„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 14. August 2011

Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009

(Eva Horn, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, S.7-26 / Eugene Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, S.27-68 / Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, S.69-84 / Urs Stäheli, Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, S.85-99 / Eva Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, S.101-124 / Sebastian Vehlken, Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, S.125-162 / Sebastian Giessmann, Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation, S.163-182 / Niels Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, S.183-202 / Eva Johach, Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Industriegesellschaften, S.203-224 / Lucas Marco Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, S.225-251 / Benjamin Bühler, Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, S.253-272) 

1. Statische Muster und lebendige Netzwerke
2. Politik als Kybernetik
3. Der Körperleib und die Zeit an sich
4. Zurück zu einer Metaphysik der zwei Welten?
5. Transgredienz und Emergenz: Konzepte vom Ganzen und seinen Teilen
6. Multitudes und Öffentlichkeit
7. Biologie und Information

Eugene Thackers 2004 in CTheory erschienener Aufsatz ist Eva Horn zufolge „bereits zum vielzitierten Klassiker eines kulturwissenschaftlichen Interesses an Kollektiven ohne Zentrum geworden“. (Vgl. Horn 2009, S.16) Thacker bewegt sich tatsächlich in einem weiten philosophischen Rahmen, der auch die europäische und deutschsprachige Philosophie umfaßt. Das bestärkt mich darin, in den folgenden Posts vor allem die philosophischen Implikationen der Komplexitätsforschung aufzugreifen und zu diskutieren. In diesem Posts soll es dabei vor allem um die Frage gehen, inwieweit Netzwerke der menschlichen Intentionalität ähneln. Dabei denkt man in der Komplexitätsforschung selbst vor allem an Phänomene wie Zielgerichtetheit und Zweckmäßigkeit. (Vgl. Thacker 2009, S.54ff.)

Was bei der Frage der Teleologie bzw. der Zweckmäßigkeit des Schwarmverhaltens vor allem auf den Begriff gebracht werden muß, ist die Differenz zur menschlichen Intentionalität:„Wie kann in einer dezentralisierten Organisation etwas ausgeführt werden? Wie kann das allzumenschliche Wesen von Begehren, Intentionen und Handlungen mit dem entschieden nicht-menschlichen Modell der Schwärme in Einklang gebracht werden?“ (Thacker 2009, S.54)

Um diese Frage zu beantworten, muß meiner Meinung nach die Ähnlichkeit zwischen Netzwerken und Schwärmen auf der einen Seite und menschlicher Intentionalität auf der anderen Seite noch weiter herausgearbeitet werden, als es dem Betrachter mit der offensichtlichen Teleologie und Zweckmäßigkeit von Schwarmverhalten sozusagen ‚in die Augen springt‘. Denn zielgerichtetes Verhalten schreiben wir Phänomenen aller Art schon dann zu, wenn sich etwas bloß in eine Richtung bewegt, die unseren Erwartungen widerspricht, z.B. gegen die Schwerkraft einen Abhang hinauf anstatt hinab. Wenn sich also ein Schwarm von Individuen auf perfekt synchronisierte Weise wie ein einziger „Superorganismus“ (Thacker 2009, S.48) verhält, so ist es nur allzu naheliegend, wenn wir dem Ganzen dieses Schwarmverhaltens Intentionalität zusprechen. Es ist aber letztlich nur ein oberflächlicher Eindruck, dem noch die analytische Tiefe fehlt. In welche Richtung könnte diese tiefer ansetzende Analyse gehen?

An diesem Punkt fand ich es besonders interessant, wie Thacker zwischen statischen und lebendigen Netzwerken unterscheidet, wobei er lebendige Netzwerke im Übergang zwischen technologischen und biologischen Gruppenbildungen verortet: „Auf einer bestimmten Ebene überschneiden sich lebendige Netzwerke und Schwärme.“ (Thacker 2009, S.53) – Thacker führt das Konzept, Netzwerke als statische Muster zu beschreiben, auf die Graphentheorie des Mathematikers Leonhard Euler (1707-1783) und auf Immanuel Kant (1724-1804) zurück, der sich der Eulerschen Graphentheorie für sein Konzept von Politik bediente. (Vgl. Thacker 2009, S.38-42)

Da ich an dieser Stelle auf Thackers Argumentation nicht im Detail eingehen kann (ohne den Rahmen eines Posts zu sprengen), will ich jetzt nur festhalten, daß das Euler-/Kantsche Modell Netzwerke in einem statischen Raum ansiedelt und deren Dynamik, also die Temporalität, ausblendet. Tatsächlich kritisiert Thacker Kants Konzept der Zeit als einer statischen, an körperliche Dinge gebundenem Gefäßzeit, ‚in‘ der etwas geschieht, während ‚außerhalb‘ der Zeit alles stillsteht: „‚Denn diese (Bewegung) setzt die Wahrnehmung von etwas Beweglichem voraus. (...) denn die Zeit selbst verändert sich nicht, sondern etwas, das in der Zeit ist.‘() Somit sind temporale, ephemere Vorgänge wie Bewegung und Veränderung a posteriori und hängen von unseren vorgängigen Anschauungsformen von Raum und Zeit ab: Wandel kann nur durch ein vorgängiges Konzept der Zeit (als verräumlichte ‚Gefäß‘-Zeit) nachgewiesen werden. Angesichts von Eulers und Kants Netzwerk-Konzepten scheint es, dass dynamischer Wandel – also genau das, was ein Netzwerk ausmacht – nur eine Begleiterscheinung ist.()“ (S.41f.)

Ob Thackers Kritik an Kant wirklich zutrifft, will ich an dieser Stelle dahingestellt sein lassen. Wichtig ist vor allem, daß sich Netzwerkwissenschaftler an diesem statischen Modell von Netzwerken orientieren: „Aus der Perspektive der Netzwerk-Wissenschaften ist das Netzwerk im Wesentlichen räumlich, und seine universalen Eigenschaften zeigen sich weniger in seinem dynamischen Funktionieren als vielmehr darin, dass ein Netzwerk statische Muster bildet, die jenseits seiner Temporalität existieren. Tatsächlich sprechen wir von der ‚Topologie‘ von Netzwerken als räumlichen, kartographierbaren, diskreten Entitäten.“ (S.37) – An dieser Stelle der Diskussion zu Netzwerken als statischen Mustern bewegen wir uns im „Modus technologischer Gruppenbildung“ (Thacker 2009, S.57), also auf der Ebene der Informations- und Kommuniktionstechnologie.

Diesem primär statischen, zeitliche Dynamik ausklammernden Modell setzt Thacker nun das Konzept von Bergson eingehen. (Vgl. Thacker 2009, S.42-45) Hier wird die Zeit von den Körpern bzw. Dingen als „Trägern“ von Wandel und damit von Zeit gelöst: „‚Es gibt Veränderungen, aber es gibt unterhalb der Veränderung keine Dinge, die sich verändern: die Veränderung hat keinen Träger nötig. Es gibt Bewegungen, aber es gibt keinen unveränderlichen trägen Gegenstand, der sich bewegt: die Bewegung schließt also nicht etwas ein, was sich bewegt.‘“ (Thacker 2009, S.42)

Mit diesem Konzept einer „Zeit an sich“ (Thacker 2009, S.43) wird es nun möglich, Netzwerke als rein dynamische und – wie Thacker schreibt – lebendige Prozesse darzustellen: „Eine Topologie oder Karte eines Netzwerks ist keine Repräsentation in Echtzeit; sie hat die Zeit auf den Raum reduziert, um uns alle möglichen Knoten und Kanten aufzuzeigen. Netzwerke erzeugen aber auch auf der Ebene unserer alltäglichen Erfahrung – in den Bereichen der Kommunikation, des Transports und des sozialen Lebens – Affekte, die irreduzibel auf Zeit basieren, also dynamisch und zeitlich sind. Netzwerke sind immer lebendige Netzwerke: Netzwerke, die funktionieren, und Netzwerke, die sich in einem Prozess befinden.“ (Thacker 2009, S.41)

An dieser Stelle – im Übergang von statischen zu lebendigen Netzwerken – geschieht etwas wirklich Spannendes: Netzwerke bestehen aus Knoten und Kanten. Als ‚Kanten‘ werden die Verbindungen zwischen zwei Punkten (‚Knoten‘) bezeichnet. In einem statischen Netzwerk sind die Knoten nur Knoten und niemals etwas anderes, und auch die Kanten sind Kanten und niemals etwas anderes. In einem dynamischen Netzwerk finden aber Veränderungen statt: Knoten können innere Zustände haben, die sich verwandeln können, oder Knoten können sich sogar in Kanten verwandeln, während sich Kanten in Knoten verwandeln können. (Vgl. Thacker 2009, S.45f.) Z.B. kann sich eine Person in einem Beziehungsnetzwerk im Laufe ihres Lebens vom Kind zum Erwachsenen zum Greis ändern oder sie kann in Verwandtschaftsverhältnissen verschiedene Rollen übernehmen und gleichzeitig Vater, Sohn, Bruder, Onkel und Neffe sein. Jedesmal ist ein- und derselbe ‚Knoten‘ etwas anderes. Oder ein Mensch kann im Gespräch, an dem er aktiv als Sprecher und Hörer teilnimmt, zum Dolmetscher werden und sich damit vom ‚Knoten‘ in eine ‚Kante‘ verwandeln, wenn z.B. jemand dazu kommt, der die Sprache der anderen Gesprächsteilnehmer – mit Ausnahme des ‚Dolmetschers‘ – nicht kennt.

Oder die ‚Kanten‘ in einem Beziehungsnetzwerk ändern sich: z.B. kann zwischen Mann und Frau aus romantischer Liebe eine Ehe erfolgen, zu der Kinder hinzukommen, so daß sich die Verbindung zwischen Mann und Frau in eine zwischen Vater und Mutter verwandelt. Und schließlich kann die Ehe auseinanderbrechen oder die Kinder werden erwachsen und verlassen das Haus, – und wieder verwandelt sich die Verbindung zwischen Mann und Frau.

Diese Zusammenhänge erinnern an Tomasellos Konzept der Rekursivität. (Vgl. meine Posts vom 25.04.2010 und vom 25.07.2011) Tomasellos Konzept beinhaltet, daß ein Gespräch, eine spezifisch menschliche Kommunikation, nur zustande kommt, wenn wir dazu in der Lage sind, die Intentionalität unseres Gesprächspartners zu antizipieren. Wir müssen wissen, was er weiß, um ihm etwas sagen zu können, was für ihn Bedeutung haben kann. Unser Gesprächpartner muß wiederum wissen, daß wir nicht nur irgendwelche sinnlosen Geräusche produzieren, wenn wir ihn ansprechen, sondern daß wir ihm etwas sagen wollen. Und er muß wissen, daß wir wollen, daß er das weiß.

Nur wenn alles das gegeben ist, unterscheidet sich das Gespräch zwischen zwei Menschen von einem ‚Gespräch‘ zwischen einem Menschen und einem Roboter, dem wir z.B. – nehmen wir an, es handelt sich um eine technische Haushaltshilfe – die Anweisung geben, uns ein Glas Wasser zu bringen. Bei dem Roboter wird niemand von uns voraussetzen können und noch nicht einmal voraussetzen wollen, daß er weiß, daß wir etwas von ihm wollen, noch daß er weiß, was wir von ihm wollen. Er muß nur einfach tun, was wir ihm sagen.

Zwischen der technischen Haushaltshilfe und ihrem Besitzer werden sich also Knoten und Kanten nicht verändern: wir haben es mit einem statischen Muster zu tun. Aber im Gespräch zwischen zwei Menschen werden sich Knoten und Kanten ständig ändern, weil sich ihre intentionalen Zustände im Gesprächsverlauf ständig ändern. Das ist das Prinzip der Rekursivität.

Ein anderes Beispiel ist die Sprache selbst, als grammatisches und lexikalisches System. Hier gibt es ebenfalls ‚Knoten‘ und ‚Kanten‘, nämlich Substantive und Verben. In der Sprache können nun problemlos Knoten zu Kanten werden; z.B. können wir‚Tisch‘ in ‚tischlern‘ umwandeln, oder aus Kanten können Knoten werden, wenn wir ‚laufen‘ in ‚Läufer‘ umwandeln. Diese ständigen Verwandlungsprozesse innerhalb der Sprache entsprechen den ständigen Wandlungen unserer intentionalen Zustände.

Ganz ähnlich zur Rekursivität unserer Intentionalität können lebendige Netzwerke nun ‚Schichten‘ bilden: „Beispielsweise sind Netzwerke weder flach noch eindimensional, sondern können sich überlagern und koexistieren; d.h. Netzwerke können in Schichten (layers) aufgebaut sein, also eine topologische Schichtung zeigen.“ (Thacker 2009, S.46) – Nehmen wir einmal an, daß Thacker hier nicht an eine Hintereinander- oder auch Parallelverschaltung von Netzwerken am Beispiel von Virusepidemien, Schulen, Bahnhöfen und Flugplätzen denkt, sondern an das wechselseitige Überlappen von neurologischen Schaltkreisen. Dann könnten sich zwischen diesen Schaltkreisen bzw. ‚Schichten‘ – etwa wie bei der Seismographie – Resonanzen ergeben; oder es kann, etwa wie zwischen verschiedenen Wasserschichten oder zwischen der Wasseroberfläche und der Luft, zu Lichtbrechungen kommen. Auch dieses Phänomen der Schichtung und der ‚Reflexion‘ im Bereich neurologischer Netzwerke im Gehirn erinnert an Rekursivität und damit an die Art und Weise, wie gemeinsame, soziale Intentionalität funktioniert.

Wenn man bis zu diesem Punkt kommt, an dem lebendige Netzwerke in ihren konnektiven Dynamik der rekursiven Struktur menschlicher Kommunikation und Intentionalität tatsächlich auf verblüffende Weise noch gleichen, stellt sich nun auf neue und gehaltvollere Weise die Frage danach, inwiefern sie sich von ihr unterscheiden. Dieser Frage soll in den folgenden Posts nachgegangen werden.

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