„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 1. Dezember 2017

Giorgio Agamben, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt a.M. 2016

1. Stasis: Versöhnung auf wessen Kosten?
2. Exzentrisch positioniert: der politische Körper
3. Von Feinden und Seuchen

Im ersten von zwei Essays in seinem Buch „Stasis“ (2016) hält Giorgio Agamben fest, daß es ihm um die „Auswirkungen“ einer Theorie des Bürgerkrieges „im politischen Denken des Westens“ gehe. (Vgl. Agamben 2016, S.14) Dessen ungeachtet konstatiert Agamben, daß es eine solche Theorie nicht gibt. (Vgl. Agamben 2016, S.11) Stellvertretend für so eine bis heute fehlende „Stasiologie“ (ebenda) bezieht sich Agamben in seinen beiden Essays auf „Zeugnisse() der Philosophen und Historiker des klassischen Griechenland“ und auf Hobbes’ „Leviathan“. (Vgl. Agamben 2016, S.14f.) Ich werde in diesem und in den folgenden zwei Besprechungen nacheinander auf diese beiden Essays eingehen: auf „Stasis“ (Agamben 2016, S.11-36) und auf „Leviathan und Behemoth“ (Agamben 2016, S.39-86), die zwei im Oktober 2001 in Princeton University gehaltene Seminare wiedergeben.

Zunächst möchte ich auf den Begriff der „Stasis“ zu sprechen kommen. Bei der „Stasiologie“, das sei eigens für deutsche Leser angemerkt, handelt es sich keineswegs um eine Theorie der Staatssicherheit (DDR), sondern, wie schon erwähnt, um eine noch ausstehende „Theorie des Bürgerkriegs“. Das griechische Wort „Stasis“ bezeichnet den Konflikt in einer Familie (oikos) bzw. innerhalb einer Stadt (polis); es geht also im Unterschied zum Krieg, der sich gegen einen äußeren Feind richtet, um einen inneren Feind. Der Begriff der „Stasis“ ist, wie Agamben mit Berufung auf die französische Historikerin Nicole Loraux (1943-2003) festhält, vieldeutig. Loraux führt den Begriff und seine Vieldeutigkeit auf den „oikos“, auf das Haus bzw. auf die Familie zurück, die die „polis“, die Stadt, zugleich bedroht und erneuert:
„Die Vieldeutigkeit der stasis ergibt sich Loraux zufolge also aus der Vieldeutigkeit des oikos, mit dem sie wesensgleich ist. Der Bürgerkrieg ist stasis emphylos, ein Konflikt, der dem phylon, der Blutsverwandtschaft eignet ...“ (Agamben 2016, S.17f.)
Die Vieldeutigkeit ergibt sich daraus, daß der oikos (Familie/Blutsverwandtschaft) sowohl für den Konflikt in der Polis verantwortlich ist wie auch das Vorbild für die Versöhnung der zerstrittenen Parteien bildet. (Agamben 2016, S.17)

Agamben selbst modifiziert Lorauxs These dahingehend, daß er die „stasis“ nicht als Moment eines familiären Konflikts deutet, sondern auf der „Schwelle“ zwischen dem Politischen und dem Unpolitischen, zwischen „Innen und Außen“ verortet (vgl. Agamben 2016, S.33); wobei hier nicht ganz klar ist, was ‚innen‘ und was ‚außen‘ ist, denn der oikos ist der polis genauso außen wie die polis dem oikos. Dennoch wird es an dieser Stelle für mich insofern interessant, als mich Agambens Begrifflichkeit an Helmuth Plessners Anthropologie des Körperleibs erinnert. Hier fallen mir sofort Begriffe wie „Doppelaspektivität“ und „exzentrische Positionalität“ ein, und nicht zuletzt Plessners kritische Verhältnisbestimmung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Ein weiterer moderner Vertreter der Staats- und Gesellschaftstheorie wäre Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der in einem Text, dem es um die Auswirkungen einer Theorie des Bürgerkriegs auf das moderne Denken geht, auf keinen Fall vergessen werden darf! Auf Plessners Körperleib werde ich im nächsten Blogpost nochmal detaillierter zurückkommen.

Aber diese Traditionslinien des modernen Denkens interessieren Agamben nicht. Stattdessen heißt es mit Bezug auf Jürgen Habermas, den er allerdings namentlich nicht erwähnt:
„Die Ausrichtung auf den Konsens, die heute gleichermaßen die politische Theorie und Praxis dominiert, scheint inkompatibel mit der ernsthaften Erforschung eines Phänomens, das ebenso alt ist, wie die westliche Demokratie.“ (Agamben 2016, S.11)
So kurz und so abrupt sägt Agamben einen ganzen Ast vom Baum der Erkenntnis ab. Weitere Erörterungen in diese Richtung bleiben aus.

Dabei ist der Begriff der „stasis“ vielschichtiger, als es Agamben lieb sein kann. Die ursprüngliche Bedeutung, ‚Stauung‘, wie sie Agamben für die Detektorfunktion der „stasis“ in Anspruch nimmt – die „stasis“ zeigt Stauungen bzw. Spannungen im Verhältnis zwischen „oikos“ und „polis“, zwischen Familie und Stadt an (vgl. Agamben 2016, S.21) –, wird in unserem heutigen Alltagsgebrauch des Wortes eher auf einen Zustand des tiefen Schlafs bezogen. Eine andere damit zusammenhängende Bedeutung ist ‚stehen‘ bzw. ‚für etwas einstehen‘, im Sinne von Zeugnis ablegen oder einen Eid schwören. (Vgl. Agamben 2016, S.24) Die „stasis“ hat demnach neben der politischen und medizinischen auch eine anthropologische Bedeutung, im Sinne des aufrechten Gangs, wie ihn Hans Blumenberg (1920-1996) thematisiert. Aber auch diese Deutungslinie interessiert Agamben nicht. Es ließe sich wohl nicht vermeiden, das Individuum selbst in den Blick zu nehmen, das Stand hält und sich der Kollektivierung, ob nun durch die Familie oder durch die Stadt, widersetzt.

Das von mir gebrauchte Bild vom abgesägten Ast am Baum der Erkenntnis meint genau diese Traditionslinie. Sowohl Plessner als auch Rousseau verwandeln die antike Problemstellung zwischen Familie und Stadt – und, wie wir in den nächsten beiden Blogsposts sehen werden, auch die Hobbessche Problemstellung zwischen Menge und Volk – in eine Problemstellung zwischen Individuum und Gesellschaft (Rousseau) und zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (Plessner). Beide verlagern den Konflikt, die „stasis“, vom Kollektiv ins Individuum. An die Stelle des Bürgerkriegs treten bei Rousseau die Aporie zwischen Mensch und Bürger und bei Plessner das exzentrisch positionierte Individuum, das sich auf der Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft bewegt. Bei beiden bildet das Individuum selbst die „Schwelle“, die für Agamben die „stasis“ ist.

Markiert die „stasis“ also nun eine Schwelle zwischen zwei Formen der Kollektivität oder den Beginn einer individuellen Genese? Agamben steht für die kollektive Variante und ontologisiert sie zugleich, also den Konflikt zwischen „oikos“ und „polis“, zwischen Familie und Stadt, indem er ihn als immer wiederkehrenden Konflikt auf Dauer stellt:
Stasis/Familie/Stadt ... diese Begriffe ordnen sich untereinander nach Kräfteverhältnissen, die wesentlich mehr von Wiederkehr und Überschneidung als von irgendeiner Form eines fortlaufenden Entwicklungsprozesses geprägt sind.“ (Agamben 2016, S.20)
Und Agamben fügt hinzu, daß die „Geschichtsschreibung“ von dem „Allgemeinplatz einer zwangsläufigen Überwindung des oikos durch die Stadt“ Abschied nehmen müsse. (Vgl. ebenda) Die „stasis“, die ja wesensmäßig mit dem „oikos“ verbunden ist (vgl. Agamben 2016, S.17), sorgt also wie ein anthropologisches Naturgesetz für die ewige Wiederkehr des immer gleichen kollektiven Konflikts.

Inwiefern ist diese Anthropologie bedenklich? Inwiefern unterscheidet sie sich von den Anthropologien von Rousseau und Plessner? – Rousseau und Plessner haben die Problemstellung der griechischen Antike und von Hobbes aufgegriffen und entsprechend den gesellschaftlichen Bedingungen im 18. und 20. Jhdt. weiterentwickelt; Plessner insbesondere mit seiner Kritik des Gemeinschaftsbegriffs als Reaktion auf den Nationalsozialismus. Agambens Ansatz hingegen entzieht die oikos-polis-Problematik der Historie und stellt sie auf Dauer. Was das bedeutet, zeigt sich am Beispiel des „Versöhnungsfestes“, das im Denken der griechischen Antike ein notwendiges Moment der „stasis“ bildete, und am Beispiel der „erlosten Brüder()“. (Vgl. Agamben 2016, S.21 und S.19)

So unvermeidbar für die Griechen der familiäre Konflikt und seine Übertragung auf die „polis“ auch gewesen war, so notwendig war es auch, daß er in einem Versöhnungsfest enden mußte:
„Die Familie ist gleichermaßen Ursprung des Konflikts und der stasis wie Paradigma der Versöhnung (die Griechen, schreibt Platon, ‚kämpfen untereinander als solche, die sich wieder vertragen wollen‘, Rep. 471a).“ (Agamben 2016, S.17)
Zum Versöhnungsfest gehörte unverzichtbar die „amnēstia“, die, wie Agamben schreibt, nicht einfach im „Vergessen“ oder in der „Beseitigung der Vergangenheit“ bestand (vgl. Agamben 2016, S.32), sondern vor allem vermeiden sollte, daß der überwundene Konflikt unterschwellig in die erneuerte „polis“ hinübergetragen wurde. Nicole Loraux versteht das Versöhnungsfest als ein Zusammenfallen von „oikos“ und „polis“, von Stadt und Blutsverwandtschaft. (Vgl. Agamben 2016, S.20f.) Agamben greift diesen Gedanken auf und postuliert, daß auf der „Schwelle der Ununterscheidbarkeit“ „das Politische und Unpolitische, das Innen und das Außen zusammenfallen“. (Vgl. Agamben 2016, S.33) Mit diesem ‚Zusammenfall‘ verschließt sich allerdings auch jeder individuelle Bewegungsraum. Für den Menschen jenseits von Haus und Stadt, von Gemeinschaft und Gesellschaft ist kein Platz.

Agamben erwähnt eine weitere bemerkenswerte Maßnahme, die sich die Bürger von Nakon, einer griechischen Stadt im 3. Jhdt., nach einem Bürgerkrieg einfallen ließen: Sie hoben die Blutsbande zwischen den Bürgern der Stadt auf, indem sie sie mit Hilfe eines Losverfahrens einer „Familie neuen Typs“ zuordneten, die Agamben auch als „unechte Brüderlichkeit“ bezeichnet. (Vgl. Agamben 2016, S.19) Aus der Perspektive Plessners könnten wir hier von einer Vorform der modernen Gesellschaft sprechen, in der die Menschen ihre familiären Bindungen hinter sich lassen, um eine neue individuelle Form der Geselligkeit zu erproben.

Agamben hingegen beharrt darauf, daß wir es hier weiterhin mit einer Familie zu tun haben, eben einer Familie „neuen Typs“, in der „jeder im anderen ‚einen Bruder oder eine Schwester oder einen Vater oder einen Sohn oder eine Tochter‘ sehen würde ...“ (Vgl. Agamben 2016, S.20) – Damit verharrt Agamben im antiken Horizont. Er entwickelt das Denkangebot, das die Griechen uns machen, nicht weiter.

Das „Versöhnungsfest“ dient deshalb Agamben zufolge, anders als bei Rousseau, der das Fest als Spielwiese für gesellige Individuen auf der Basis des Mitleids thematisiert (vgl. meinen Post vom 03.06.2016), der „Rekonstitution“ einer Einheit (vgl. Agamben 2016, S.24), die den Keim einer neuen Entzweiung schon in sich trägt. Denn das ambivalente, weil vieldeutige Grundprinzip der „stasis“ besteht bei aller Versöhnungsbereitschaft in Inklusion und Exklusion:
„Wie könnte das Verhältnis von zōē sowie von oikos auf der einen Seite und polis sowie politischem bios auf der anderen beschaffen sein, wenn Erstere vermittels eines Ausschlusses in Letztere eingeschlossen werden?“ (Agamben 2016, S.23)
„Zōē“ ist, wie Agamben schreibt, das „einfache natürliche Leben“, die Familie also, während „bios“ das gute Leben meint, in diesem Fall das politische Leben, das Leben in der Stadt. (Vgl. Agamben 2016, S.22) Was könnten also, um Agambens Frage aufzugreifen, die Gleichzeitigkeit von Einschluß und Ausschluß auf dieser biologischen, ins Politische transformierten Ebene meinen? Wer oder was muß ausgeschlossen werden, damit zōē und oikos in bios und polis mit eingeschlossen werden können? Ein schlimmer Verdacht drängt sich hier auf; um so mehr als mit Verweis auf Carl Schmitt (1888-1985) von einer notwendigen „Gruppierung nach Freund und Feind“ die Rede ist (vgl. Agamben 2016, S.30); insbesondere wenn dabei verschiedene Formen von ‚Leben‘ zueinander im Verhältnis von Einschluß und Ausschluß stehen. Der Verdacht bestätigt sich bei einem Blick in sein Buch „Homo sacer“ (1995/2016), wo Agamben schreibt:
„In der modernen Biopolitik ist derjenige souverän, der über den Wert oder Unwert des Lebens als solches entscheidet.“ (Agamben 11/2016, S.151)
Wenn in diesem Zusammenhang von Versöhnungsfesten die Rede ist, in denen sich eine Einheit ‚rekonstituiert‘, fragt man sich unwillkürlich, wer die Opfer dieser Versöhnung sind. Diese Frage wird im dritten und letzten Blogpost erörtert werden.

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