So stieß ich in der Einleitung sogar erstmals auf eine Definition des individuellen Allgemeinen: „Die Sprache ist somit ein individuelles Allgemeines. Sie besteht als universelles System nur aufgrund prinzipiell widerrufbarer Übereinkünfte ihrer Sprecher und verändert ihren Gesamtsinn mit jeder Redehandlung und in jedem Augenblick, sofern wenigstens dieser semantischen Novation der Durchbruch ins grammatische Repertoire gelingt, wie es in den Gesprächshandlungen ständig geschieht.“ (Frank 1977, S.38)
Das Allgemeine der Sprache ist ihre Grammatik bzw. ,Struktur‛. Das Individuelle sind die Schreib- und Sprechakte von Autorinnen und Gesprächspartnern, die die Grammatik auf ein jeweils Gemeintes anwenden, das durchaus schon im Ganzen der Sprache als System bzw. als Grammatik und als Lexikon, so wie es vorliegt, integrierbar sein kann. Was Autoren und Gesprächspartnerinnen in ihren Schreib- und Sprechakten aber meinen, kann (und wird es auch immer wieder) die Grenzen des bisher Geschriebenen und und Gesagten sprengen, also eine „semantische Novität“ darstellen. Diese bislang bloß individuelle Novität kann, wenn ihr „der Durchbruch ins grammatische Repertoire gelingt“, d.h. wenn sie in den Sprachbestand eingeht und diesen so erweitert, „allgemein“ werden. Gelingt dies, haben wir es mit einem individuellen Allgemeinen zu tun, dessen sich Menschen in künftigen Schreib- und Sprechakten bedienen können.
Denkt man an das Land, „in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen“ (vgl. Funke 2007, S.261), im dritten Band der Trilogie, fällt auf, daß ein absolut singuläres Ereignis wie der Tod zugleich in dem Maße ,individuell‛ ist wie die individuellen Wortneuschöpfungen von Autorinnen und Gesprächspartnern, die, also die Wortneuschöpfungen, noch keinen Zugang zum allgemeinen Sprachgebrauch gefunden haben, die aber doch zugleich die Quelle sind, aus der die Sprache erneuert und bereichert wird. Etwas ähnliches gilt auch für Ayeshas wortlose Lieder im vierten Band, mit denen sie die in einem todähnlichen Zustand befindlichen Personen aus den Bildern heraussingt, so daß sie wieder am vollen Leben ihrer Freunde und Geliebten teilhaben können; ein Leben, zu dem das kommunikative Miteinander, die Sprache, ganz wesentlich gehört. Also auch hier: aus der Wortlosigkeit heraus zu neuer wortschöpferischer Lebendigkeit.
Auch Manfred Frank beschränkt das individuelle Allgemeine nicht nur auf Texte und ihre Interpretationen, sondern bezieht es auf alle sprachlich verfaßten, also im eigentlichen Sinne menschlichen Interaktionen. Er verwendet dabei gelegentlich Formulierungen, in denen ich mein Konzept zur wechselseitigen Gleichheit von Ich und Du wiedererkenne. Aber hier soll es jetzt vor allem um das Verhältnis von Texten und ihren Leserinnen und Lesern gehen, also darum, was das individuelle Allgemeine mit Cornelia Funkes Tintenwelt zu tun hat.
Differentialsemantik
Letztlich bleibt festzuhalten, daß trotz Franks Ausdehnung der Hermeneutik auf die mündliche Kommunikation zwischen realen Gesprächspartnern, er sich mit dem Begriff des individuellen Allgemeinen vor allem an schriftlichen und gesprochenen Texten orientiert. Er versucht die Spaltung zwischen einer strukturellen, im engeren Sinne semiotischen Linguistik und einer hermeneutischen Sprachwissenschaft bzw. Sprachphilosophie in der Tradition von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und Friedrich Schleiermacher (1768-1834) zu überwinden. Das individuelle Allgemeine, individuell gleich hermeneutisch und allgemein gleich strukturell, soll beide Ansätze miteinander vermitteln.
Man kann die verschiedenen Ansätze mit den beiden ,Autoren‛ in der Tintenwelt parallelisieren. Der Pseudoautor Orpheus, der sich die literarische Schöpfung des eigentlichen Autors Fenoglio aneignet, ,interpretiert‛ die Tintenwelt, indem er sich der Worte aus dem fiktiven Roman „Tintenherz“ bedient, der nicht identisch ist mit dem eigentlichen ersten Band der Trilogie gleichen Titels. Indem Orpheus die Wörter neu arrangiert und kombiniert schafft er neue Texte, mit denen er die Geschichte neu erzählen (interpretieren) kann. Orpheus steht also für eine Differentialsemantik, wie sie Jacques Derrida (1930-2004) entwickelt hat.
Für diese Differentialsemantik steht Derridas Begriff der „différance“. Nach Derridas Konzept entstehen die Bedeutungen von Wörtern auf der Grundlage aller Wörter eines Wortschatzes (Lexikon). Die konkrete Bedeutung der Wörter wird dann im Rahmen von Sätzen festgelegt, innerhalb deren sie sich gegenseitig differenzieren. Die letzte Festlegung auf eine Bedeutung geschieht also im Schreib- und Sprechakt durch den Kontext des Textes oder einer konkreten Sprechsituation.
Die Differenzen zwischen den Zeichen (Wörtern) sind also im Fluß, weil die Bedeutungen letztlich vor allem durch immer neue Schreib- und Sprechakte geschaffen werden: „Die Vorstellung eines ,unentwegten Gleitens des Signifikats (der Bedeutung ‒ DZ) unter den Signifikanten (den Wörtern ‒ DZ)‛ stellt sich ein: der Sinn, sagt Lacan, faßt zwar Stand () auf der Signifikantenkette (dem Satz ‒DZ), gleichwohl hat kein einzelnes Element der Kette festen Bestand in der Bedeutung (), die ihm die augenblickliche Konstellation und Kombination der Signifikanten zuspielt.()“ (Frank 1977, S.46)
Genauso verhält sich also auch Orpheus, wenn er dem fiktiven Original Wörter entnimmt, um sie für seine Version der Tintenwelt neu zu arrangieren und so die Geschichte in seinem Sinne neu zu erzählen. Er benutzt die Wörter als Werkzeuge für seine manipulativen Interessen. Dieser strukturelle Ansatz hat sich inzwischen in unserer Welt, wie sie sich uns heute darstellt, zu einem maschinellen Mechanismus entwickelt, wie etwa dem ChatGPT. Die strukturelle Linguistik ist die Grundlage der künstlichen Intelligenz.
Ganz anders der Originalautor Fenoglio. Er steht für den hermeneutischen Ansatz. Fenoglio interessiert sich vor allem für den Eigensinn der Tintenwelt. Er versucht nach seinem Wechsel in die Tintenwelt, deren Erzählfluß nicht gewaltsam zu biegen und letztlich zu brechen, sondern seiner ursprünglichen Richtung gemäß zu ,interpretieren‛. Dieser Erzählfluß ist nicht an die Strukturen bzw. an starre Codes (Kombinationen von Wörtern) gebunden, also etwas Allgemeines, sondern individuell. Manfred Frank verweist auf Schleiermacher: „Der ,fließende Gedankengang‛ ist seiner Natur nach ,unendlich‛, sagt Schleiermacher. Wird die Rede in einem terminalen Ausdruck ,geschlossen‛, so ist der Sinnfluß gleichwohl nicht oder doch nur vorläufig zum Stillstand gebracht, da ihn die Produktivität des Interpreten sofort wieder verflüssigt().“ (Frank 1977, S.46)
Auch im hermeneutischen Sinne haben wir es mit fließenden Differenzen zu tun. Das macht das Individuelle und das Allgemeine aneinander anschlußfähig. Der Unterschied liegt darin, daß im hermeneutischen Ansatz die bedeutungsstiftenden Differenzen anders gesetzt werden. Sie werden, wie Frank schreibt, ,skandiert‛. Das erinnert an die Prosodie des Vorlesers. Man kann einem einzelnen Satz durch unterschiedliche ,Melodien‛ beim stillen Lesen oder beim lauten Vorlesen verschiedene Bedeutungen geben. Grundlage dieser Fähigkeit ist Frank zufolge die „Divination“, eine ,göttliche‛ Eingebung oder einfach subjektives Raten oder Ahnen hinsichtlich dessen, was der Text ,meint‛.
Bei Cornelia Funke hatten wir schon gesehen, daß der Vorleser einen Text nicht einfach nur mechanisch vorliest, wie Darius Elinor erklärt (vgl. Funke 2005, S.138), sondern ihm eine Melodie, eine Prosodie zugrundelegt. Nichts anderes ist mit dem Skandieren gemeint. Durch unterschiedliche Betonung wird die der Derridaschen différance entsprechende Differenz gesetzt, die den Sinn des Satzes, des Textes auf individuelle Weise bestimmt.
Auch hier haben wir es also mit einer Differentialsemantik zu tun. Diese Gemeinsamkeit macht Frank zufolge Individuelles und Allgemeines miteinander kompatibel. Was er dabei aber ausschließt, ist die Bedeutungsstiftung durch Referenz, also eine Referentialsemantik, wie ich sie vertrete. Differentialsemantiken, ob nun strukturell oder hermeneutisch, sind nur auf der Ebene von geschriebenen oder gesprochenen Texten relevant. Die reale Welt spielt in ihnen keine Rolle. Bei meiner Interpretation des individuellen Allgemeinen in Pratchetts „Kleine freie Männer“ war ich referentialsemantisch vorgegangen.
In Funkes Tintenwelt verlieren sich die Menschen, die die ungeschriebene Welt verlassen haben, gewissermaßen in den „Intervallen“ (Derrida) zwischen den ,Zeichen‛ bzw. den Wörtern innerhalb des Textes. Selbst Mortimer, der am längsten daran festhält, wieder in die ungeschriebene Welt zurückzukehren, beginnt, sich in der Tintenwelt zunehmend heimisch zu fühlen, und beginnt sogar, daran zu zweifeln, daß es wirklich keinen ,Autor‛ für die ungeschriebene Welt gibt und fragt sich, ob er nicht letztlich selbst aus einem Buch stammt. Nicht so Tiffany: sie erkennt den fiktiven Charakter des Feenkönigreichs und kehrt in ihre reale Welt zurück. Pratchetts „Kleine freie Männer“ steht für eine referentialsemantische Auffassung von Texten und letztlich von Sprache.
Nur innerhalb einer Differentialsemantik funktionieren Funkes Tintenweltromane. Der häufige Figurenwechsel zwischen der ,realen‛ und der geschriebenen Welt versinnbildlicht den hermeneutischen Zirkel zwischen den individuellen Leserinnen und Lesern einerseits und der ,terminalen‛ (geschlossenen) Struktur des Allgemeinen, ohne ihn durch referentialsemantische Zweifel an seiner Realitätsnähe zu behindern.
Die produktiven Leserinnen und Leser
Das bringt uns zu der alles überragenden Funktion des Lesers für das individuelle Allgemeine, also für die Interpretationsoffenheit des Leseakts und die strukturelle Geschlossenheit des geschriebenen und als solchen nicht mehr veränderbaren Textes.
Terminal geschlossene Texte sind z.B. unterschriebene Verträge, deren Wortlaut nicht mehr verändert werden darf. Ein anderes Beispiel für terminale Geschlossenheit ist die Thora, in der sogar alle Buchstaben gezählt sind und nicht ein einziges Jota verändert werden darf.
Für den geschlossenen „terminalen Ausdruck“, wie Frank es nennt, steht in der Tintenwelt das fiktive Original von „Tintenherz“. Da es dieses Original nicht ,gibt‛ (im Buch sind alle Exemplare bis auf eines vernichtet worden; für die Leser ist auch das eine erhaltene Exemplar nicht zugänglich), gibt es für die Tintenwelt selbst keinen terminalen ,Ausdruck‛ mehr. Allein schon dadurch, daß Mortimer im ersten Band der Trilogie damit begonnen hat, seine Frau in die Tintenwelt hineinzulesen und an ihrer Stelle Staubfinger aus der Tintenwelt herauszulesen, und er danach noch viele Male andere Dinge und Figuren hinein- und herausgelesen hat, ist die ursprüngliche Version von „Tintenherz“ in ,Bewegung‛ geraten. Die Tintenwelt hat zu ,wachsen‛ begonnen, wie es später immer wieder heißt, wenn etwa Fenoglio sich bitter darüber beklagt, daß er seine Geschichte nicht mehr wiedererkenne.
Mit anderen Worten, nicht nur der Schreibakt des Autors, auch der Leseakt der Leserinnen ist produktiv, wie Frank Schleiermacher zitiert: „Die Aneignung fremder Darstellung [ist ...] immer zugleich innere Production().“ (Frank 1977, S.54)
In dem Moment, wo wir ein Buch zu lesen beginnen, ist es nicht mehr terminal geschlossen. Es wird verflüssigt und beginnt zu fließen bzw. zu ,wachsen‛. Wir haben es mit einer „Sinnanreicherung“ durch lesen bzw. durch vorlesen zu tun. (Vgl. Frank 1977, S.56; auch S.54) Für Frank ist diese Produktivität des Lesers so zentral, daß er, wiederum Schleiermacher zitierend, andeutet, daß sogar der Autor selbst seinen eigenen Text erst zu verstehen beginnt, wenn er ihn liest: „Immerhin macht es die Unabschließbarkeit und Widerrufbarkeit jeder Deutung von Traditionen wie von Bestehendem (insofern in ihm Traditionen aufbewahrt sind) wahrscheinlich, daß eine produktive Auslegung vieles zum Bewußtsein wird bringen können, ,was ihm [dem Autor] unbewußt bleiben kann, außer sofern er selbst reflektierend sein eigener Leser sein wird ...‛.“ (Frank 1977, S.56)
Das könnte man ohne weiteres so auf Fenoglio anwenden, wenn er versucht, sich in seiner Geschichte zurechtzufinden.
Metaphorik des Bildes
Frank zufolge sind es vor allem die Metaphern, die Autorinnen und Gesprächspartnern die Möglichkeit geben, neue Gedanken, die noch nicht gedacht wurden, oder einfach neue Bedeutungen, die den tradierten Wortschatz überschreiten, zu kreieren. In diesem Zusammenhang spricht er vom singulären ,Bild‛: „Wird das vorerst noch schlechthin singuläre Bild () von Rezipienten der Rede zugeeignet, so hat es aufgehört, exklusiv oder privat zu sein und existiert als ein virtuell allgemeines Schema () bzw. als Sprachverwendungsregel (neben anderen) im Gesamt der Sprache().“ (Frank 1977, S.39)
Wenn wir dabei an die Bilder in Funkes viertem Band denken, können wir von einer Metaphorik des Bildes sprechen, die vor allem auf die Singularität des Dargestellten abhebt, entweder als Metapher in der Rede oder als Porträt von Personen in der Tintenwelt. Interessant ist deshalb, daß Franke mit dem Attribut ,singulär‛ auf den zunächst privaten Charakter von Metaphern, im Sinne einer Privatsprache, verweist. Eine solche Privatsprache ist, im übertragenen Sinne, noch ,wortlos‛, weil die verwendeten Wörter im traditionellen Lexikon nicht aufgezeichnet sind und es sie deshalb noch nicht ,gibt‛. Trotzdem haben diese Wort-,Bilder‛ ein innovatives Potential für neue Wörter, die unter Umständen Eingang in das Lexikon finden und es so verändern.
Metaphern bzw. Bilder sind also auch bei Frank zunächst noch wortlos und gleichzeitig potentiell wortschöpferisch. Sie bringen neue Wörter hervor. Das erinnert, wie eingangs schon erwähnt, an Funkes weiblichen Tod, die ein Land regiert, „in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen“. (Vgl. Funke 2007, S.261) ‒ Und im vierten Band heißt es, daß die todähnlichen, in Bildern gefangenen Personen durch Ayeshas wortlosen Gesang herausgesungen werden.
Man könnte also mit Bezug auf Cornelia Funkes vierten Band sagen, daß das singuläre Bild mit der gefangenen Person sich noch jenseits der Worte, im Land ohne Worte, befindet, so daß die Musik die gefangene Person auf wortlose Weise in das Land der Worte transportieren muß, so daß mit ihr, der gefangenen Person, und von ihr auf produktive Weise neue Wörter mit neuen Bedeutungen hervorgehen. Die Musik erweckt die singulären Bilder zu neuem Leben, so daß die ehemaligen Gefangenen wieder Teil der gemeinsamen kommunikativen Praxis werden können.
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