„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 24. Januar 2011

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 7/1988 (1956)

(Über prometheische Scham, S.21-95; Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, S.97-211; Sein ohne Zeit. Zu Becketts Stück „En attendant Godot“, S.213-231; Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit, S.233-308)

1. Bilder, Phantome und Informationen
2. Falsche Lebenswelten (coram publico)
3. Falsche Lebenswelten (Verbiederung)
4. Falsche Lebenswelten (Produktion)
5. Falsche Lebenswelten (Technik)
6. Falsche Lebenswelten (persönliche Verantwortung)
7. Mensch und Natur
8. homo ‚excentricus‘
9. Skizzen zu einer ästhetischen Bildung

Ähnlich wie beim „coram publico“ glaubt Anders mit dem Begriff der „Verbiederung“ einen „Vorgang der Pseudofamiliarisierung“ zu beschreiben, der bislang keinen Namen gehabt hat. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.117) Ich möchte dagegen auch diesen Begriff dem Themenkomplex der Lebenswelt zuordnen, auch hier verbunden mit der Problematik einer Unterscheidung zwischen ihrer notwendigen und nicht-notwendigen Falschheit. Mein Vorschlag für ein entsprechendes Unterscheidungskriterium besteht in einer je individuellen Verhältnisbestimmung von Naivität und Kritik.

Auch Anders stellt seinem Begriff der Verbiederung einen Gegenbegriff zur Seite: den Entfremdungsbegriff, wobei Anders aber lieber von „Verfremdung“ spricht als von „Entfremdung“, da letztere inzwischen im alltäglichen Sprachgebrauch so omnipräsent ist, daß sie schon wieder eine gewisse Vertrautheit ausstrahlt. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.124ff.) Eine entsprechende Zweideutigkeit von Vertrautheit und Fremdheit kennen wir ja auch schon von Plessner, der die Lebenswelt als „von einer verschwimmenden Grenze durchzogen“ beschreibt, „die den Bereich der Vertrautheit von dem der Fremdheit scheidet.“ (Vgl. Lachen/Weinen, S.186) Was bei Plessner aber als ein Phänomenzusammenhang beschrieben ist, in dem Vertrautheit und Fremdheit lediglich als gleichwertige Aspekte einer Lebenswelt auftreten, bildet bei Anders einen Voraussetzungs- bzw. Begründungszusammenhang: Die Verbiederungsphänomene verbergen nur den eigentlichen Entfremdungsmechanismus; d.h. die Entfremdung ist das ursprünglichere, eigentliche Phänomen und die Verbiederung bildet nur eine ihrer Funktionen: „In der Tat besteht ihre (der Verbiederung – DZ) Hauptleistung darin, die Ursachen und Symptome der Verfremdung, deren ganze Misere, abzublenden; darin, den Menschen, den man seiner Welt, und dem man seine Welt entfremdet hat, der Fähigkeit zu berauben, diese Tatsache zu erkennen; kurz darin, der Verfremdung eine Tarnkappe aufzustülpen, die Realität der Verfremdung zu verleugnen, um ihr dadurch die Straße für ihre hemmungslose Tätigkeit frei zu halten ...“ (Antiquiertheit Bd.1, S.124)

„Verbiederung“ geschieht durch den Warencharakter aller täglichen Gegenstände des Gebrauchs und durch die Mediatisierung des täglichen Umgangs über die Rundfunkmedien: „Jede Ware tendiert, so zu sein, daß sie bei Verwendung handlich, auf Bedürfnis, Lebensstil und Standard zugeschnitten, mund- oder augengerecht ist. Ihr Qualitätsgrad ist durch den Grad dieser ihrer Angemessenheit definiert; negativ ausgedrückt: er hängt davon ab, wie gering der Widerstand ist, den sie ihrem Verwendetwerden entgegensetzt; und wie wenig unverarbeitbare Fremdreste ihr Genuß übrigläßt. Da nun auch die Sendung eine Ware ist, muß auch sie in augen- oder ohrengerechtem, in einem optimal genußbereiten, entfremdeten, entkernten, assimilierbaren Zustande serviert werden; also so, daß sie uns als unser Simile, nach unserem Maße Zugeschnittenes, als unsereins anspricht.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.122)

Das Urmodell dieser Welt bildet das „Schlaraffenland“ (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.194f.). In dieser Verbiederungsutopie verliert die Welt jede Widerständigkeit: „Da die Stücke dieser Welt keinen anderen Zweck haben als den, einverleibt, verzehrt und assimiliert zu werden, besteht der Daseinsgrund der Schlaraffenwelt ausschließlich darin, ihren Gegenstandscharakter zu verlieren; also nicht als Welt dazusein. Und damit ist die heutige ‚gesendete‘ Welt beschrieben. Wenn diese in unsere Augen oder Ohren hineinfliegt, soll sie als ‚eingängige‘ widerstandslos in uns untergehen; unsere, ja sogar ‚wir selbst‘ werden.()“ (Antiquiertheit Bd.1, S.195)

Die Rundfunkmedien tragen zu dieser Verbiederung bei, indem sie alle Ereignisse in der Welt, ungeachtet wie nah oder fern sie sind, gebrauchsfertig (arrangiert) in die Wohnstube liefern. Dabei trägt allein schon die Übertragung einer Atombombenexplosion dazu bei, das apokalyptische Ausmaß eines solchen Ereignisses durch Verbiederung zu verdecken. Was grundsätzlich nicht vorstellbar ist, wird durch die bildliche Übertragung vorstellbar gemacht. Dabei muß man nur an das niedliche Format der Fünfziger-Jahre-Bildschirme denken, die noch zusätzlich durch „Proportionsunterschlagung“ (Antiquiertheit Bd.1, S.153) – Anders spricht auch von „synchronem Nippes“ (Antiquiertheit Bd.1, S.152) – zur Verniedlichung der Atombombe beitrugen, um zu verstehen, wie die von Anders beschriebene „Verbiederung“ durch die Rundfunkmedien funktioniert.

Das Problem der Verbiederungsthese besteht darin, daß sie die Entmündigung der individuellen Urteilskraft auf den geschichtlichen Prozeß der Industrialisierung zurückführt, anstatt zu verstehen, daß die Lebenswelt eine genuine Leistung des menschlichen Bewußtseins bildet. Wo immer Menschen lebten, war auch schon immer Lebenswelt! Deshalb ist die Gefährdung der individuellen Urteilskraft nicht primär geschichtlich, sondern anthropologisch begründet. Genauso wie auch das Gegenprinzip, die exzentrische Positionalität – und damit die Möglichkeit der individuellen Urteilskraft, nicht geschichtlich, sondern anthropologisch begründet ist! Deshalb geraten die Darstellungen der Situation des Menschen im 20. Jhdt. (und seiner Enkel im 21. Jhdt.), was seine individuelle Freiheit/Urteilskraft betrifft, hoffnungsloser, als sie ist.

So hält es Anders z.B. für unmöglich, den Verbiederungsprozeß zu durchschauen. Er selbst entstammt ja noch einer Zeit, in der die Welt noch nicht so durchverbiedert gewesen ist, wie die der fünfziger Jahre. Insofern kann er noch den Vergleich ziehen zwischen früher und der Gegenwart. Wer aber in dieser verbiederten Welt aufwächst, kann ihrem entmündigenden Einfluß prinzipiell nicht entgehen. „So wenig wir das bereits gebackene und geschnittene Brot zuhause noch einmal backen und schneiden können, so wenig können wir das Geschehen, das uns in ideologisch bereits ‚vorgeschnittenem‘, in vorgedeutetem und arrangiertem Zustande erreicht, ideologisch noch einmal arrangieren oder deuten; oder von dem, was ab ovo als ‚Bild‘ geschieht, uns zuhause noch einmal ‚ein Bild machen‘. Ich sage: wir können es nicht: denn ein solches ‚zweites Arrangement‘ ist nicht nur überflüssig; sondern undurchführbar.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.196)

Was Anders hier als „zweites Arrangement“ bezeichnet, nennt Plessner mit Bezug auf Nietzsche „zweite Naivität“. (Vgl. Nation, S.174) Es ist nicht einzusehen, warum eine solche zweite Naivität bzw. ein solches zweites Arrangement nicht möglich sein sollte. Anders’ Behauptung setzt voraus, daß wir dabei nur das eine falsche Bewußtsein (falsche Lebenswelt) durch ein anderes falsches Bewußtsein (falsche Lebenswelt) ersetzen, was ja in gewisser Weise auch richtig ist. Aber dieses zweite falsche Bewußtsein ist nicht mehr dasselbe wie das erste. Es hat sich in eine Gegenüberstellung verwandelt. Wir stecken nicht mehr hilflos in ihm drin und fest, sondern wir stehen ihm nun gegenüber und sind beweglich geworden. Und diese Beweglichkeit bildet unsere Freiheit; wir haben wieder eine Wahl. Das Gegenübergestelltsein des Menschen ermöglicht einen kritischen Umgang mit Naivität, und in diesem Umgang macht es keinen Unterschied, ob diese Naivität falsch ist oder richtig. Die falsche Lebenswelt, also die Verbiederung, besteht in der Weigerung, uns zu ihr in ein Verhältnis zu setzen. Ich sage bewußt Weigerung. Denn hier beginnt unsere eigene Verantwortung, und es liegt an uns, ob wir uns ihr stellen oder nicht.

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