„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 19. November 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

I. Emergenz einer historischen Sensibilität: Der Dichter, die Mutter, das Kind. Zur romantischen Erfindung der Sexualität (S.9-25), Nietzsche (1844-1900) (S.26-40), Lullaby of Birdland (S.41-59), Der Gott der Ohren (S.60-75), Flechsig/Schreber/Freud. Ein Nachrichtennezwerk der Jahrhundertwende (S.76-90)

1. Verdopplungen und Tautologien
2. Phantasmen statt Phänomene; Imagination statt Bewußtsein
3. Wahnsinn als Wahrheit der technischen Welt
4. Expressivität

Nachdem Kittler auf beeindruckende, überaus anrührende Weise die Geburt der bürgerlichen Seele aus der Stimme der Mutter beschrieben hat (vgl. Kittler 2013/1978, S.9-25 und Kittler 2013/1979, S.41-59), widmet er sich nicht minder einfühlsam und akribisch dem technologischen Prozeß der Entseelung des Menschen (vgl. Kittler 2013/1982, S.60-71).

Dieser Entseelungsprozeß verläuft über die Ohren: „Schließlich sind Ohren im Feld des Unbewußten die einzige Öffnung, die unmöglich zu schließen ist .() ... der unaufhaltsame Fortschritt des Wahnsinns geht über die Ohren, die sich nicht wehren können. ... Kein Wort, keine Mauer, kein Damm zwischen Außen und Innen hält dem Sound stand, weil Sound das Unaufschreibbare an der Musik und unmittelbar ihre Technik ist.“ (Kittler 2013/1982, S.63)

Möglich wird dieser „Sound“ durch die neue „Raumklangtechnik“ (ebenda), wie sie Kittler zufolge erstmals von Pink Floyd umgesetzt wurde und die er minutiös an dem Song „Brain Damage“ beschreibt, der eben nicht nur den Hirnschaden zum Thema hat, den er verursacht, sondern auch die Auslöschung der Seele. (Vgl. Kittler 2013/1982, S.64) Die neue Raumklangtechnik verwandelt den menschlichen Körper in ein Medium, in dem für die Seele kein Platz mehr ist, weil alles nur noch Sound ist. „Endogen erregte Sinne“ verwandeln den Körper schon während eines Traums oder eines durch Drogen hervorgerufenen Rausches in ein Medium „im modernen Sinn“. (Vgl. Kittler 2013/1979, S.30) Dies aber noch „auf physiologische und nicht technische Weise“. (Vgl. ebenda) Auf technische Weise gelingt es aber dem Raumklang.

Kittler beschreibt minutiös, wie mit den Mitteln moderner Aufnahmetechniken die verschiedenen Instrumente und Stimmen einer Musikgruppe übereinandergelegt werden und den Raumklang erzeugen. Jede dieser einzelnen Stimmen wurde mit Stereomikrophonen aufgenommen: „Wenn Klänge, durch den ganzen Hörraum steuerbare Klänge von vorn und hinten, rechts und links, oben und unten auftauchen können, geht der Raum alltäglichen Zurechtfindens in die Luft. Die Explosion der akustischen Medien schlägt um in eine Implosion, die unmittelbar und abstandslos ins Wahrnehmungszentrum selber stürzt. Der Kopf, nicht bloß als metaphorischer Sitz des sogenannten Denkens, sondern als faktische Nervenschaltstelle, wird eins mit dem, was an Informationen ankommt und nicht bloß eine sogenannte Objektivität, sondern Sound ist. ... Hirnschaden-Musik macht alles wahr, was an dunklen Vorahnungen durch Köpfe und Irrenhäuser geisterte.“ (Kittler 2013/1982, S.67)

Wenn nun unter allen diesen Stereoaufnahmen eine einzelne Stimme mono aufgenommen wird, erscheint sie gleichsam als ortlos, und das verwirrte Gehirn hört diese Stimme, als käme sie aus seinem eigenen Innern: „Wenn unter zahllosen Stimmen, die im dreidimensionalen Hörraum zu orten sind, eine und nur eine ohne Koordinaten auftaucht, wird sie unfehlbar im implodierenden Kopf geortet.“ (Kittler 2013/1982, S.69) – Sound tritt an die Stelle der Seele; die Paranoia ist perfekt.

Das ist die „Wahrheit der technischen Welt“, die Gumbrecht in seinem Nachwort mit seinsgeschichtlichen Weihen versieht. – „Der Wahnsinn ist also technologisch und Gott, sehr anders als bei den Christen, ein Gott von Nachrichtenkanälen, wie erst Marconi oder Siemens sie gebaut haben. ... Was läuft ist das Reale des laufenden Jahrhunderts: elektrischer Datenfluß.“ (Kittler 2013/1984, S.88f.)

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