„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 7. August 2024

Leere Mengen

Ludwig Wittgenstein hat sich mal als Dorfschullehrer versucht. Intellektueller, der er war, versuchte er, seinen Schülerinnen und Schülern die Zahlenreihe von Null bis Neun beizubringen. Was sich natürlich als kompletter Reinfall erwies. Bei einem Schüler, der einfach nicht kapieren wollte, daß die Zahlenreihe mit einer Ziffer beginnt, die gar nichts zählt bzw. die ,zählt‛, was nicht vorhanden ist, verlor Wittgenstein die Fassung und schlug ihn so hart, daß der Schüler das Bewußtsein verlor. Danach quittierte Wittgenstein vernünftigerweise den Dienst.

Auch ich kann bis heute nicht nachvollziehen, warum die Zahlenreihe mit Null beginnen sollte. Was passiert denn da mit der 10?

0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 (10?)
(10?), 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19 (20?)
usw.?

Haben wir also mit der Zehn jetzt elf Ziffern, von denen eine nichts zählt? Und: positionieren wir die Zwanzig, Dreißig ... ans Ende der Zahlenreihe oder an den Anfang?

Die Null zeigt nichts an, es sei denn, wir formulieren es so, daß sie kein Element einer Menge ,anzeigt‛, sondern eine Funktion; z.B. die Möglichkeit, eine natürliche Ziffer von Eins bis Neun in Zehnerschritten zu potenzieren. Oder sie hat die Funktion, auf die Möglichkeit einer Subtraktion hinzuweisen, also daß da etwas gewesen war oder nicht mehr sein wird. Oder die Funktion, auf die Möglichkeit einer Addition hinzuweisen, also daß da etwas noch nicht oder woanders als hier ist. Aber das sind nur Funktionen. Etwas zu zählen, das weder war noch ist noch sein wird, also das Nichts ist, ist schlichtweg überflüssig. Die Null ist also keine Zahl.

Im Grunde ist eine solche Null, also eine Null, die das blanke Nichts anzeigt, nicht mal eine Funktion, sondern eine Metapher. Und zwar eine Metapher, die besonders gut zu einer bestimmten Wirtschaftsform paßt. Welche Wirtschaftsform beginnt mit einem Nichts? ‒ Der Finanzkapitalismus: nämlich mit einer creatio ex nihilo der Wertschöpfung, der wundersamen Geldvermehrung unter Umgehung der Güterproduktion. Die Null ist also eine Metapher für die kapitalistische Wertschöpfung. Letztlich ist Geldvermehrung auch nichts anderes als eine periodisch sich wiederholende Ansammlung von Nullen vor dem Komma.

Mathematiker behelfen sich mit einer paradoxen Formulierung: sie behaupten, die Null zeige eine „leere Menge“ an. Aber das heißt auch nichts anderes als daß sie nichts anzeigt. Auch diese leere Menge ist in meinen Augen nur eine Metapher. Sie steht für all die individuellen Elemente (einschließlich die Menschen!), die wir einer Menge zuordnen (die sich einer Menge anschließen) und dabei ihre Individualität verlieren. In diesem Sinne sind alle Mengen leer. Alles ist nur noch eins, also ohne eigene Identität und deshalb nichts, also null.

3 Kommentare:

  1. 0 ist keine Zahl? Mit dieser Sichtweise auf die Zahlen bekommen Sie schnell Probleme, nicht nur in der Mathematik. Wobei nicht zu bestreiten ist, dass die 0 eine ganz besondere Zahl ist. Mathematiker streiten immer darüber, ob die 0 eine natürliche Zahl ist, deshalb gibt es die Unterscheidung der Mengen N, bzw. N mit Index 0. Wenn 0 eine natürlich Zahl ist, dann ist sie zugleich die kleinste natürliche Zahl, was auch nicht unbedingt sofort verständlich ist.

    Ich habe das im Mathestudium so gelernt: Natürliche Zahlen sind die Kardinalzahlen von beliebigen Mengen. Mengen sind einfach Zusammenstellungen von Objekten, auch von nur gedanklich existierenden Objekten. Für jede Menge gibt es genau eine Kardinalzahl, die die Anzahl der Objekte angibt, die in der Menge enthalten sind.

    Doch was passiert, wenn man eine Menge dadurch neu bildet, dass man alle Objekte aus ihr herausnimmt? Man kann zum Beispiel aus der Menge der ganzen Zahlen die geraden und die ungeraden Elemente herausnehmen. Dann entsteht eine Menge, die keine Elemente enthält. Für diese Menge kann man eine Kardinalzahl ganz gut gebrauchen. Die einzige Kardinalzahl, die Sie hierfür nehmen können, ist die Zahl 0.

    Ich gebe zu, meine Argumentation ist Mathematik bzw. "naive" Mengenlehre, bevor Bertrand Russell deren Unhaltbarkeit begründet hat. Allerdings hätte Russel nie behauptet, dass es keine leere Menge, also keine Kardinalzahl 0 gibt. Eine leere Menge ist genauso gut möglich wie ein leerer Bus oder eine leerer Geldbeutel.

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  2. Ich habe kein Problem damit, mit Mathematikern Probleme zu haben, da ich selbst schon immer Probleme mit der Mathematik gehabt habe.

    Da ich also sowie nichts Mathematisches verstehe, verstehe ich auch nicht, wie man aus einer Menge die geraden und die ungeraden Elemente herausnehmen kann. Verleiht das Zählen den Elementen einer Menge Eigenschaften wie gerade und ungerade? Reduziert sich also nicht, wie ich dachte, alles auf Eins, also eine Eins, zwei Eins, drei Eins usw. bis die Menge vollständig durchgezählt ist? Aber naiv ist wohl auch relativ, und ich bin dann wahrscheinlich naiver als Sie.

    Ich finde Ihre Argumentation keineswegs naiv, sondern im Gegenteil hoch artifiziell.

    Vielen Dank für den Kommentar.

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  3. Ich habe den Bus und den Geldbeutel vergessen. Beides sind keine Mengen, sondern Behälter. Wie ein Wassereimer verschieden große Mengen von Wasser enthalten kann, kann ein Bus verschieden große Mengen von Menschen und ein Geldbeutel verschieden große Mengen von Geld enthalten. Behälter und Menge sind also nicht dasselbe.

    Ich hatte diese Differenz noch nicht auf dem Schirm gehabt. Aber durch Ihren Kommentar habe ich dazugelernt.

    Nochmal danke.

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