„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 21. November 2024

Individuelles Allgemeines: Cornelia Funke

1. Die Tintenwelt-Trilogie
2. Der vierte Band

Im letzten Blogpost hatte ich zum Schluß geschrieben, Cornelia Funke habe in ihrer Tintenwelt-Trilogie noch keine, auch sie selbst zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem gefunden, weshalb sie 16 Jahre nach Erscheinen des dritten Bandes einen vierten Band, „Die Farbe der Rache“ (2023), geschrieben habe. Wenn ich in diesem Zusammenhang immer vom Individuellen Allgemeinen schreibe, muß ich allerdings festhalten, daß ich wiederum diesen Begriff von Manfred Frank („Das individuelle Allgemeine“ (1977)) übernommen habe; allerdings aufgrund eines unmittelbaren Verständnisses, und nicht aufgrund einer gründlichen Lektüre des Buches, denn ich glaubte sofort zu wissen, worum es Frank in diesem Buch geht. Manfred Franks Buch wimmelt von Bandwurmsätzen, die sich über halbe Buchseiten erstrecken und zudem noch mit mal in Klammern, mal mit zwischen Gedankenstrichen gesetzten Parenthesen angereichert sind. Hinzu kommen Fußnotenessays, die nicht selten mehrere Buchseiten beanspruchen. Solche überfrachteten Texte zu lesen, überfordert mich einfach.

Letztlich geht es bei Manfred Frank um die Wechselbeziehung zwischen dem lesenden Menschen und dem gelesenen Text. Ich wähle meine Worte mit Bedacht; denn tatsächlich beschreibt Manfred Frank diese Wechselbeziehung gelegentlich auch als eine Beziehung zwischen Ich und Du, und zwar ähnlich wie ich mit Bezug auf die primäre Zweiheit von Personen. Das Individuelle in der Beziehung zwischen dem Menschen und dem Text ist bei Frank aber immer der lesende Mensch, und der gelesene Text ist das Allgemeine, so daß beide erst in der Wechselbeziehung zum individuellen Allgemeinen werden.

Die Antwort, die Cornelia Funke mit ihrem vierten Band auf diese Frage nach dem Verhältnis zwischen dem lesenden Menschen und dem gelesenen Text gibt, wird in den vorangegangenen drei Bänden der Trilogie schon angedeutet, und ich will diese Stellen hier kurz referieren. So hält zum Beispiel Darius, der über die Gabe des Vorlesers verfügt, gegenüber Elinor fest, daß es beim Vorlesen vor allem auf die Prosodie, auf die Sprachmelodie des Vortrags ankommt: „Es muss Musik aus den Wörtern kommen.“ (Funke 2005, S.138)

Nur so, aus der Prosodie des Vortrags, könne eine ganze Welt entstehen, zu der man dann als Leserin, als Leser Zutritt finden könne. (Vgl. Funke 2005, S.138) Ein anderer Vorleser, der Antagonist von Fenoglio und sich zum Hauptbösewicht der Trilogie entwickelnde ,Orpheus‛, hat sich deshalb, eitel wie er ist, nach dem mythologischen Sänger benannt, der der Sage zufolge nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Pflanzen und sogar Steine mit der Macht seines Gesangs verzaubern konnte.

Fenoglio, der eigentliche Autor der Tintenwelt, der aber selbst nicht über die Gabe des Vorlesens verfügt, wendet sich, nachdem er in die von ihm selbst geschriebene Tintenwelt gewechselt ist, dem Schreiben von Liedern zu, die er den Spielleuten auf den Jahrmärkten zur Verfügung stellt. Seine Begründung für diese neue Vorliebe für das gesungene Wort beinhaltet eine Abwendung vom bloß geschriebenen Wort:

„... Worten kann nichts Besseres passieren, als von einem Spielmann gesungen zu werden! Eine Geschichte, die stets ein anderes Kleid trägt, wenn man sie wiederhört ‒ was gibt es Besseres? Eine Geschichte, die wächst und Blüten treibt wie ein lebendiges Ding! Seht Euch dagegen die an, die man in Bücher presst! Gut, vielleicht leben sie länger, aber sie atmen nur, wenn ein Mensch das Buch öffnet. Sie sind Klang, zwischen Papier gepresst, und erst eine Stimme erweckt sie wieder zum Leben! Dann sprühen sie Funken, Balbulus! Frei wie Vögel werden sie, die in die Welt hinausflattern.“ (Funke 2005, S.283f.)

Das gesungene Wort, das Lied, ist schon ein Vorschein auf die Lösung, die Funke im vierten Band findet, insofern hier eine Symbiose zwischen dem Menschen und seinem nun nicht mehr geschriebenen, sondern gesungenen Wort angedeutet wird, das den Menschen auf eine vollkommenere Weise berührt, als es der mündliche Vortrag des Vorlesers vermag.

Und dann haben wir da noch Balbulus, den Illuminator. Als solcher ist er kein Autor, aber er ist ihm gleichgestellt, denn er versieht die geschriebenen Wörter mit Bildern, die zum einen den Seitenrand schmücken, zum anderen sogar in den Text selbst übergreifen und einzelne Buchstaben am Seitenanfang in Bilder verwandeln. Der mit der Gabe des Vorlesens ausgestattete Buchbinder Mortimer ist fasziniert von diesen Illuminationen:

„Wie viele Stunden seines Lebens hatte er damit verbracht, die Kunst der Illuminatoren zu betrachten, tief über fleckigen Seiten gebeugt, bis ihn der Rücken schmerzte, mit einem Vergrößerungsglas jedem Pinselstrich folgend und sich fragend, wie man solche Wunder auf Pergament bannen konnte ‒ all die winzigen Gesichter, all die phantastischen Geschöpfe, Landschaften, Blumen ... winzige Drachen, Insekten, so echt, dass sie von den Seiten zu kriechen schienen, Buchstaben, so kunstvoll verschlungen, als hätten die Linien erst auf den Seiten zu wachsen begonnen.“ (Funke 2007, S.95)

Hier deutet sich schon an, daß diese Bilder etwas vermögen, was sonst nur das durch den Vorleseakt vermittelte geschriebene Wort vermag: Figuren lebendig erscheinen zu lassen. Auch das ist ein zentrales Thema des vierten Bandes.

Im vierten Band sinnt Orpheus, der im dritten Band mit seinen ehrgeizigen Plänen, die Macht über die Tintenwelt an sich zu reißen, gescheitert ist, auf Rache. Der Hauptverantwortliche für sein persönliches Scheitern ist in seinen Augen Staubfinger, der, als Orpheus noch Teil einer nicht geschriebenen, wirklichen Welt gewesen ist, seine Lieblingsfigur in dem imaginären Originalbuch „Tintenherz“ gewesen war. Inzwischen ist Orpheus aber die Gabe des Vorlesens abhanden gekommen, so daß er keinen Einfluß mehr auf den Fortgang der Tintenweltgeschichte nehmen kann.

Orpheus entdeckt jedoch, daß Bilder über dieselbe Macht verfügen wie Wörter, und sie haben den Vorteil, daß sie nicht vorgelesen werden müssen. Es scheint zunächst, als hätten Bilder und die menschliche Stimme nichts miteinander zu tun. Aber diesem scheinbaren Vorteil steht ein Nachteil gegenüber, nämlich daß, ähnlich wie bei Texten, nur gute Bilder diese Macht haben; Bilder also, die das, was sie abbilden, möglichst lebensecht abbilden. Außerdem bedarf es besonderer Farben, mit einer magischen Farbigkeit, wie sie nur eine der weisen Frauen im Wald herzustellen vermag. Unter diesen magischen Farben wiederum gibt es eine besonders gefährliche Farbe, die Farbe der Rache ‒ denn mit ihr will sich Orpheus an Staubfinger rächen ‒, die die Macht hat, Menschen und Figuren (zwischen denen es in der Tintenwelt keinen Unterschied gibt), in ein Bild zu bannen.

Bei dieser Farbe handelt es sich um ein farbloses Grau, das die gebannten Menschen in einen todesähnlichen Zustand versetzt. Orpheus gelingt es, sich in den Besitz dieser Farben zu bringen und den Illuminator Balbulus mit ihnen zu bestechen. Balbulus geht es vor allem um die richtigen Farben, die, flapsig ausgedrückt, farbigen Farben, mit denen er unübertreffbar vollkommene Bilder malen will. Orpheus stellt sie ihm unter der Bedingung zur Verfügung, daß er Bilder von allen Personen malt, die Staubfinger liebt, insgesamt zehn Personen, aber diese Personen selbst sollen mit der grauen Farbe gemalt werden. Balbulus soll auch Staubfinger malen, aber farbig, denn mit ihm hat er noch einen besonderen Racheplan.

Ich will jetzt nicht die ganze Geschichte nacherzählen. Ich muß nur noch festhalten, daß die Bilder zu einem kleinen, schmalen Buch zusammengebunden werden, so daß die grau gemalten Personen wieder in einem Buch gefangen sind, das aber kein geschriebenes Buch ist, sondern eben aus Bildern besteht. Am Ende, nachdem Orpheus endgültig besiegt ist und alle in den Bildern gebannten Personen wieder befreit worden sind, bindet Mortimer das Buch neu und fügt jedem Bild zwei neue, leere Blätter hinzu; also insgesamt zwanzig neue Blätter mit vierzig neuen Seiten. Diese soll seine Tochter Meggie, die sich inzwischen selbst zu einer fähigen Autorin entwickelt hat, mit Texten versehen, die die Geschichte der auf den Bildern abgebildeten Personen, die nun nicht mehr grau sind, sondern farbig, in Worte übersetzen.

Wie aber werden die gebannten Personen aus den Bildern befreit? Hier kommt wieder die menschliche Stimme ins Spiel. Ayesha, eine junge Frau, die mit der Gabe des Gesangs gesegnet ist, singt die Gebannten aus den Bildern heraus. Musik hatte auch schon in der Prosodie des Vortrags eine Rolle gespielt. Hier aber handelte es sich um eine Musik, die den Worten selbst entsprang. Ayeshas Lieder hingegen sind wortlos: „Das Lied hatte keine Worte, und doch sprach es von allem, was die Welt ausmachte“. (Funke 2023, S.310) ‒ Das erinnert an den Schluß des dritten Bandes, wo der Tod selbst das Schreiben in die Hand nimmt und der Tintenweltgeschichte ein ihr angemessenes Ende setzt. (Vgl. Funke 2007, S.707)

Über den Tod heißt es dort, daß ,sie‛ ein Land regiert, „in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen“. (Vgl. Funke 2005, S.261) ‒ Ganz ähnlich sagt Ayesha über die von dem Illuminator gemalten Bilder: „Die Bilder in diesem Buch sind wunderbar ... Der Illuminator, der sie gemalt hat, muss ein großer Künstler sein. Man entdeckt immer wieder etwas Neues, und jede Einzelheit ist so lebendig. Bilder sagen mehr als Worte, denkt ihr nicht? Denn sie wissen auch von den Dingen, für die es keine Worte gibt.“ (Funke 2023, S.310f.; Auslassung von DZ)

Diesen mit Worten nicht beschreibbaren Bildern ‒ heißt es nicht, daß ein Bild mehr ,sagt‛ als tausend Worte? ‒ entspricht der wortlose Gesang Ayeshas. Zu jedem der Bilder in dem kleinen Buch, zu jeder der darin gebannten Personen, singt sie ein nur auf die jeweilige Person passendes wortloses Lied. Denn einem Bild, in dem jede Einzelheit so lebendig ist, daß es auch noch so viele Wörter nicht erfassen können, kann nur die Musik, die keine Worte enthält und aus der doch alle Worte kommen, gerecht werden.

Das war wohl der tiefere Sinn über das wortlose Land des Todes am Ende des dritten Bandes. Und darauf ist Funke nun mit ihrem vierten Band noch einmal zurückgekommen.

Die Bilder und das Buch, in das sie gebunden sind, zusammen mit den zusätzlichen vierzig vorläufig leeren Seiten, ist Funkes Antwort auf die Frage nach dem Individuellen Allgemeinen. Das neu gebundene Buch wird zu einem Archiv, in dem die Erinnerung an die außerhalb des Buches weiterlebenden Personen für immer bewahrt bleiben soll. Natürlich können vier Seiten Text nie die ganze Geschichte eines konkreten Menschen erfassen. Sie bleiben allgemein. Doch kann ein gut geschriebener Text (allgemein) im Verbund mit einem Bild (individuell) die Erinnerung daran bewahren, was einmal lebendig gewesen war. So wird das Buch auf individuell allgemeine Weise zu einem unverzichtbaren Archiv, das alles, was geschehen ist und möglicherweise geschehen wird, bewahrt, und nicht zu einem Gefängnis.

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