„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 1. August 2023

Die zwei Schachteln

Ich war vorhin in der Drogerie und sah ein kleines, schmächtiges Mädchen mit langen, den Rücken herabfallenden Haaren am Ende einer Regalreihe stehen. Sie schien gerade mal sechs, höchsten sieben Jahre alt zu sein und zählte ihr Kleingeld. Ich wunderte mich, daß dieses kleine Mädchen schon selbständig einkaufen ging.

In der Schlange vor der Kasse sah ich sie wieder. Sie stand vor mir, die Kapuze ihres Hoodys über den Kopf gezogen, und vor ihr wiederum stand eine Frau mit einem Einkaufswagen. Ich hielt sie für ihre Mutter. Neben dem Mädchen auf dem Fließband lagen zwei Schachteln von der Größe eines Skatspiels. Sie waren tiefblau mit weißen Punkten drauf, wie Sterne am Nachthimmel. Ich vermutete, daß sie Süßigkeiten enthielten.

Aus irgendeinem Grund irritierten mich die beiden Schachteln, und ich war versucht, genauer nachzusehen, um was es sich bei ihnen handelte. Ich unterdrückte den, wie mir schien, übergriffigen Impuls.

Dann bezahlte die Frau mit dem Einkaufswagen und ging weg. War also doch nicht die Mutter gewesen. Das Mädchen stand jetzt an der Kasse. Die beiden Schachteln lagen vor der Kassiererin, die irgendwas zu dem Mädchen sagte. Dann passierte erstmal gar nichts.

Die Schlange hinter mir wurde immer länger, und schließlich fragte ich die Kassiererin, worauf sie wartete. ‒ „Auf meine Kollegin!“ antwortete sie. Dann nahm sie aber doch meine Bitterliebekapseln und sagte zu dem Mädchen, das abgewandt von uns am Ende der Kasse stand, daß sie sie gleich bedienen werde. Unter der Kapuze deutete sich ein zustimmendes Nicken an. Ich bezahlte meine Kapseln und ging.

Draußen kam mir die Kollegin der Verkäuferin entgegen und verschwand hinter mir in der Drogerie.

Nachdem ich die Fahrradkette abgenommen und verstaut hatte und aufs Fahrrad gestiegen war, dämmerte mir allmählich, was es mit den beiden Schachteln auf sich hatte, und ich fragte mich erschüttert, was das für Eltern sind, die ihr kleines Kind losschicken, um Kondome zu kaufen.

Dann sah ich das kleine Mädchen, wie es über den Marktplatz ging. Ihr Kopf war nicht mehr mit der Kapuze bedeckt.

PS: Diese Geschichte könnte auf verschiedene Weise erzählt werden. Ich habe sie aus meinen Wahrnehmungen zusammengefügt. Alles darin ist wahr. Nur die Geschichte ist Fiktion.
Eine alternative Geschichte könnte davon ausgehen, daß das Mädchen schon in die Schule geht, erste oder zweite Klasse Grundschule. Auf dem Schulweg könnten sie ältere Kinder bedrängt und gezwungen haben, Kondome zu kaufen. Es sind zwar zur Zeit Schulferien, aber in einem Dorf begegnen sich Kinder nicht nur auf dem Schulweg.
Manches wäre denkbar. Was ich mir nicht vorstellen kann: daß sie die zwei Schachteln aus eigenem Antrieb gekauft hat.
Aber letztlich weiß ich ja noch nicht mal, ob in den Schachteln tatsächlich Kondome gewesen waren.

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