1. Die Tintenwelt-Trilogie
2. Der vierte Band
Wie schon im letzten Blogpost angekündigt, soll es hier um die Tintenwelt-Trilogie (2003-2007) von Cornelia Funke und um ihr letztes Jahr erschienenes Tintenweltbuch „Die Farbe der Rache“ (2023) gehen. Ich hatte geschrieben, daß es sich, was das Individuelle Allgemeine betrifft, bei den Tintenweltbüchern um eine Antithese zu „Kleine freie Männer“ (2003/2005) von Terry Pratchett handele. Eine solche Antithese sind sie insofern, als wir es bei den Tintenweltbüchern nicht nur mit Skizzen zu tun haben, die die konkrete Welt auf wenige allgemeine Wörter reduzieren. Tatsächlich aber sind sich Funke und Pratchett im Wesentlichen erstaunlich einig.
Das zeigt sich an verschiedenen, über die ersten drei Bücher verteilten Stellen, wo Funke der Tintenwelt ähnliche magische Eigenschaften zuschreibt wie Pratchett der Feenwelt. So denkt z.B. Meggie, Mortimers Tochter, einige Zeit, nachdem sie in die Tintenwelt übergewechselt ist: „Das Leben war viel schwieriger in Fenoglios Welt, und doch schien es Meggie, als spinne seine Geschichte mit jedem anbrechenden Tag einen Zauber um ihr Herz, klebrig wie Spinnenfäden und gleichzeitig betörend schön ... Alles um sie her schien inzwischen so wirklich. Ihr Heimweh war fast verschwunden.“ (Funke 2005, S.270)
Fenoglios Buch übt also auf seine Leserschaft eine ähnliche Macht aus, wie die Feenkönigin über die Menschen, die es, aus welchen Gründen auch immer, in ihr Reich verschlagen hat. Auch der Autor selbst, Fenoglio, gerät eher unfreiwillig in die Tintenwelt, die er selbst erschaffen hat, und merkt bald widerwillig, daß er, obwohl ihr Schöpfer, von seiner eigenen Geschichte gefangen genommen wird:
„Nein, er hing nicht an Fäden wie diese dumme Puppe, mit der Baptista manchmal auf den Märkten auftrat (auch wenn sie ihm etwas ähnlich sah). Nein, nein, nein. Keine Fäden für Fenoglio, ob Wort- oder Schicksalsfäden. Er hatte sein Leben gern in den eigenen Händen und verwahrte sich gegen jede Einmischung ‒ auch wenn er zugab, dass er selbst sehr gern der Puppenspieler war. Es blieb dabei: Seine Geschichte war einfach etwas aus dem Ruder gelaufen. Niemand schrieb sie. Sie schrieb sich selbst! Und nun war sie eben auf diesen dummen Einfall mit dem Riesen gekommen!“ (Funke 2007, S.637)
Es stellen sich auch dieselben Fragen, so etwa der kleinen Hexe im Feenkönigreich, als sie merkt, daß dort alles flach ist, ohne Räumlichkeit und Zeit. Und Meggie fragt sich: „Wie weit reichte Fenoglios Welt? Nur gerade so weit, wie er sie sich ausgemalt hatte?“ (Funke 2005, S.210)
Aber im Zentrum von Funkes Romantrilogie steht doch die von mir erwähnte Antithese zu Pratchett. Die Tintenwelt ist nicht flach. Sie hat eine eigene Tiefe und ihre eigene, vom Autor (Fenoglio) unabhängige Erzählrichtung. Ständig weichen die Figuren von der vom Autor vorgegebenen Handlung ab, und es treten sogar neue Figuren auf, von denen Fenoglio bislang nichts gewußt hatte. So wehrt er sich gegen Elinors Vorwürfe, die ihn für das Desaster, das dem Fortgang der Geschichte droht, verantwortlich macht: „Und warum ist Cosimo dann tot? Habe ich geschrieben, dass Mortimer das Buch so bindet, dass es den Natternkopf bei lebendigem Leib faulen lässt? Nein. War es meine Idee, dass der Schnapper eifersüchtig auf ihn ist und die Hässliche plötzlich ihren Vater töten will? Keineswegs. Ich habe diese Geschichte nur gepflanzt, aber sie wächst, wie sie will, und alle verlangen, dass ich voraussehe, welche Blüten sie treiben wird!“ (Funke 2007, S.520f.)
Es gibt sogar eine Stelle, in der die Tiefenschärfe der Geschichte, ähnlich wie im bloß zweidimensionalen Feenkönigreich, thematisiert wird: „Es tat gut zu reiten, einfach nur zu reiten, während die Tintenwelt sich vor ihnen entfaltete wie ein kunstvoll zusammengelegtes Papier. Und mit jeder Meile zweifelte Mo mehr daran, dass all das wirklich erst durch Fenoglios Worte entstanden war. War es nicht viel wahrscheinlicher, dass der alte Mann nur ein Berichterstatter gewesen war, der von einem winzigen Ausschnitt dieser Welt erzählt hatte, einem Bruchteil, den sie schon lange hinter sich gelassen hatten? Fremde Berge säumten den Horizont und Ombra war weit. Der Weglose Wald schien ebenso fern wie Elinors Garten, die Nachtburg nichts als ein finsterer Traum ...“ (Funke 2007, S.470)
Es gibt also denkwürdige Parallelen und Unterschiede in den von Funke und Pratchett beschriebenen Phantasiewelten, und diese Unterschiede haben etwas mit dem Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem zu tun. Funke legt dabei den Fokus auf die Schlüssellochfunktion der auf Papier niedergeschriebenen Wörter. Zwar reduziert dieses Schlüsselloch die wahrgenommene Welt auf einen winzigen Ausschnitt, aber dahinter verbirgt sich eine ganze unendliche Welt.
Das Seltsamste an der ganzen Konstruktion der Tintenwelt ist, daß das Buch, um das es geht und das den Titel „Tintenherz“ trägt, mit dem ersten Band der Trilogie, der ebenfalls den Titel „Tintenherz“ (2003) trägt, nicht identisch ist. Das Buch, das wir in der Hand halten und das wir lesen, handelt von demselben Buch, das wir gar nicht lesen! Von seiner Geschichte erfahren wir nur indirekt über ihre Figuren, die von Mortimer versehentlich aus ihrer Tintenwelt herausgelesen worden sind. Denn zunächst wechseln ja die Figuren im Buch in die reale, ungeschriebene Welt, bevor seine Leser ab dem zweiten Band in die geschriebene Buchwelt wechseln, die dann aber nicht mehr die Tintenwelt des Buchs ist, um das es im ersten Band geht, sondern inzwischen eine andere, veränderte Welt.
Bevor ich jetzt darauf eingehe, wie dieser Wechsel von einer Welt zur anderen funktioniert, versuche ich die Frage zu beantworten, was es eigentlich mit dieser seltsamen Erzählkonstruktion auf sich hat. Wieso schreibt Funke ein Buch, in dem es um ein Buch gleichen Titels geht, dessen Geschichte nirgendwo niedergeschrieben ist und nur ausschnittsweise aus der Figurenperspektive ,erzählt‛ wird? Ein Buch, das also gewissermaßen ein Schlüsselloch in einem Schlüsselloch ist?
Ich denke, das macht insofern Sinn, als jetzt im Band „Tintenherz“ das Buch „Tintenherz“ zur Hintergrundgeschichte wird, zu der die verschiedenen Figuren, stellvertretend für die Leserinnen und Leser, unterschiedliche Perspektiven beisteuern können und so die ganze Geschichte jetzt offen dafür wird, wie das ,Ganze‛ sich weiterentwickelt, weil wir Leserinnen und Leser, die das Originalbuch nicht gelesen haben, ja nicht wissen können, was dieses Ganze eigentlich genau ist. Das Originalbuch kann jetzt also jedes mögliche ,Ende‛ haben, weil wir dieses Ende nicht kennen! Und aus demselben Grund kann es auch alle möglichen Welten beinhalten. Wie Fenoglio zu Meggie sagt: „Glaub mir: Diese Geschichte ist ein Labyrinth!“ (Funke 2007, S.468)
Was tritt jetzt an die Stelle des Originals, das wir nicht kennen? Unsere Phantasie! Für diese Phantasie stehen der Autor, Fenoglio, und die verschiedenen Vorleser, die mit ihren Stimmen seinen Worten Leben verleihen und so den Verlauf der Geschichte beeinflussen Und letztlich wir Leser, die sie weiterspinnen. Bezeichnender Weise ,vergißt‛ Fenoglio an einer Stelle im dritten Band das den Unterschied markierende Präfix, wenn er sich über seine finanziell prekäre Situation in der Tintenwelt beklagt: „Er hätte einen Leser gebraucht, um seine Worte in klingende Münzen zu verwandeln, und er war nicht sicher, ob Meggie oder ihr Vater ihm für solch prosaische Ziele ihre Zunge geliehen hätten.“ (Funke 2007, S.56)
Es hätte natürlich „Vorleser“ heißen müssen, aber Fenoglio denkt stattdessen an einen „Leser“. Diese Unachtsamkeit ist für jemanden, dessen Eitelkeit als Autor solche Ausmaße annimmt wie bei Fenoglio ‒ er platzt fast vor Stolz über seine von ihm erschaffene Welt ‒, keine Kleinigkeit. Nie würde er zugeben, daß er als Autor von gewöhnlichen Leserinnen oder Lesern abhängig wäre.
Tatsächlich aber ist er abhängig: und zwar von Vorlesern! Denn Fenoglio kann zwar Geschichten schreiben, aber er kann sie nicht vorlesen. Er kann sie nicht so vorlesen, wie es z.B. Mortimer kann, oder Meggie, oder Darius, oder ,Orpheus‛ (wie er, ehemaliger Leser der Tintenwelt und nicht minder eitel als Fenoglio, sich selbst gerne nennt). Alles übrigens Menschen aus der ungeschriebenen, realen Welt! Unter den Figuren der Tintenwelt befinden sich keine Vorleser, die die Gabe haben, ihre Welt real werden zu lassen bzw. den weiteren Verlauf ihrer Geschichte zu manipulieren. Mit einer Ausnahme! Aber dazu gleich mehr.
Zunächst einmal scheint die Wirkmächtigkeit der menschlichen Stimme also dazu in der Lage zu sein, den Wechsel von Figuren aus der Geschichte in die reale Welt und umgekehrt den Wechsel von Leserinnen und Lesern aus der realen Welt in die Geschichte zu ermöglichen. Die Stimme steht also für die Macht der Phantasie, und letztlich ist es diese Phantasie, die die Geschichte ,wachsen‛ läßt, wie es immer wieder heißt, sowohl zur Freude wie auch zum unendlichen Leid der vom gnadenlosen Fortgang der Geschichte Betroffenen.
Nicht zuletzt Fenoglio, der Autor, leidet unendlich darunter, seine Macht über die Geschichte mit anderen teilen zu müssen. Nicht einmal er selbst kann die eigene, von ihm geschriebene Geschichte, verändern, seit er sich ebenfalls in ihr befindet.
Immerhin bleibt Fenoglio noch ein Vorteil: es reicht nicht, einfach nur irgendetwas vorzulesen. Was die Geschichte verändern soll, muß zu allererst gut geschrieben sein. Ohne einen gut geschriebenen Text, hat auch der beste Vorleser keine Macht über die Geschichte. Nur Orpheus, ehemaliger Leser von „Tintenherz“ und ab dem dritten Band in die Tintenwelt hinübergewechselt, hat die Gabe, gute Texte zu schreiben und sie so vorzulesen, daß sie sich verwirklichen und die Geschichte verändern. Dabei bedient er sich aber eines Tricks. Da er das letzte existierende Exemplar von „Tintenherz“ besitzt, stiehlt er sich die nötigen Wörter aus dem Buch und setzt sie neu zusammen. Also kann er gar nicht gut schreiben. Er ist bloß ein Epigone.
Wenn aber gute Vorleser wie der Buchbinder Mortimer oder seine Tochter Meggie aus einem gut geschriebenen Text vorlesen, dann wird das, was sie vorlesen, auch Wirklichkeit. Und es ist Fenoglio, der ihnen diese Texte liefert, denn ihm geht es, trotz seiner ganzen Eitelkeit, doch letztlich immer nur um seine Geschichte, und er erklärt dann auch Elinor, ebenfalls aus der ungeschriebenen Welt in die Tintenwelt gewechselt, worum es beim Schreiben geht:
„,Jede gute Geschichte verbirgt sich hinter einem Gewirr von Fragen, und es ist nicht leicht, ihnen auf die Schliche zu kommen. Hinzu kommt, dass diese hier ihren ganz eigenen Kopf hat, aber ‒‛, Fenoglio senkte die Stimme, als könnte die Geschichte sie belauschen, ,wenn man ihr die richtigen Fragen stellt, flüstert sie einem all ihre Geheimnisse zu. So eine Geschichte ist ein sehr geschwätziges Ding.‛“ (Funke 2007, S.466f.)
Aber es gibt noch andere Konkurrenz für die beiden Antagonisten Fenoglio und Orpheus: den Tod! Der Tod erweist sich in der Trilogie, also in den ersten drei Büchern, als eine unabhängige Instanz. Ähnlich wie Tiffany in „Freie kleine Männer“ über ein eigenes Realitätsprinzip verfügt, den Feuerstein, so bildet auch der Tod in Gestalt der „Weißen Frauen“ ein Realitätsprinzip, das gleichermaßen für die geschriebene wie für die ungeschriebene Welt gilt. Und der Tod ist eine weibliche Stimme! (Vgl. Funke 2007, S.261)
Am Ende des dritten Bandes, also am Ende der Trilogie, erscheint die Stimme in Gestalt einer weißen Frau und schreibt eine eigene, letztgültige Version von diesem Ende auf ein Blatt Papier, das sie Meggie überreicht. Farid fragt sie: „Kannst du es lesen?“ ‒ Meggie nickt und sagt: „Geh zum Schwarzen Prinzen und sag ihm, er kann sein Bein schonen ... Wir bleiben alle hier. Das Lied über den Eichelhäher ist geschrieben.“ (Funke 2007, S.707)
Kein Wort davon, daß Meggie die Worte des Todes noch vorlesen müßte. Sie haben ihre eigene Geltung, die über die Macht des Autors Fenoglio und eines Vorlesers hinausreicht, denn an der weiter oben zitierten Stelle heißt es, daß der Tod „das Land regiert, in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen“. (Vgl. Funk 2007, S.261)
Das ist mehr als bloße Lyrik. Tatsächlich spricht Funke hier ein Thema an, das sie nicht in Ruhe lassen und 16 Jahre später veranlassen wird, noch einen vierten Band zu schreiben. Es geht bei diesem Thema um die Frage, was es bedeutet, über ein Land zu regieren, in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen. Funke hatte mit ihrer Trilogie noch keine zufriedenstellende Antwort auf des Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem gefunden. Damit werde ich mich im nächsten Blogpost befassen.
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