur seiner Zeit, sondern der Neuzeit überhaupt. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.55) Und Sloterdijk kann nicht umhin, der „Kaltblütigkeit“, mit der de Maistre die von Gott abgefallenen Menschen dämonisiert und verdammt, seine Bewunderung zu zollen, und ihm einzig Hegel gleichzustellen, der ähnlich wie de Maistre im Terror der französischen Revolution lediglich eine „autodidaktische Figur beim Übergang des im Staat verkörperten Geistes von der abstrakten zur konkreten Freiheit“ sah. (Vgl. Sloterdijkt 2014, S.62) So sieht auch de Maistre, unter umgekehrtem Vorzeichen, die Leichenberge und Massaker der französischen Revolution als einen pädagogischen Akt Gottes: „De Maistre erwägt in vollem Ernst, Gott habe, indem er die Revolution und alles Folgende duldete, der Welt Gelegenheit bieten wollen, zu erfahren, wie es ihr ergeht, wenn sie ganz sich selber überlassen ist ...“ (Sloterdijk 2014, S.58f.)

Es ist weniger de Maistres Frage: „Wie konnte Gott die Französische Revolution zulassen?“, die mich veranlaßt, ihm die Kantische Frage nach dem Wissenkönnen zuzuordnen. Es ist vielmehr das, was de Maistre als das Teuflische, das Dämonische dieser Revolution verdammt: daß der Mensch es wagt, zu sich selbst ins Verhältnis zu treten. Kants Wissenkönnen ist aufs Engste mit der Fähigkeit des Menschen verknüpft, seine Wahrnehmungen und Erfahrungen mit einem Denken begleiten zu können. Und zwar mit einem Selber-Denken, ohne Anleitung eines anderen!

Diese Fähigkeit zu apperzipieren ist es, die de Maistre verteufelt: „Als diensthabender Dämonologe seiner Zeit war de Maistre davon überzeugt, Menschen agierten nie besessener, als wenn sie vom Bewußtsein ihrer Freiheit erfüllt sind. Folgen sie ihrem unbetreuten Gewissen, hören sie die Stimme des Teufels unverfälscht zu ihnen reden. Meinen sie, im Hier und Jetzt ihrer wahren Natur zu folgen, sind sie schon durch und durch Marionetten der Unterwelt.“ (Sloterdijk 2014, S.56)

Niemand anderes sollte also die Wahrnehmungen und Erfahrungen der gläubigen Christen und Katholiken begleiten dürfen als Gott selbst oder in Stellvertretung ihr Beichtvater. Jede eigenständige Hinwendung zu einem eigenen Wissenkönnen ist eine Abwendung von Gott und Todsünde. Wissen und Glauben, also Unterwerfung, sind eins.

Was Sloterdijk de Maistre zugute hält, ist sein Mißtrauen gegenüber der menschlichen Natur bzw. gegenüber der menschlichen Güte. Wo der Mensch das Gute zu tun glaubt, lebt er letztlich nur „unter noblen Vorwänden“ seine sonst mühsam unterdrückte Neigung zu den „gräßlichsten Gewalttaten“ aus. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.60) Und die Französische Revolution ist eben so ein Geschichtszeichen, das genau das belegt. Wenn der Mensch etwas nicht wissen kann, dann ist es das, was jeweils das Gute ist. Denn das Gute erscheint immer nur als verkleidetes Böses. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.59)

Allerdings ist genau das eine Einsicht, die auch Kant selbst schon gehabt hatte, und insofern nicht besonders originell. Es stellt sich deshalb die Frage, wieso Sloterdijk de Maistre den Vorzug gibt, und da scheint es mir vor allem seine Bewunderung für dessen „Kaltblütigkeit“, sprich Skrupellosigkeit, zu sein, mit der de Maistre gedanklich, im wahrsten Sinne des Wortes, über Leichen geht. Ich frage mich, ob Sloterdijk in de Maistres ‚political incorrectness‘ zu einer Zeit, wo alle anderen dem Fortschritt und der Aufklärung huldigten, seine eigene Haltung als Denker und Autor vorgeprägt sieht. Denn Sloterdijk selbst überschreitet gerne Grenzen des ‚guten Geschmacks‘, wenn man es denn als eine Geschmackssache ansieht, wie man Technologie- und Kulturgeschichte in Beziehung setzt.

Die anderen beiden Autoren lassen sich einfacher und direkter den Kantischen Fragen zuordnen: Nikolai Tschernyschweski mit seinem Buch „Was tun?“ (1809/1821) der Frage, was wir tun sollen (vgl. Sloterdijk 2014, 64-70), und Friedrich Nietzsche der Frage, was wir hoffen dürfen (vgl. Sloterdijk 2014, S.71-74). Dabei wird Tschernyschweskis noch moralisch-bürgerlich gehaltene Antwort auf seine Frage von Lenin in ein politisch-totalitäres Projekt überführt, in dem sich eine „Avantgarde“ von „Berufsrevolutionären“ an die Stelle des Volkes setzt und dieses notfalls gegen seinen Willen zu seinem Glück zwingt. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.68f.) Nietzsche wiederum konterkariert in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ Kants verhaltenen, selbstkritisch gezügelten Optimismus hinsichtlich dessen, was wir hoffen dürfen, mit einem verzweifelten Nihilismus: dem immerwährenden Stürzen ins Bodenlose. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.71ff.)

Sloterdijk schließt das Kapitel mit einigen Überlegungen zum „Stürzen und Gehen“ und zu anderen möglichen Bewegungsformen ab, die die Frage aufwerfen, ob in der überwiegend abwärts gerichteten Mobilitätsdynamik so etwas wie eine „selbstbestimmte() Navigation“ möglich bleibt. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.74)

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