„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. Dezember 2017

Giorgio Agamben, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt a.M. 2016

1. Stasis: Versöhnung auf wessen Kosten?
2. Exzentrisch positioniert: der politische Körper
3. Von Feinden und Seuchen

Die ersten vier Textseiten seines zweiten Essays „Leviathan und Behemoth“ (Agamben 2016, S.39-86) befassen sich hauptsächlich mit dem wissenschaftlichen Status, den Agamben der politischen Philosophie von Thomas Hobbes (1588-1679) eingeräumt wissen will. (Vgl. Agamben 2016, S.43) Zweifel daran weckt eine Äußerung von Carl Schmitt (1888-1985), der für Agamben bei der Interpretation des „Leviathan“ (1651) eine ähnlich wichtige Rolle spielt wie die französische Historikerin Nicole Loraux (1943-2003) im ersten Essay zur griechischen Antike. Schmitt behauptet:
„Hobbes hatte, wie alle großen Denker seiner Zeit, Sinn für esoterische Verhüllungen.“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.41)
Wissenschaftliche Texte können nun aber niemals esoterisch sein. Andernfalls verlören sie nämlich sofort ihren wissenschaftlichen Anspruch. Carl Schmitt hatte seine Feststellung auf das Frontispiz zu Hobbes‘ „Leviathan“ bezogen, einer Allegorie über den Staat. Agamben befaßt sich nun, wie gesagt über vier Seiten hinweg, mit der Frage, inwiefern die „emblematische Literatur“, also die symbolisch-bildliche Ausgestaltung von abstrakten Gedanken und Ideen, wissenschaftlich sein kann.

Für jemanden wie den Rezensenten ist das erstaunlich. Immerhin hat Hans Blumenberg (1920-1996) in seinem Buch zur „Theorie der Unbegrifflichkeit“ (2007) und auch schon in einer früheren Abhandlung zur Metapherologie (1960) Bilder und Metaphern in einen engen Kontext zur Genese von wissenschaftlichen Begriffen gestellt. Wieso glaubt also Agamben, er müsse die Wissenschaftstauglichkeit von Allegorien nochmal eigens betonen?

Nun sind Allegorien selbstverständlich keine Metaphern. Anders als Metaphern bedürfen Allegorien eines Schlüssels, der bei ihrer Entschlüsselung hilft. Allegorien bilden also tatsächlich eine Art Geheimcode, wenn auch viele Allegorien so allgemein verbreitet und verständlich sind, daß dieses Entschlüsselungsproblem oft genug nicht weiter ins Gewicht fällt. Aber die Worte einer Sprache – und dazu gehören eben auch Metaphern – brauchen keinen besonderen Schlüssel, um verständlich zu sein. Es reicht, sprechen zu können.

Carl Schmitt hatte also mit seinem Hinweis auf die Esoterik durchaus Recht. Trotzdem kann sich das Allegorische mit dem exoterischen Anspruch der Wissenschaft durchaus vertragen, wenn wir nur über den Schlüssel zu seiner Dechiffrierung verfügen. Warum also meint Agamben trotzdem, eigens hervorheben zu müssen, daß wir es bei Hobbes’ „Leviathan“ mit einer wissenschaftlichen Abhandlung zu tun haben?

Das Rätsel löste sich für mich, als ich feststellte, daß für Agamben nicht Hobbes, sondern Schmitt das Problem ist; und zwar gerade weil Schmitt für ihn so ein wichtiger Gewährsmann bei der Interpretation von Hobbes ist. Schmitt war ein ausgewachsener Antisemit. Das zeigt sich an einer Stelle in der Schmittschen Interpretation von Hobbes, wo er auf die Gefahr von so wirkmächtigen Bildern wie dem Leviathan hinweist:
„Wer solche Bilder benutzt, gerät leicht in die Rolle eines Magiers, der Gewalten herbeiruft, denen weder sein Arm, noch sein Auge, noch das sonstige Maß seiner menschlichen Kraft gewachsen ist. Er läuft dann Gefahr, statt eines Verbündeten einen herzlosen Dämon zu treffen, der ihn seinen Feinden in die Hände liefert ... Die überkommene jüdische Deutung schlug auf den Leviathan des Hobbes zurück.“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.70)
Zwischen den ‚Feinden‘ und ‚Juden‘ („jüdische Deutung“) befinden sich zwar drei Auslassungspunkte, so daß die direkte Verbindung zwischen beiden fraglich bleibt, aber Schmitt spricht hier doch die Problematik an, daß die Nutzung biblischer Bilder jüdische Interpretationstraditionen wachruft, die dann von „herzlosen Dämonen“ – sprich: politischen Gegnern – auf die eine oder andere Weise gegen den Nutzer gewendet werden können. Der implizite Antisemitismus Carl Schmitts wird von Agamben an anderer Stelle durch ein weiteres Zitat explizit gemacht:
„Die Weltgeschichte erscheint als ein Kampf der heidnischen Völker untereinander. Im besonderen kämpft der Leviathan, das sind die Seemächte, gegen die Landmächte, den Behemoth ... Die Juden aber stehen daneben und sehen zu, wie die Völker der Erde sich gegenseitig töten; für sie ist dieses gegenseitige ‚Schächten und Schlachten‘ gesetzmäßig und ‚koscher‘. Daher essen sie das Fleisch der getöteten Völker und leben davon ...“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.72)
Agamben weist ausdrücklich auf den Antisemitismus von Carl Schmitt hin, der die talmudische Überlieferung zum Leviathan „vorsätzlich verzerrt“. (Vgl. Agamben 2016, S.72)

Von diesen Textstellen her wird verständlich, warum Agamben sich so viel Mühe gibt, Hobbes’ allegorische Konstruktion des Staates als Leviathan vor dem Verdacht der Unwissenschaftlichkeit zu bewahren. Carl Schmitt ist, wie gesagt, nicht irgendwer, sondern spielt in Agambens Interpretation die Rolle eines gewichtigen Gewährsmanns. Jeder Verdacht auf antisemitische Beiklänge muß von vornherein ausgeschaltet werden.

Nun hätte Agamben es sich auch einfacher machen und einfach die antisemitischen Äußerungen von Schmitt verschweigen können. Schließlich kommt er auch in „Homo sacer“ (1995/2016), wo oft genug von Schmitt die Rede ist, nicht auf dessen Antisemitismus zu sprechen. Und auch in der Argumentation seines aktuellen Essays spielt Schmitts Antisemitismus keine Rolle. Aber 2014 sind die ersten vier von neun schwarzen Heften von Martin Heidegger (1889-1976) erschienen, und seitdem stehen seine nationalsozialistischen Verstrickungen und sein Antisemitismus in Intellektuellenkreisen wieder auf der Tagesordnung. Agambens Essays wurden 2015 veröffentlicht, also ein Jahr nach den schwarzen Heften. Zwar handelt es sich dabei um die Zusammenfassungen von zwei im Jahr 2001 gehaltenen Seminaren; aber eine aktualisierende Stellungnahme zum wissenschaftlichen Status der Hobbesschen Allegorie wird Agamben angesichts der ersten Reaktionen auf die schwarzen Hefte gerade auch hinsichtlich der Person von Carl Schmitt als opportun erschienen sein.

Agambens Versuch einer Klarstellung ist respektabel und durchaus anerkennenswert. Allerdings wäre mehr zu erwarten gewesen. Es genügt nicht, den Antisemitismus beim Namen zu nennen und sich so davon zu distanzieren. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn Agamben auch herausgearbeitet hätte, wieso denn Hobbes’ „Leviathan“ eine so brauchbare Vorlage für billige Antisemitismen aller Art liefert. Das wäre um so dringlicher gewesen, als von dieser Anfälligkeit auch der Begriff der Biopolitik, wie Agamben ihn in „Homo sacer“ (1995/2016) diskutiert, infiziert ist.

Die Gefahr einer biologischen Interpretation der Politik und des Staates zeigt sich insbesondere an der Stelle, wo Agamben auf den seltsamen Umstand hinweist, daß die Stadt auf dem Frontispiz des „Leviathan“ leer ist. Es befinden sich nur zwei Personen in dieser Stadt: ein Wächter und ein Arzt. (Vgl. Agamben 2016, S.62ff.) Agamben interpretiert diesen Umstand dahingehend, daß die aufgelöste Menge sofort, nachdem sie ihren Souverän bestimmt hat, politisch unsichtbar wird. Sie hat von nun an keinerlei politische Bedeutung mehr. Diese Unsichtbarkeit läßt sich bildlich nur durch die Abwesenheit der aufgelösten Menge darstellen: die Stadt ist also leer.

Darauf, daß die aufgelöste Menge dennoch die Stadt bewohnt, weisen der Wächter und der Arzt hin: der Wächter paßt auf, daß die Menge unsichtbar bleibt (also nicht politisch aktiv wird), und der Arzt bekämpft das Eindringen von Seuchen (also den inneren Feind):
„Aus diesem Zusammenhang stammt die Vorstellung, dass die dissoluta multitudine, die unter der Herrschaft des Leviathan die Stadt bewohnt, mit der zu behandelnden und zu regierenden Masse der Pestkranken verglichen werden kann.“ (Agamben 2016, S.64)
Vor diesem hygienischen Hintergrund liefert die Hobbessche Allegorie für jeglichen Antisemitismus ein äußerst brauchbares Material. Ihre Mißbrauchbarkeit liegt angesichts der Katastrophe des 20. Jhdts. auf der Hand, umso mehr als, wie im vorausgegangenen Blogpost festzustellen war, der einzelne Mensch in dieser ‚Biopolitik‘ keine Rolle spielt. Zwar plädiert Agamben in „Homo sacer“ (1995/2016) für eine „neue Politik“, die „Nazismus und Faschismus“ zu überwinden vermag und „im wesentlichen noch zu erfinden ist“ (vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.21), aber diese Politik muß Agamben zufolge bei den „ungewissen und namenlosen Terrains“, den „unwegsamen Zonen der Unentschiedenheit“ zwischen Politik und Biopolitik ansetzen (vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.196). Auch die neue Politik kommt nicht um die Biopolitik und den Versuch einer Verschmelzung von zōē und bíos herum. (Vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.197) Damit verbleibt Agamben im Bannkreis dessen, was er seinem eigenen Bekunden zufolge überwinden will.

Da aber der einzelne Mensch in Agambens Analysen zur Inklusion und Exklusion des ‚einfachen‘ Lebens keine Rolle spielt, sind solche Absichtserklärungen hinsichtlich einer neuen Politik sowieso wohlfeil. Die Frage, inwiefern Politik über den einzelnen Menschen hinweggehen darf bzw. über ihn verfügen darf, gehört nicht in den Zuständigkeitsbereich der Biopolitik. Agamben sollte also schon etwas mehr bieten, als Schmitts antisemitische Interpretation von Hobbes’ „Leviathan“ abzuweisen und ansonsten auf die Kompetenz von Lesern zu hoffen, „die in der Lage sind, Details und Eigenheiten der Darstellung aufzuspüren, wie das eigentlich für jeden Leser gelten sollte, der diesen Namen verdient“. (Vgl. Agamben 2016, S.43)

Es geht nicht darum, an den guten Willen und die Kompetenz des Lesers zu appellieren. Es geht darum, für den eigenen Text und seinen Inhalt – die leere Stadt und ihre Implikationen – Verantwortung zu übernehmen!

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