„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 2. Dezember 2017

Giorgio Agamben, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt a.M. 2016

1. Stasis: Versöhnung auf wessen Kosten?
2. Exzentrisch positioniert: der politische Körper
3. Von Feinden und Seuchen

In meinem vorangegangenen Post hatte ich auf begriffliche Parallelen zwischen Agambens (noch fehlender) Theorie des Bürgerkriegs und Plessners Anthropologie des Körperleibs hingewiesen. Dieser Parallelen wurde ich mir an der Stelle bewußt, wo Agamben den Begriff der „stasis“ aus der Verbindung mit dem „oikos“ löst und auf die „Schwelle“ zwischen „oikos“ und „polis“ verlegt. (Vgl. Agamben 2016, S.25) Diese Schwelle bildet zugleich einen Bereich der Ununterscheidbarkeit zwischen Innen und Außen. (Vgl. Agamben 2016, S.25 und S.33)

Wir haben hier alle Ingredienzien zusammen, aus denen sich eine Theorie des Körperleibs ergibt, wie sie Helmuth Plessner (1892-1985) entwickelt hat. Der Körperleib bildet Plessner zufolge eine ‚Grenze‘ (Schwelle) zwischen Innen und Außen. Innen und Außen bilden eine Doppelaspektivität (Ununterscheidbarkeit bzw. Vieldeutigkeit), die durch die Perspektive eines auf der Grenze exzentrisch positionierten Subjekts bestimmt wird. Als diese exzentrische Positionalität befinden wir uns ständig im „Streit“ (stasis) mit unserem Körperleib. In „Homo sacer“ (1995/2016) deutet sich an zentraler Stelle sogar eine Parallele zu Plessners ‚Seele‘ an: das „nackte Leben“, die zōē, wird in der polis gleichzeitig ein- und ausgeschlossen. Diese logische Figur entspricht der Plessnerschen Seele, die sich gleichzeitig zeigt und verbirgt. Agamben spricht dem einfachen Leben sogar eine Expressivität zu, indem er ihr eine Stimme zuordnet. (Vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.17f.)

Diese Parallelen setzen sich im zweiten Essay (Agamben 2016, S.39-86) fort, wo Agamben Thomas Hobbes (1588-1679) bescheinigt, ein Denker des Körpers zu sein: „Vielleicht ist der grundlegende Begriff in Hobbes’ Denken der des ‚Körpers‘ (body), seine gesamte Philosophie eine Meditation de corpore ...“ (Agamben 2016, S.60) – Von diesem Zusammenhang her läßt sich eine Linie zur schon erwähnten exzentrischen Positionalität ziehen, da sich der politische Körper des Souveräns nicht in der von ihm regierten Stadt befindet, sondern, wie der mythische Leviathan, „in einem Niemandsland oder im Meer“:
„Der Commonwealth, der body political stimmt nicht mit dem physischen Körper der Stadt überein.“ (Agamben 2016, S.51)
Hier zeigt sich aber auch schon der wesentliche Unterschied zu Plessners Anthropologie: Agamben unterscheidet mit Hobbes zwischen einem politischen und einem physischen Körper, und er trennt diese beiden Körper auch räumlich, indem er sie verschiedenen Sphären zuordnet: dem Meer und dem Land. Dabei ist das Meer die Sphäre des Leviathans, der dem biblischen Mythos zufolge ein Fisch bzw. ein Wal ist, und das Land ist die Sphäre des Behemoth, der dem biblischen Mythos zufolge ein Stier ist.

Wir haben es also beim Hobbesschen ‚Körper‘ mit einem höchst allegorischen Konstrukt zu tun, dem zufolge sich im Meer, der Sphäre des Souveräns, das „Volk“ aufhält, und das Land von der „Menge“ bewohnt wird, einer prekären Entität; denn sie ‚bewohnt‘ das Land bzw. die Stadt nicht wirklich, obwohl sie sich in ihr aufhält. In politischer Hinsicht ist die Menge nämlich unsichtbar, d.h. bedeutungslos. Agamben spricht von einem „Graben“ zwischen dem „body political“ und der „reale(n), aber politisch unsichtbare(n) Menge“ (vgl. Agamben 2016, S.80): eine weitere Parallele zu Plessner, der von einem „Hiatus“ bzw. einer „Kluft“ zwischen Innen und Außen spricht. „Volk“ und „Menge“ entsprechen in der Hobbesschen Verhältnisbestimmung dem Verhältnis von „Leib“ und „Körper“ bei Plessner, der zwischen dem Körper, den wir haben, und dem Leib, der wir sind, unterscheidet. Unsichtbar ist hier aber nur die aufgelöste Menge in der Stadt, die zudem nicht expressiv werden darf, während der ‚Leib‘, das Volk als Souverän, zwar sichtbar ist, aber trotzdem abwesend.

Die Hobbessche Verhältnisbestimmung von Volk und Menge besteht in einem Prozeß, der zwar kreisförmig ist, sich aber nicht zu einem Kreis schließt. (Vgl. Agamben 2016, S.61) Dabei unterscheidet Hobbes zwischen einer ungeeinten („disunited“) und einer aufgelösten („dissoluta“) Menge. (Vgl. ebenda) Die ungeeinte Menge geht in dem Prozeß der Staatsbildung dem Volk voran. Sie bildet gewissermaßen einen Naturzustand, ähnlich dem, wie ihn Rousseau mit dem Mythos vom solitär lebenden ‚Wilden‘ beschreibt. Indem die ungeeinte Menge einen Souverän bestimmt – in der Monarchie eine einzelne reale Person, in der Demokratie eine repräsentative Versammlung bzw. einen Rat – konstituiert sie sich als Volk. Allerdings haben wir es hier mit einem der Rousseauschen Mensch/Bürger-Aporie gleichenden Paradox zu tun. So wenig wie bei Rousseau (1712-1778) der Mensch zugleich auch Bürger und der Bürger zugleich auch Mensch sein kann, überdauert auch die Menge ihre Konstitution als Volk. Sofort nach dem souveränen Akt der Staatsbildung löst sie sich als Volk wieder auf und wird nun zur aufgelösten Menge, die fortan als politische Entität unsichtbar ist. An ihre Stelle tritt der König bzw. das Parlament, das nun das Volk ist. Hobbes spricht vom Paradox des „populus-rex“, des Volkskönigs. (Vgl. ebenda)

In einem schönen Zitat, das mir sehr gefällt, weist Hobbes auf den ebenfalls paradoxen Umstand hin, daß Populisten sich niemals an das Volk wenden, von dem sie behaupten, dessen Willen zu kennen, sondern immer nur an die aufgelöste Menge, die sie zum Aufstand gegen das legitime Volk aufrufen:
„Gemeine Leute und andere, die den Sachverhalt nicht erfassen, sprechen von der Menge immer als vom Volk ... und das Volk wolle dies, und jenes wolle es nicht, wie es gerade unruhigen und unzufriedenen Untertanen passt.“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.57)
Die Abgabe der Souveränität an einen politischen Körper findet in einer Monarchie nur einmal statt, in einer Demokratie in regelmäßigen Abständen bei Wahlen. Jedesmal wenn sich ein neues Parlament konstituiert, wird das Volk wieder zur aufgelösten Menge. Niemals aber kehrt diese Menge in den Naturzustand zurück: sie wird nie mehr zur ungeeinten Menge. Der Kreis schließt sich nicht. An die Stelle des Naturzustands tritt der Bürgerkrieg, der immer dann beginnt, wenn die aufgelöste Menge den Souverän absetzen will:
„Das Paradox populus-rex besteht aus einem Prozess, der von einer Menge ausgeht und zu einer Menge zurückkehrt: Aber die multitudo dissoluta, in die das Volk sich auflöst, kann nicht mit der disunited multitude zusammenfallen und den Anspruch erheben, einen neuen Souverän zu bestimmen. Der Kreislauf ungeeinte Menge-Volk / König-aufgelöste Menge ist an einer Stelle unterbrochen, und der Versuch, zum Ursprungszustand zurückzukehren, fällt mit dem Bürgerkrieg zusammen.“ (Agamben 2016, S.61)

In einer Graphik zeichnet Agamben diesen Prozeß nach und kennzeichnet die Stelle, an der der Kreislauf durch den Bürgerkrieg unterbrochen wird. Ich habe die Graphik etwas modifiziert, indem ich vom „Volk-König“ einen Pfeil in Richtung auf den Menschen hinzugefügt habe, um deutlich zu machen, was in Agamben/Hobbes’ Bestimmung des politischen Körpers fehlt. So ist z.B. im deutschen Grundgesetz ausdrücklich nicht vom Bürger und seinen Rechten, sondern vom Menschen und seinen Rechten die Rede. Damit soll gerade jene Exklusion vermieden werden, die vom Begriff des Volkes ausgeht:
„Das Volk ist der Souverän, muss sich dafür aber von sich selbst scheiden und sich in eine ‚Menge‘ und ein ‚Volk‘ teilen.“ (Agamben 2016, S.57)
Letztlich besteht die unsichtbare Menge, die von der politischen Willensbildung (abgesehen von der Einsetzung des Souveräns) ausgeschlossen ist, aus Menschen. Aber um dessen Rechte geht es in Hobbes Staatstheorie nicht: weder aus der Sicht des Souveräns noch aus der Sicht der Populisten.

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