„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 4. November 2013

Sandra Maria Geschke, Doing Urban Space. Ganzheitliches Wohnen zwischen Raumbildung und Menschwerdung, Bielefeld 2013

(transcript, 357 S., 33,80 €)

1. Prolog
2. Methode
(A) Wildes Denken
(B) Kasuistik und Meditation
3. Anthropologie
4. Identitätsräume und Kommunikationsräume
5. Raumbindungsverluste
6. Gentrifizierung
7. Stadtplanung

In diesem Blog habe ich schon einige Posts zur Kasuistik geschrieben. (Vgl. meine Posts vom 07.09. bis 10.09.2013) Die Kasuistik ist ein Methode, menschliche Handlungen und ihre situative Einbettung zu beschreiben und so einer theoretischen Reflexion zugänglich zu machen. Die beschriebenen ‚Fälle‘ bzw. ‚Beispiele‘ gehen allerdings in dieser theoretischen Reflexion nicht auf. Sie behalten ein subjektives Moment, das sich der Theorie entzieht.

Zur Kasuistik gehören narrative Formate aller Art, von Anekdoten und alltäglichen Episoden bis hin zu Literatur und Film. Geschke spricht in diesem Zusammenhang von „Narrationen“, die der „intersubjektiven Selbstverortung“ dienen und „kulturell-gesellschaftliche() Identitäts- und Bedeutungsentwürfe überindividuell“ transportierbar und reflektierbar machen. (Vgl. Geschke 2013, S.176)

Dem Raum als relationaler ‚Struktur‘ (vgl. Geschke 2013, S.55f.) liegt ein subjektives Affizierungsmoment zugrunde, das sich theoretisch nicht rekonstruieren läßt (vgl. Geschke 2013, S.175). Das menschliche Handeln ‚bewegt‘ sich im Raum zwischen den Dingen und bildet so als „Interesse“ ein anthropologisches Prinzip: „Raumbindungen sind folglich Ergebnisse von Inter-esse im wörtlichen Sinne – eine Folge des Dazwischenseins von Menschen und Dingen.“ (Geschke 2013, S.164)

Die subjektive Perspektive als fortwährendes Affiziertwerden in der Bewegung (vgl. Geschke 2013, S.70f., 97f., 167, 227, 261f., 303 u.ö.) bildet zugleich eine Artikulationsbewegung (vgl. Geschke 2013, S.179). Sie kann Zusammenhänge sichtbar machen, die sich konzeptuellen, stadtplanerischen Zugriffen entziehen. (Vgl. Geschke 2013, S.177) Für diese singuläre, atheoretische Artikulation eines paradigmatischen Bewegungssubjekts stehen bei Geschke zwei narrative Figuren: der Flaneur und der Nomade, deren Bewegungsformen im städtischen Raum Geschke anhand von narrativen Medienformaten der Literatur, des Films und der Werbung beschreibt. (Vgl.u.a. Geschkes lesenswerte Analysen der Werbespots von Ballantines und Levis, S.76ff., 251ff.) Flaneur und Nomade liefern so die Modelle und Figuren für das Bewohnen und das sich Beheimaten im städtischen Raum.

Wir haben es hier aber nicht nur mit einer Kasuistik städtischer Raumschaffungsprozesse zu tun. Insbesondere die Figur des Flaneurs zeigt noch einmal die spezifisch phänomenologische Herangehensweise an das Raumphänomen. Husserls phänomenologische Meditationen waren noch Meditationen am Gegenstand. Er nahm die Gegenstände in die Hand, um sie vor seinen Augen oder in seinem Geist hin und her zu drehen und zu wenden, um so ihrer Gestalt bzw. ihrem ‚Wesen‘ auf die Spur zu kommen. Dabei bediente sich Husserl der epoché, der Einklammerung alles dessen, was am realen Gegenstand zufällig war. Für die Teetasse in meiner Hand, über die ich meditiere, sind die aufgemalten Verzierungen und Ornamente nicht notwendig. Also beachte ich sie auch nicht, sondern fokussiere nur die wesentlichen Gestaltmerkmale, die aus einer Teetasse eine Teetasse machen.

Auch der Flaneur versenkt sich in eine Meditation. Allerdings ist er in Bewegung; er bewegt nicht die Gegenstände in seinem Geist, sondern sich selbst im Raum. Um eine Meditation handelt sich sein Flanieren, weil er sich in einem anderen Rhythmus bewegt als die übrigen Stadtbewohner: „... durch seine spezifische Form der entschleunigten, ungerichteten und ziellosen Bewegungen provoziert er permanente Wahrnehmungsänderungen, welche wiederum erst das Wahr-nehmen, Be-greifen und Ver-stehen der Umgebung und ihrer relationalen Bestandteile ermöglichen() ...“ (Geschke 2013, S.211)

Um eine Meditation handelt es sich auch, weil diese ‚epochale‘ Entschleunigung zu einer Blickveränderung führt: zu einer Dehnung des Blicks. (Vgl. Geschke 2013, S.216f.) Das verlangsamte, ziellose Herumschlendern ermöglicht es dem Flaneur – bei dem es sich um einen Heimkehrer an den Ort der Kindheit handeln kann oder um einen Journalisten oder Reiseschriftsteller, der sich mittels Prospekten und Sachbüchern ortskundig gemacht hat –, verschiedene Zeitebenen, Vergangenheit und Gegenwart, aufeinander zu beziehen. Und er kann verschiedene Orte und Stellen der Stadt, die räumlich weit auseinanderliegen, vor seinem geistigen Auge miteinander verbinden.

In seiner entschleunigten Gangart kann er so abseits prachtvoller Kulissen und Denkmäler das scheinbar Singuläre, Marginale und Partikulare fokussieren (vgl. Geschke 2013, S.214, 216) und ähnlich wie der über seine Teetasse meditierende Phänomenologe als die eigentliche, verborgene Gestalt einer Stadt sichtbar machen. Die Geschichten, die der Flaneur den Stadtbewohnern zu erzählen weiß, machen die „inhaltliche() Seite des Gehens“ sichtbar, „dessen Struktur sich phänomenologisch rekonstruieren läßt.“ (Geschke 2013, S.175f.)

Zugleich bedürfen die „dichten Beschreibung(en)“, die Flaneure und Spaziergänger (von ‚spatiieren‘ = Raum schaffen, den Raum erkunden) liefern, der ‚sympraktischen‘ Vervollständigung durch die Stadtteilbewohner und anderer Rezipienten. (Vgl. Geschke 2013, S.223) Diese „Rezipientenbeteiligung“ entspricht der Holzkampschen „Selbstsubsumtion“ des Zuhörers und Lesers von Beispielgeschichten, mittels derer dieser die Plausibilität des Erzählten an seinen eigenen Erlebnissen prüft. (Vgl. meinen Post vom 09.09.2013)

Kasuistik und Meditation bilden also das phänomenale Moment einer neu perspektivierten Strukturanalyse. Sie bilden das Pendant zu einer Infra-Struktur aus stadträumlichen Dingwelten und den zwischen ihnen sich bewegenden, an ihnen interessierten und an ihnen sich orientierenden Menschen. Kasuistik und Meditation machen diese Infrastruktur lesbar und bringen sie zur Darstellung, und indem sie sie zur Darstellung bringen, tragen sie zur erneuerten Verwurzelung und Beheimatung einer bis zur Unerträglichkeit mobilisierten und flexibilisierten Stadtbevölkerung bei.

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