„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 17. November 2024

Individuelles Allgemeines: Terry Pratchett

Im ersten Tiffany-Roman „Kleine freie Männer“ (2003/2005) beschreibt Terry Pratchett die Feen-Welt am Beispiel eines Bildes von Richard Dadd (1817-1886): „The Fairy Feller’s Master Stroke“ (Der meisterhafte Schlag des Elfenholzfällers). Ich möchte an diesem Beispiel verdeutlichen, was Literaturwissenschaftler unter dem Begriff des Individuell Allgemeinen verstehen (Schleiermacher/Frank). Dabei geht es mir nicht um Literaturwissenschaft, sondern darum, wie das menschliche Bewußtsein funktioniert.

In einem zweiten Blogpost werde ich mich mit Cornelia Funkes Tintenwelt befassen, die gewissermaßen die Anti-These zu Pratchetts Tiffany-Roman bildet. In ihren vier Romanen „Tintenherz“ (2003), „Tintenblut“ (2005), „Tintentod“ (2007) und „Die Farbe der Rache“ (2023) geht es ebenfalls um das Spannungsverhältnis zwischen Individuellem und Allgemeinem. Im zuletzt erschienenen Roman geht es sogar um die unterschiedliche Weise, wie Bilder (Gemälde) und Texte Individuelles und Allgemeines miteinander vermitteln.

Wenn ich mich jetzt also den „Kleinen freien Männern“ von Terry Pratchett zuwende, dann greife ich vor allem auf meine Erinnerung an Lektüren zurück, die schon viele Jahre zurückliegen, weil nach unserer Trennung alle Scheibenweltromane in den Besitz meiner Ex-Freundin übergingen. Mein Gedächtnis ist leider sehr unzuverlässig, und ich kann mich deshalb für die Genauigkeit meiner Erinnerungen nicht verbürgen. Aber im wesentlichen läuft es auf folgendes hinaus:

Tiffanys kleiner Bruder wird von der Feenkönigin gekidnappt und ins Feenreich verschleppt. Tiffany Weh (engl: Tiffany Aching), ein damals noch 11-jähriges Mädchen und noch keine ausgewachsene Hexe wie in den späteren Tiffany-Romanen, macht sich auf den Weg ins Feenreich, um ihren Bruder zurückzuholen. Feen sind in dieser Geschichte überhaupt nicht nett. Sie sind bösartig und egozentrisch. Und wer sich in ihr Reich begibt, ist ihnen vollständig ausgeliefert, weil es ein Traumreich ist, und dieser Traum wird nicht etwa von den Besuchern geträumt, sondern von der Feenkönigin. Ihre Macht besteht darin, das individuelle Bewußtsein vollständig zu manipulieren, so daß jede, jeder das für wirklich hält, was sie uns glauben macht.

Im Vorgriff auf Funkes „Tintenwelt“ kann man also sagen, daß die Feenkönigin über die Fähigkeiten einer guten Autorin verfügt und Tiffany und ihr kleiner Bruder für die Leserschaft ihrer Bücher stehen. Wer einmal eins ihrer Bücher aufgeschlagen hat, kann es nicht eher aus der Hand legen, als bis es durchgelesen ist.

Allerdings vergleicht Pratchett das Feenreich nicht mit einem Buch, sondern, wie schon erwähnt, mit einem Gemälde von Richard Dadd. Dabei ist das Gemälde selbst für mich an dieser Stelle weniger interessant, als vielmehr dessen Bezug auf das Abenteuer, das Tiffany im Feenreich erlebt. Das Seltsame an diesem Feenreich ist nämlich, daß es flach ist wie ein Gemälde. Es ist bloß zweidimensional. Das zeigt sich daran, daß Tiffany immer dann, wenn sie etwas in der (gemalten) Landschaft genauer zu fixieren versucht, stets nur ein und dieselbe Perspektive einnehmen kann. Sie kann in gewisser Weise nicht um die Dinge ,herumgehen‛. Es gibt nur den wahrgenommenen Vordergrund und dahinter keinen Hintergrund.

Je mehr Tiffany versucht, mehr von den Bäumen und Pflanzen zu sehen, als was sich schon dem ersten Blick anbietet, um so weniger Details werden erkennbar. ,Hinter‛ den Bäumen sind zwar auch noch Bäume, aber die sind nicht so genau und detailreich ausgeführt, wie die davorstehenden Bäume. Sie sollen gewissermaßen nur den Eindruck erwecken, als wäre da noch etwas ,dahinter‛ und alle weiteren Teile der Landschaft ,verschwimmen‛ mit zunehmender Ferne, um Räumlichkeit vorzutäuschen, ohne daß man aber auf diese Horizonte zugehen und dabei neue Dinge entdecken könnte.

Interessanterweise ist das Gemälde von Richard Dadd voller Details, und es wimmelt nur so von phantastischen Figuren, umgeben von dichtem Gebüsch, Gras und Gestein. Vom Himmel ist nur ein kleiner blauer Ausschnitt zu sehen. Aber die erstaunliche Detailfülle des Gemäldes kann Tiffany offensichtlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie es hier nicht mit der Wirklichkeit, sondern nur mit einer Fiktion zu tun hat.

Pratchett hat seiner Tiffany ein Realitätsprinzip eingepflanzt, das sich von keiner Feenkönigin außerkraft setzen läßt. Hexen, so Pratchett, ziehen ihre Macht aus dem Gestein. Je nach dem wo sie leben, sind es die unterschiedlichen dominanten Gesteinsarten, aus denen sie ihre Kraft ziehen. Als besonders mächtig gelten die harten Gesteinsarten, wie etwa Granit. Tiffany lebt aber in den Kreidehügeln, eine weite Graslandschaft, die ausschließlich für die Schafhaltung genutzt wird. Besonders hartes Gestein gibt hier also scheinbar nicht.

Aber als es ihr gelingt, ihren kleinen Bruder aus der Gewalt der Feenkönigin zu befreien, findet sie genau in diesen Hügeln und ihrer ozeanischen Herkunft Schutz vor der Verfolgung durch die Feenkönigin. Gerade das weiche, nachgiebige Kalkgestein verbirgt in sich den härtesten Stein überhaupt: den Feuerstein.

Dies nur, um die Geschichte zu vervollständigen. Mir geht es hier um das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem: um das „Individuell Allgemeine“. Dieses kommt in den Eigenschaften eines Gemäldes zum Ausdruck, wie Richard Dadd es gemalt hat, und zwar in seiner Zweidimensionalität. Alles, was das Gemälde an Figuren und Gegenständen und eben auch Flächen wie den Himmel enthält, bleibt allgemein. Die Gebüsche, die Gräser, die Figuren sind nichts für sich selbst, sondern stehen für etwas anderes. René Magritte brachte das zum Ausdruck, als er eine Pfeife malte und darunter die Worte setzte: „Ceci n’est pas une pipe“ (Dies ist keine Pfeife!).

Alles in dem Gemälde ist allgemein, weil nichts darin etwas für sich selbst ist; weil also nichts darin individuell ist. Individuell sind nur die konkreten Dinge in der realen Welt. Wer sie ansieht und in die Hand nimmt, wird ständig neue Details an ihnen entdecken, und die Details wiederum werden aus einer weiteren Fülle von Details bestehen, und des Sehens und Erlebens wird kein Ende sein. Das ist das eigentliche Kennzeichen aller individuellen Dinge. Auch wenn Richard Dadds Gemälde eine Photographie wäre, wäre die Auflösekraft der Photographie begrenzt. Wenn wir uns nicht vom ersten Augenschein beeindrucken lassen und immer genauer hinsehen, wird sich die scheinbare Fülle der Photographie irgendwann in einzelne Pixel auflösen.

Genau in diesem Sinne ist das Individuelle individuell. Das Allgemeine der malerischen Komposition arbeitet letztlich nur mit der Phantasie des Betrachters, der bzw. die sich durch die Darstellung angeregt fühlt, die ,Lücken‛ im Gemälde auszufüllen. Es ist die individuelle Phantasie, die das Allgemeine zum Leben erweckt. Und genau darin besteht die Macht der Feenkönigin. Sie nimmt unsere Phantasie in ihre Gewalt und verformt sie nach Gutdünken, wie es ihren Launen gerade gefällt. Ohne unsere Phantasie wäre sie machtlos. Was sie erschafft ist eine prächtige Phantasiewelt. Aber wir sind es, die ihr die Macht dazu geben.

Alles, was hier über das Feenreich gesagt wurde, läßt sich natürlich auch auf Bücher beziehen. Ich denke hier an ein anderes Buch bzw. eine ganze Reihe von Büchern, die mir mal ein Freund ausgeliehen hat und die ich also auch nicht in meinem Bestand habe. Der Autor ist Jasper Fforde. Seine Romanfigur ist eine Bücherdetektivin, deren Spezialgebiet darin besteht, in Unordnung geratene Bücherwelten zu retten. In einem seiner Romane, „Der Fall Jane Eyre“, wird z.B. die Hauptfigur, also Jane Eyre entführt, und die Detektivin muß versuchen, sie zu retten.

In einem dieser Romane nimmt die Detektivin die Hauptfigur, vielleicht ist es sogar Jane-Eyre, mit in die Realität, und die Hauptfigur wird von der Detailfülle dieser Realität überwältigt. In ihrer Romanwelt, die ja nur aus Wörtern besteht, kennt sie so etwas nicht. Dort reichen wenige Worte aus, um komplexe Ereignisse und vielfältige Landschaften zu ,skizzieren‛. Denn mehr tun die allgemeinen Worte nicht: Sie skizzieren bloß. Den Rest muß man sich hinzudenken.

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