„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 23. November 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

II. Kulturgeschichte als Mediengeschichte: Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgeschichte (S.93-112), Medien und Drogen in Pynchons Zweitem Weltkrieg (S.113-131), ‚Heinrich von Ofterdingen‘ als Nachrichtenfluß (S.132-159), Weltatem. Über Wagners Medientechnologie (S.160-180), Die Stadt ist ein Medium (S.181-197), Rock-Musik – ein Mißbrauch von Heeresgerät (S.198-213), Signal-Rausch-Abstand (S.214-231), Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs: Alan Turing (S.232-252), Unconditional Surrender (S.253-271), Protected Mode (S.272-284), Es gibt keine Software (S.285-299), Il fiore delle truppe scelte (S.300-326)

1. Seele
2. Technik und Geld
3. Intelligente Infra-Struktur
4. Statistisches Generieren von ‚Sinn‘
5. Software oder nicht Software?

Trotz seiner manischen Seelenvernichtungswut, die Kittler in allen seinen Texten ‚zum Ausdruck‘ bringt, wird er die Sehnsucht nach dieser Seele einfach nicht los. Vor allem in seinen letzten Griechenlandstudien taucht die Seele, so Gumbrecht in seinem Nachwort, als Verhältnis von „Eros und Rausch“ wieder auf, das Kittler als „Kontrast-Welt“ zur modernen Naturwissenschaft konzipiert. (Vgl. Kittler 2013, Nachwort, S.396-422: 413) – Kurz gesagt: Kittlers ‚Seele‘ thematisiert seine erotische Sehnsucht nach den „Frauen“ und nach einer Welt, die sie nicht „ausschließt“. (Vgl. Kittler 2013, Nachwort, S.396-422: 412)

Aber dieser Eros ist nicht einfach nur „das Begehren nach ihrem Begehren“ (Kittler 2013/1979, S.46), also ein seelisches Bedürfnis unter vielen anderen. Es ist die Seele selbst, die Kittler, der Seelenmörder, so sehr vermißt. Und diese Seele hat erstaunliche Parallelen zu Plessners Noli-me-tangere und der damit verbundenen Bestimmung der menschlichen Expressivität. Es ist diese Expressivität als ständiges Schwanken zwischen sich-Zeigen und sich-Verbergen, die Kittler als Verhältnis zwischen Frau und Mann beschreibt. Dabei übernimmt die Frau den Part des Verborgenen, des Stummen und ewig Abwesenden: der Muse; und der Mann den Part des red- und schreibseligen Extrovertierten: des Poeten und Dichters.

Das erotische Begehren (vgl. Kittler 2013/1986, S.140) bildet den eigentlichen Inhalt, das „transzendentale Signifikat“ (Kittler 2013/1986, S.142) jedes literarischen Werkes. Es sorgt dafür, daß „Worte nicht sind, was sie sind – nämlich leer“. (Vgl. Kittler 2013/1986, S.142) In einem Märchen verliert ein König, der „von Jugend auf die Werke der Dichter mit innigem Vergnügen gelesen“ hat, seine Tochter, die als Frau mehr musikalisch als literarisch begabt ist, an „Gesänge und Zaubersprüche“. (Vgl. Kittler 2013/1986, S.141f.) Danach erscheinen ihm seine Bücher nur trostlos und fade: „Ohne eine Frau, die als ‚sichtbare Seele‘ aller Gesänge und Zaubersprüche firmiert, fällt das Medium Literatur auf seine trostlose Buchstäblichkeit zurück.“ (Kittler 2013/1986, S.142)

Die Frau ist also die ‚Seele‘ bzw. das transzendentale Signifikat all der bloß buchstäblichen Signifikanten, wie sie (männliche) Autoren in ihren Romanen und Gedichten aneinanderreihen: „Das Idol Frau bildet die Möglichkeitsbedingung klassisch-romantischer Dichtung in ebendem Maß, wie es selber stumm bleibt.“ (Kittler 2013/1986, S.142)

Das gilt in beide Richtungen: eben als schon erwähnte Muse zu Beginn des Schreibakts, wenn dem Heinrich von Ofterdingen alias Novalis ein Kuß seiner die blaue Blume verkörpernden Mathilde ein geheimes Wort einhaucht, das stumm bleibt und dennoch fortan sein Reden und Schreiben bewirkt (vgl. Kittler 2013/1986, S.142f.): „Mithin ‚wird jedes künftige Wort der Versuch sein, das innerlich anwesende, aber selbst nicht fixierte Wort zu wiederholen‘.() Zuerst und zuletzt heißt Dichtung zur Goethezeit: Übersetzung einer elementaren und nie ergehenden Frauenrede in artikulierte Sprache.“ (Kittler 2013/1986, S.143)

Und das gilt eben auch für das druckfertige Werk, das am Ende auf die „Konsumentinnen“ nicht gut verzichten kann. (Vgl. Kittler 2013/1986, S.142)

Das Schreiben und Reden, wie gesagt, ist Teil des Mannes. Das Schweigen und Singen aber Teil der Frau: „‚Da‘ bei Frauen die ‚bloße Rede schon Gesang ist‘ ... und es nur zu ‚kaum hörbaren leisen Worten‘ bringt ..., findet ihre Rede nicht zur Schrift.()“ (Vgl. Kittler 2013/1986, S.143)

Und damit ist das Noli-me-tangere in der Rollenverteilung von Mann und Frau perfekt. Beide sind auf verschiedene Weise expressiv, die eine singend und – denken wir an den Rausch (oder auch nur an die Säuglingssprache, mit der die Mütter ihre Kinder beseelen (vgl. Kittler 2013/1978, S.9-15 und Kittler 2013/1989, S.41-59) – lallend, der andere sprechend und schreibend. ‚Abwesend‘ ist diese Frau bzw. die Seele in zweifacher Hinsicht, einmal geistig, zum anderen leiblich. Weder Frau noch Mann sind hier irgendwie ganz ‚bei sich‘.

Ein vollständiger ‚Mensch‘ könnte sich in Kittlers Texten erst aus beiden zusammen ergeben: aus Frau und Mann. Aber gerade diese Vollständigkeit verweigert Kittler seinem Personal. Wir haben es nur mit „Leuten“ zu tun, und die „reden einfach, ohne daß ihre Namen und Reden gesagt oder gar gespeichert würden.“ (Vgl. Kittler 2013/1986, S.133) Kittlers Phantasie nach einer Welt, die Frauen nicht ausschließt, reicht nicht weit genug, um auch Menschen einzuschließen. Mit diesen Menschen schließt seine Welt allerdings letztlich doch wieder auch die Frauen aus. Schade.

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