„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 2. August 2011

Len Fisher, Schwarmintelligenz. Wie einfache Regeln Großes möglich machen, Frankfurt a.M. 2010 (2009)

1. Schwarmintelligenz als universales und skalenfreies Phänomen
2. Mustererkennung und Gestaltwahrnehmung
3. Mehrheitsentscheidungen und individuelles Urteil
4. Gesellschaftsfähigkeit
5. Bildung und Netzwerk

Wieder einmal begebe ich mich auf das Glatteis eines ‚statistischen‘ Themas, bei dem ich mir als bekennender Laie nur blaue Flecken holen kann. Normalerweise vermeide ich den Intelligenzbegriff, weil ich ihn für viel zu ungenau halte, als daß man damit etwas anfangen könnte. Er suggeriert, etwas auf den Begriff zu bringen, und ist doch nur eine Leerformel, die jeder mit dem Inhalt füllen kann, der ihm gerade behagt. Wir haben es bei der Intelligenz mit einem Kontextbegriff zu tun, was auch seine wörtliche Übersetzung als „zwischen den Zeilen lesen“ nahelegt. Nicht das wörtlich zum Ausdruck Gebrachte, sondern das ungesagt Gebliebene ist es, das wir verstehen müssen, wenn wir uns intelligent verhalten wollen.

Aber eigentlich soll es hier auch gar nicht um den Intelligenzbegriff gehen, sondern um die Schwarmintelligenz. Und da es bei der Schwarmintelligenz wiederum vor allem zum großen Teil um Statistik geht, stellt sich wieder das Problem, welche Rolle die Statistik dabei genau zu spielen hat. Bei der Schwarmintelligenz handelt es sich jedenfalls im Unterschied zur ‚eigentlichen‘, d.h. menschlichen Intelligenz um eine dezentrale Intelligenzform. Sie wird nicht zentral oder individuell gesteuert, sondern sie entsteht spontan (emergent) aufgrund der Kombination einfacher Regeln, die aus dem Verhalten einzelner ‚Individuen‘ – dabei kann es sich um Elemente anorganischer, biologischer oder sozialer Prozesse handeln – über die Interaktion in größeren Gruppen, Mengen oder eben ‚Schwärmen‘ komplexe Muster entstehen lassen. ‚Intelligent‘ werden diese Muster dann, wenn sie über längere Zeit stabil sind und sich an verändernde Umweltbedingungen anpassen können. (Vgl. Fisher 2010, S.18f., 30, 31f., 43, 47f., 121)

Was die komplexen Muster betrifft, entstehen sie spontan aus folgenden drei einfachen Regeln: Abstoßung, Ausrichtung, Anziehung. (Vgl. Fisher 2010, S.40)  Abstoßung und Anziehung führen schon auf atomarer und molekularer Ebene zu komplexen Mustern. (Vgl.Fisher 2010, S.16) Ausrichtung bestimmt darüberhinaus auch das Verhalten biologischer und sozialer Prozesse, also z.B. das Verhalten von Fischschwärmen und Menschenmengen.

Wie fundamental und zugleich universell diese einfachen Regeln sind, zeigt sich z.B. daran, daß sie Newtons Bewegungsgesetzen ähneln: „1. Ein Körper bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit (die auch null sein kann) in dieselbe Richtung, solange keine äußere Kraft auf ihn einwirkt. 2. Sobald eine Kraft auf einen Körper wirkt, wird dieser beschleunigt (das kann eine Veränderung der Geschwindigkeit und/oder der Richtung bedeuten), und zwar direkt proportional zu dieser Kraft und indirekt proportional zu seiner Masse. 3. Jede Reaktion verursacht eine gleich große Gegenreaktion.“ (Fisher 2010, S.64) – Beim ersten Gesetz haben wir es mit der Ausrichtung zu tun, beim zweiten Gesetz mit der Anziehung und beim dritten Gesetz mit der Abstoßung.

Die drei Grundregeln, aus denen die Schwarmintelligenz hervorgeht, gleichen den Newtonschen Bewegungsgesetzen so sehr, daß man die Newtonsche Formel zur Berechnung von Bewegungen sogar anwenden kann, um das Verhalten von Schwärmen zu berechnen. Das belegt noch einmal eindrucksvoll, daß wir es bei der Schwarmintelligenz nicht nur mit einem universalen Phänomen zu tun haben, das auf anorganischer Ebene in atomaren und chemischen Prozessen und dem Verhalten von Flüssigkeiten, auf biologischer Ebene bei Bakterien, Nervenzellen, Insekten, Fischschwärmen und Antilopenherden und auf sozialer Ebene bei Menschenansammlungen vorkommt, sondern auch auf allen Ebenen mit den gleichen mathematischen Formeln berechnet werden kann.

Hinzu kommt, daß diese mathematischen Formeln sogar „skalenfrei“ (Fisher 2010, S.245f.) zu sein scheinen. Sie scheinen unabhängig von der Größe der Menge zu sein. Wichtig scheint vor allem zu sein, daß sich aus welchem Anlaß auch immer eine Gruppe bildet, so daß sich zwischen den einzelnen Elementen der Gruppe ein Muster bilden kann.

Damit sich nun aber aus diesen komplexen Mustern die eigentliche Schwarmintelligenz herausbilden kann, also etwas, das intelligentem individuellem Verhalten ähnelt, bedarf es einer weiteren, also einer vierten Regel: die Zielgerichtetheit. (Vgl. Fisher, S.43) Fischschwärme verfolgen z.B. keine Ziele. Die einzelnen Fische folgen zwar den drei erwähnten Grundregeln der Abstoßung (sie halten Abstand voneinander), Ausrichtung (sie folgen dem vor ihnen schwimmenden Fisch) und der Anziehung (sie entfernen sich nicht von ihren Nachbarn), aber ansonsten wird ihre Fortbewegung vor allem negativ bestimmt durch das Ausweichen vor Hindernissen und Freßfeinden. Positiv kommt vielleicht noch das Suchen nach Futter hinzu. Aber dieses Verhalten bildet – wenn ich das richtig verstanden habe – keine notwendige Regel zum Bilden eines Fischschwarms. Auch Heuschreckenschwärme folgen dem Futter. Aber das ist kein geregeltes, sondern ein chaotisches Verhalten, das sich ganz einfach aus der zunehmenden Verwüstung der leergefressenen Landstriche ergibt, die sie hinter sich zurücklassen.

Wirklich zielgerichtet sind dagegen Bienenschwärme auf dem Weg zu einer neuen Nisthöhle. (Vgl. Fisher 2010, S.43ff.) Und mit dieser Zielgerichtetheit, also als vierter Regel, entsteht die eigentliche Schwarmintelligenz. Mit der Frage, wie die Bienen das machen, daß alle Individuen einem gemeinsamen Ziel folgen, ist die Frage nach der Informationsübermittlung verbunden. Es gibt einige Bienen, die mehr wissen, als die meisten anderen Bienen im Schwarm; d.h. sie kennen den Weg zur Nisthöhle. Sie führen nun aber den Schwarm nicht etwa an, denn dann wären sie Anführer und wir hätten es nicht mehr mit einer dezentralisierten Intelligenzform zu tun, also mit Schwarmintelligenz, sondern mit der Intelligenz von Individuen, nämlich den Anführern.

Die besser informierten Bienen sind vielmehr integraler Bestandteil des Schwarms und fliegen in ihm mit, anstatt ihm vorauszufliegen. (Vgl. Fisher 2010, S.44f.) Das einzige, was die informierten Bienen von der Mehrheit der uninformierten Bienen unterscheidet, ist ihr gradliniger Flug. Die anderen Bienen fliegen im Schwarm durcheinander und hin und her, aber nicht gradlinig in eine Richtung. Durch ihren gradlinigen, auf ein Ziel ausgerichteten Flug bestimmen die wenigen informierten Bienen über die drei Grundregeln der Abstoßung, Ausrichtung und Anziehung das Verhalten der anderen: „Computermodelle zeigen, dass die Führungsrolle dieser informierten Bienen einfach eine Folge ihres Informationsvorsprungs ist. Mit anderen Worten braucht es nur einige wenige anonyme Anführer mit einem klaren Ziel vor Augen und einer klaren Vorstellung davon, wie dieses zu erreichen ist, um den Rest des Schwarms in eine bestimmte Richtung zu lenken – und zwar ohne dass dieser es bemerkt. ... Die zielgerichtete Bewegung des Bienenschwarms ist also ein Beispiel dafür, wie aus lokalen und regelgeleiteten Interaktionen spontan komplexe Verhaltensweisen entstehen.“ (Fisher 2010, S.45)

Einzelne unsichtbare Anführer haben also großen Einfluß auf den Schwarm, was übrigens einiges über die These aussagt, daß der Einzelne angeblich machtlos ist und das Verhalten der Mehrheit nicht beeinflussen kann. (Vgl. meinen Post vom 01.04.2011) – Individuelles Handeln kann nach Fisher jedenfalls „unverhältnismäßig große Auswirkungen auf die anderen und die Gruppe als Ganze haben“. (Vgl. Fisher 2010, S.18f.)

Die Zielgerichtetheit als vierte Regel kann in allem möglichen bestehen und nicht nur darin, daß ein Schwarm eine neue Nisthöhle oder den kürzesten Weg zum Futter sucht, – was wesentlich mehr ist als das, was Heuschreckenschwärme tun, die einfach nur fressen! Bei der Zielgerichtetheit kann es sich auch einfach um ein wissenschaftliches Problem oder um eine einfache Frage handeln, zu der eine Antwort gesucht wird. Für die Algorithmen von Computersimulationen, die Schwarmverhalten imitieren, um solche Probleme zu lösen und Fragen zu beantworten, dienen vor allem Ameisen als Vorbild, weshalb sie auch als „Ameisenalgorithmen“ (Fisher 2010, S.55) bezeichnet werden.

Obwohl Ameisen nicht einmal heimliche Anführer kennen, die das Verhalten des Schwarms orientieren, zeigen sie erstaunlich zielgerichtetes Verhalten, wenn sie z.B. immer den kürzesten Weg zum Futter finden. Dabei folgen sie einfach nur den Pheromonen, die die Ameisen hinterlassen, die am schnellsten von einer Futterstelle zurückkehren. (Vgl. Fisher 2010, S.52) Die Ameisen, die unnötige Umwege zur Futterstelle gelaufen sind, kommen entsprechend später wieder zurück, so daß ihre Pheromonspur weniger stark ist (nur einmal hin, solange sie nicht zurückgekehrt sind) als diejenige der schnelleren Ameisen (einmal hin + einmal zurück).

Wir haben es bei den schnelleren Ameisen also noch nicht einmal mit besser informierten Individuen zu tun, wie bei den Bienen, sondern lediglich mit einem chemischen Stimulus, der die entsprechende Zielgerichtetheit bewirkt.

In Computersimulationen wird nun die Bienenintelligenz und die Ameisenintelligenz kombiniert, indem die „Teilchen“ (Boids (vgl. Fisher, S.41, 56, 58)) Erfahrungen sammeln können über die Wege, die sie im Computerprogramm zurücklegen, so daß sie die zurückgelegten Wege ‚bewerten‘ und mit denen der anderen Teilchen vergleichen können. In solchen Computerprogrammen bilden „virtuelle Ameisen“ „mögliche Lösungen eines Problems“: „Dieser Schwarm von möglichen Lösungen schwirrt dann durch den Raum einer Aufgabe, wobei sich jedes Teilchen daran erinnert, wie es ihm erging und wie gut seine Nachbarn abschnitten.“ (Fisher 2010, S.58)

Was mich in den folgenden Posts besonders interessiert, sind die Bezüge zwischen der Schwarmintelligenz, der Gestaltwahrnehmung und der individuellen Urteilskraft. Wenn dieser vorangestellte kurze Aufriß zur Schwarmintelligenz nicht allzusehr danebenliegt und ich das Phänomen einigermaßen getroffen habe, dann ergeben sich in dieser Richtung doch einige interessante Parallelen und Unterschiede, die uns einmal mehr Hinweise darauf liefern, wie das menschliche Bewußtsein funktioniert.

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2 Kommentare:

  1. Außer beim Menschen, ist bei Tieren das vornehmliche Interesse das Überleben. Wenn sich also der Schwarm daran erinnert wie gut er abgeschnitten hat - hat er überlebt und kann seine Erknenntins später einsetzen. Überleben recht einem Menschlichen Individuum aber nicht und daraus ergeben sich die Probleme!

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  2. Wobei ich mir schon vorstellen kann, dass auch Menschen in Schwarm Situationen - Gedränge auf Volksfesten, Massenpanik etc. ähnlich funktionieren. Ein Individuum das einigermaßen zielgerichtet seinen Weg verfolgt wird andere, ziellos herumlaufende Individuen dazu bringen ihm zu folgen, ohne das sich der steuernde, oder die gesteuerten darüber klarwerden. Ich denke auch wir Menschen beherrschen die Schwarmintelligenz, wir müssen nur in Situationen geraten in denen wir keine bewussten Entscheidungen treffen können oder wollen.

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