„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. November 2013

Sandra Maria Geschke, Doing Urban Space. Ganzheitliches Wohnen zwischen Raumbildung und Menschwerdung, Bielefeld 2013

(transcript, 357 S., 33,80 €)

1. Prolog
2. Methode
(A) Wildes Denken

(B) Kasuistik und Meditation
3. Anthropologie
4. Identitätsräume und Kommunikationsräume
5. Raumbindungsverluste
6. Gentrifizierung
7. Stadtplanung

Um den Strukturalismus in die Phänomenologie zu integrieren, eignet sich wohl kaum jemand besser als Lévi-Strauss, der immerhin Anthropologe ist und deshalb aus professionsbedingten Gründen gar nicht anders kann, als noch vom Menschen zu sprechen. Sandra Maria Geschke liefert das passende Stichwort, wenn sie mit Verweis auf Lévi-Strauss das „Bricolieren“ als ein „Handlungsprinzip“ bezeichnet, „das die modernen Formen funktionaler Differenzierung ihrer Legitimierungsbasis beraubt.“ (Vgl. Geschke 2013, S.23)

Bei Lévi-Strauss steht die Bricolage für das „Wilde Denken“, das, um seine Ziele zu erreichen, Umwege machen muß, wie ein Bastler, der in seiner Hobbywerkstatt auf die Materialien zurückgreift, die ihm zuhanden sind und die in ihrer Sperrigkeit und Unförmigkeit erst irgendwie passend gemacht werden müssen, bevor er sie wiederverwenden kann. (Vgl. meinen Post vom 18.05.2013) Die funktionale Differenzierung ist in der Hobbywerkstatt noch nicht so ausgereift, und der Bastler kann mit vielem noch etwas anfangen, was heutige Ingenieure in ihrer perfekten Maschinenwelt nur noch als Müll wahrnehmen würden.

Für Geschke steht das „Bricolieren“ darüberhinaus auch für ein postmodernes Bildungskonzept, in dem die „Identitätsbildung“ „in bruchstückhafte Teilprojekte (zerfällt), was bedeutet, dass sich die Bildung von Identität rollen- und situationsbezogen vollzieht, so dass man personenbezogen von diversen nebeneinander existierenden Teilidentitäten respektive im Hallschen oder Krotzschen Sinne von fragmentarischen Identitäten() sprechen muss, deren Andeutungen und Ausprägungen sich situations- und vor allem interaktionsbezogen vollziehen. Auch hier kann von einem individuellen Basteln und Bedienen aus dem gesellschaftlichen Pool an Handlungs- und Seinsmöglichkeiten, existenten Diskursen und verfügbaren Geschichten gesprochen werden.“ (Geschke 2013, S.26f.)

Ähnlich also wie der Bastler in seiner Hobbywerkstatt sein Inventar sichtet, um es zum Reparieren oder Zusammenbauen eines Gerätes wiederzuverwenden, helfen dem postmodernen Menschen „recycelte Ideen und Basteleien“, sich in der globalisierten Welt zu orientieren, sich in ihr einzurichten und sein Leben zu führen. (Vgl. Geschke 2013, S.26) – „Vor diesem Hintergrund“, so Geschke, „wird deutlich, wie basal die im Feyerabendschen Ausruf ‚Anything goes!‘() verankerte Einladung zur permanenten Wiederverwertung bestehender kultureller und gesellschaftlich kursierender Gedanken und Artefakte für die Beschreibung postmoderner Lebensweise ist ...“ (Geschke 2013, S.27)

Wenn Geschke hier vom Ideenrecycling spricht, vom Rekombinieren von Elementen aus der Hoch-, Massen- und Popkultur (vgl. Geschke 2013, S.26), so entspricht dieses Verhalten des postmodernen Menschen genau dem des Wilden Denkens, wie es Lévi-Strauss beschreibt. Auch bei ihm geht es um das Wiederaufgreifen von gerade nicht benutzten, schon einmal gebrauchten mythologischen Versatzstücken, um sie einem Klassifikationssystem einzubauen, dessen Struktur aufgrund demographischer Veränderungen und historischer Ereignisse nicht mehr ausreicht, um die Menschen sozial zu integrieren. Die Verbindung zweier ‚Reihen‘ von Vorkommnissen, der Naturwelt und der Sozialwelt, soll die Sozialwelt stabilisieren und auf Dauer stellen. Die Sozialwelt soll auf diese Weise von der scheinbaren Dauerhaftigkeit der Naturwelt profitieren.

Auch die städtische „Dingwelt“ (Geschke 2013, S.60) soll den postmodernen Menschen vor der Entwurzelung und vor der ständigen latenten Heimatlosigkeit schützen: „In Beziehung zu Dingen zu treten, unterscheidet sich von solchen zu Menschen durch ihre geringere Flüchtigkeit.“ (Geschke 2013, S.97)

Ist es bei Lévi-Strauss vor allem und ausschließlich die Naturwelt, die solche Dauerhaftigkeit gewährleistet, so ist der postmoderne Mensch zu aufgeklärt und vom Evolutionsgedanken durchdrungen, als daß er nicht den Schein dieser Dauerhaftigkeit durchschauen würde. Er setzt sein Vertrauen auf die Stadt und auf die Technik: „Vom Herstellen hingegen ist ... immer dann zu sprechen, wenn der natürlich gegebenen Vergänglichkeit im natürlichen System durch die Schaffung, den Ausbau und die Erhaltung eines beständigen kulturellen Systems eine ‚künstliche Welt von Dingen‘() hinzugeschaffen wird. Hierzu sind das Bauen von Häusern, die Entwicklung von Fahrzeugen oder anderen technischen Hilfsmitteln, aber auch das Malen von Bildern, Töpfern oder Musizieren zu zählen. Die mit jenem Inventar verbundene Schaffung und Erhaltung eines bewohnbaren Raumes entspringt aus dem Bedürfnis des Menschen, seine Existenz und Entfaltung an Gegenständen und bedeutungsbeladenen Elementen aufzuspannen, zu binden und mit eben jener Dingwelt zu verknüpfen.“ (Geschke 2013, S.59f.)

Das menschliche Dauern und das Überdauern haften wie im Wilden Denken am Ding, nur eben nicht am natürlich vorkommenden Ding, sondern am hergestellten Ding. Dazu muß aber eine Bindung zwischen Menschen und Dingen wiederum erst ‚hergestellt‘ werden, im Sinne des erwähnten Bastelns und Konstruierens. So wie die Dinge im Raum verteilt sind, taugen sie nur zu einem mathematisch beschreibbaren „Relativismus“. (Vgl. Geschke 2013, S.55)

An die Stelle relativer „Lagebeziehungen“ sollen nun aber relationale „Narrationen“ (Geschke 2013, S.116) treten, die den Menschen erst in eine Beziehung bzw. in eine „Liaison“ (ebenda) mit den Dingen bringen sollen: „Dass Raumwahrnehmungen relativ und von den Lagebeziehungen der örtlich in Verbindung zueinander stehenden Elemente abhängig sind, jedoch gleichsam auch in vorstrukturierten Gefügen organisiert werden, die das Raumganze als synthetisierbare Einheit wahrnehm- und begreifbar werden lassen, hat Martina Löw dazu veranlasst, den relationalen Raumbegriff zu prägen. ... Raum kann damit stets als eine Artikulation von Wünschen, Gefühlen, Prinzipien, Körperbewegungen und Sichtweisen verstanden werden.“ (Geschke 2013, S.55f.)

Lévi-Strauss spricht in diesem Zusammenhang nicht von „Narration“, sondern von „Klassifikation“. Mit diesem Begriff erweist er sich als Strukturalist, während der Begriff der „Narration“ bei Geschke die Bewegung im phänomenalen Raum ‚artikuliert‘: „Die Narration ist ... eine Artikulationsform kulturräumlicher Bedeutungsgewebe in ihrer pointierten, fokussierten, nicht generalisierten, aber als Episode repräsentationsfähigen Verdichtung. ... Das Erzählen wird vor diesem Hintergrund zu einem Sichtbarmachen der inhaltlichen Seite des Gehens, dessen Struktur sich phänomenologisch rekonstruieren läßt.“ (Geschke 2013, S.175f.) – Auf diese Weise integriert Geschke Lévi-Straussens Strukturalismus für eine phänomenale Strukturanalyse.

Das narrative Element steckt auch schon in Lévi-Straussens Strukturalismus; allerdings kann es sich dort nicht in seiner vollen fiktionalen Farbigkeit entfalten. Lévi-Strauss selbst verweist auf die narrative „Ärmlichkeit“ des Wilden Denkens. (Vgl. meinen Posts vom 19.05.2013) Das In-Beziehung-Setzen von Naturwelt und Sozialwelt geschieht im Wilden Denken auf denkbar schlichte Weise: irgendein Vorfahr oder irgendeine Gottheit kommt irgendwo an einer Wasserstelle oder einem Felsen vorbei und künftig gilt dieser Ort als heilig oder als tabu.

Interessanterweise ist dieses In-Beziehung-Treten zu den natürlichen Dingen mit einem Umherwandern der Vorfahren und ihrer späteren Clanangehörigen verbunden. Genau dies ist auch das Grundprinzip des städtischen „Flaneurs“, der scheinbar ziellos in den Stadtvierteln herumschlendert, dabei diverse Eindrücke sammelt, um sie dann in seiner subjektiven Perspektive zu einem bedeutungsvollen ‚Text‘ bzw. Gewebe zusammenzufügen. Der postmoderne Flaneur tut also auch nichts anderes, als die sogenannten Primitiven; wie etwa die von Lévi-Strauss beschriebene schwangere Frau, deren Blick beim Vorübergehen zufällig auf eine am Wegrand liegende Melone fällt und für die nun diese Melone das künftige Leben ihres ungeborenen Kindes mit ganz speziellen Speisetabus belastet.

Die Nähe der strukturalen Anthropologie von Lévi-Strauss zur Phänomenologie liegt genau in dieser Zufälligkeit des umherschweifenden Blicks, mit der Dinge und Menschen in Beziehung gebracht werden. Geschke spricht hier davon, daß sich der Mensch den Dingen „einschreibt“, so wie auch die Menschen von den Dingen beschrieben werden. (Vgl.u.a. Geschke 2013, S.121) Und hier kommen wir nun zur letzten und letztlich bedenklichen Parallele zwischen dem Lévi-Straussischen Strukturalismus und der Phänomenologie: die Dinge ‚beschreiben‘ den Menschen, bedeutet nämlich, daß der Mensch von den Dingen ‚gesteuert‘ wird. (Vgl. Geschke 2013, S.84, 103)

In Lévi-Sttraussens Sprache bedeutet das, daß die Naturwelt dem Menschen „Nachrichten“ sendet. (Vgl. meinen Post vom 18.05.2013). Indem das Wilde Denken die natürlichen Dinge willkürlich mit sozialen Zusammenhängen assoziiert, entsteht ein „Klassifikationssystem“, das diese sozialen Zusammenhänge mit Nachrichten steuert. So ist für jene schwangere Frau die am Wegrand herumliegende Melone eine Nachricht für ihr ungeborenes Kind, das nun in seinem künftigen Leben durch spezielle Speisetabus gesteuert wird.

Auch bildet die Stadtumgebung so ein willkürliches Klassifikationssystem. Sie bildet das „Ergebnis des Arrangierens und In-Beziehung-Bringens von Elementen in der Welt sowie die daraus resultierende ‚gegenseitige Bedingtheit von Handeln und Struktur‘“. (Vgl. Geschke 2013, S.108) – Diese gegenseitige Bedingtheit von Handeln und Struktur ist eine Weiterentwicklung des Klassifikationssystems, das dem Wilden Denken zugrundeliegt. Im Wilden Denken geht das Nachrichtensenden bzw. das Beschriebenwerden nur in eine Richtung: an die Mitglieder eines durch das Klassifikationssystem definierten Clans. Die Einschreibung in die andere Richtung hatte irgendwann in grauer Vorzeit ein Vorfahr oder eine Gottheit vorgenommen. Auch das nachträgliche Reparieren durch weise alte Männer oder Schamanen, wenn das Klassifikationssystem neuen Anforderungen in einer veränderten Welt nicht mehr gerecht wird, geschieht nur einmalig und wird dann wieder an die nachfolgenden Generationen tradiert.

Geschke überträgt diesen Einschreibungsprozeß auf eine globalisierte Welt und demokratisiert ihn zugleich. Jeder Mensch muß die Wiederbeheimatung in den Identitätsraum seiner Stadt selbst in die Hand nehmen.

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