„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 7. Juni 2014

Andreas Bernard, Kinder Machen – Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender, Leihmütter, künstliche Befruchtung, Frankfurt a.M. 2014

(S. Fischer Verlag, 543 S., 24.99 €)

1. Halbierte Kopulation
2. Zum biologischen Ursprung der klassischen Bildungstheorie
3. Der Einfluß des Individuums
4. Konkurrenz oder Symmetrie der Geschlechter?
5. Der Samenspender als Kulturstifter?
6. Selbsteugenisierung
7. Bedrohte Menschlichkeit?

Es gibt so etwas wie eine reproduktionsmedizinische Politik der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit, und zwar auf zwei verschiedenen Ebenen: auf der biologischen und auf der kulturellen Ebene. Da ist zunächst die biologische Ebene der mit dem Geschlechtsakt nur lose gekoppelten Befruchtung. Der Geschlechtsakt ist trotz aller Intimität der sichtbare, der Willkür der Beteiligten unterworfene Teil des zur Entstehung neuen Lebens führenden Prozesses. Die subjektive Evidenz des vollzogenen Geschlechtsakts verleitet immer wieder dazu, das daraus hervorgegangene neue Leben in die Verantwortung des Paares zu stellen, ähnlich wie auch unsere anderen mehr alltäglichen Handlungen immer auch einen verpflichtenden, potentiell zu rechtfertigenden Charakter haben.

So empfinden es manche Spenderkinder als erniedrigend, nicht auf natürlichem Wege ‚gezeugt‘ worden zu sein, weil sie es vorziehen, aus einem Akt hervorzugehen, „an dem beide Elternteile simultan, in aller Regel bewussten Anteil haben“. (Vgl. Bernard 2014, S.126) Daß stattdessen irgendein Laborant oder eine Laborantin mithilfe eines Mikrokops unter den vorliegenden Spermien eine bestimmte Auswahl getroffen hat, ist für diese Spenderkinder „zum größten Teil nichts als Zufall“. (Vgl. ebenda)

Aber tatsächlich ist es genau umgekehrt: Wenn überhaupt von einer bewußten Entscheidung die Rede sein kann, dann ist es der Laborant, der sie trifft, und nicht die Eltern. Und wenn jemand nicht weiß, ob das, was er oder sie tut, nun Folgen hat oder nicht, sind das die potentiell künftigen Eltern. Am allerwenigsten weiß es der Vater, und er weiß es überhaupt erst dann, wenn es ihm die werdende Mutter offenbart. Und nicht einmal dann weiß er es wirklich, und konnte es auch nicht wissen, bevor es Bluttests gab. Der eigentliche Befruchtungsakt, der überhaupt nicht mit dem Geschlechtsakt zusammenfällt, findet in aller Verborgenheit und Unmerklichkeit statt.

Genau dieses biologisch vorgegebene Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wird nun von der Reproduktionsmedizin gewaltsam umgekehrt: das Verborgene wird ans Licht gezerrt und findet in aller Öffentlichkeit statt: in der Petrischale im Labor, auf dem mit dem „ICSI-Mikroskop“ verbundenen Bildschirm, in den Hörsälen der Universitäten und über in die Wohnzimmer ausgestrahlte Informationssendungen der öffentlichen Fernsehsender. An die Stelle der ungewollten Elternschaft von unvorsichtigen Teenagern tritt nun die reproduktionsmedizinisch unterstützte Elternschaft von arrivierten Mittelschichtsangehörigen, von willigen, aber bislang erfolglosen oder biologisch inkompatiblen Paaren und Singles.

Die ‚Politik‘ bzw. die Verkaufsstrategie der Reproduktionsmediziner besteht darin, diese neue Sichtbarkeit des Kindermachens mit einer Neudefinition von Elternschaft zu verbinden. Die „Aufspaltung von Sexualität und Reproduktion“ ermöglicht es, Elternschaft nur noch intentional zu definieren und dem Geschlechtsakt selbst jeden verpflichtenden Charakter zu nehmen. Dabei werden die Reproduktionsmediziner von Wissenschaftszweigen wie der Ethnologie und der Psychoanalyse unterstützt: „In der ethnologischen Theoriebildung wird die assistierte Empfängnis seit einem Vierteljahrhundert als Kronzeuge aufgerufen, um gegen den ‚biologischen Determinismus von Verwandtschaftskonzepten‘() zu argumentieren und das Kriterium der ‚sozialen Bindung‘ der genetischen als ebenbürtiges Ordnungsmodell gegenüberzustellen. Tatsächlich liefern Familien, deren Kinder aus Samen- und Eizellspenden oder durch Leihmutterschaft hervorgegangen sind, besonders anschauliche Konstellationen, wenn es darum geht, das selbstverständliche Primat des ‚Blutes‘ in der Auffassung von Verwandtschaft kritisch zu befragen. Intentionen und Verträge haben in diesen Familien einen höheren Wert für die Legitimation von Elternschaft und Nachkommenschaft ...“ (Bernard 2014, S.153)

Aus der Perspektive der Psychoanalyse kann man sogar sagen, daß mit der Freisetzung des Geschlechtsaktes vom „Imperativ der Fruchtbarkeit“ (Bernard 2014, S.440) eine Krankheitsursache, die im Laufe der Kulturgeschichte immer wieder zu psychischen Störungen geführt hat, aus der Welt geschafft ist. (Vgl. Bernard 2014, S.251f.) Bernards Verweis auf diese beiden Disziplinen, die Ethnologie und die Psychoanalyse, zeigt, daß wir es hier noch mit einer anderen Dimension der Unsichtbarkeit als der bloß biologischen zu tun haben. Beide Disziplinen, vor allem mit Lévi-Strauss und Freud als Protagonisten, neigen zu einem Strukturalismus, in dem nichts als das genommen wird, was es ist, sondern als sichtbares Symptom verborgener Strukturen. Eine am Wegrand liegende Melone ist keine Melone, sondern eine Nachricht an die vorbeigehende schwangere Frau. (Vgl. meinen Post vom 18.05.2013) Ein Schmucktäschchen ist kein Schmucktäschchen, sondern eine Muschi, die Dora ‚befingern‘ möchte. (Vgl. Freuds Fallgeschichte zu „Dora“ bzw. meinen Post vom 14.01.2014)

Das Kennzeichen eines solchen Strukturalismus ist es, Phänomene in Stellenwerte eines Systems zu verwandeln. Eine besonders geeignete Methode dafür scheint darin zu liegen, reale, unmittelbar erlebbare Beziehungen wie die zwischen Kindern und ihren Eltern und anderen nahen Verwandten um einen zentralen Abwesenden herum zu organisieren: den unsichtbaren Dritten. Als Beispiel nennt Bernard die heilige Familie: „Eine Glaubensgemeinschaft, die sich als Staatsreligion versteht, muss Menscheneinheiten bilden, die besser zu kontrollieren sind als große Dynastien. Die Heilige Familie (und ihre kontinuierliche Intimisierung in der Bilddarstellung) liefert diesem Vorhaben effektive ikonographische Munition – und das gerade auch durch ihre Abweichungen. Denn die Spaltung der Vaterfigur, in ‚die anwesende unzuständige und die abwesende, aber aus der Ferne herrschende patriarchale Instanz‘, erweist sich als politisch hochproduktive Familienkonstellation. In einem funktionsfähigen Staat, schreibt Albrecht Koschorke, sind solche ‚transzendenzhörigen Kleinfamilien‘ wie Maria, Joseph und Jesus dankbare Adressaten, ausgerichtet auf eine externe Autorität, deren ‚Direktiven im Namen des Vaters‘ ergehen.‘()“ (Bernard 2014, S.481f.)

Die Spaltung der Vaterfigur in einen sichtbaren Vater, Joseph, und in einen unsichtbaren Erzeuger, den Heiligen Geist, verwandelt die realen Beziehungen in etwas Imaginäres, in dem nichts das ist, was es zu sein scheint. Die heilige Familie wird so zur normgebenden Struktur für alle christlichen Familien, in denen sich jedes Mitglied seinem ‚Stellenwert‘ entsprechend auf den unsichtbaren Gott hin zuordnet; und sogar die Kirche sieht sich selbst in die Position bzw. den Stellenwert der ‚Braut Christi‘ versetzt.

Die ‚Politik‘ der Reproduktionsmediziner besteht darin, den biologischen Vater, also den Samenspender, unsichtbar zu machen, indem sie unter allen Umständen seine Daten geheimzuhalten versuchen: „Die strikte Geheimhaltung der Spenderidentität“ gewährleistet „die Gründung einer konventionellen Familie durch die sozialen Eltern. Die überzählige dritte Person, der anonyme Bote des Zeugungsstoffes, darf niemals in Erscheinung treten ...“ (Vgl. Bernard 2014, S.81) – Ohne Zweifel dient die Geheimhaltung der Spenderidentität auch dem Selbstschutz der Reproduktionsmediziner, die eventuelle, mit dem Scheitern der Ehen bzw. Partnerschaften ihrer Klienten einhergehende Vaterschaftsklagen vermeiden wollen oder die verhindern wollen, daß die Spenderkinder irgendwann Erbansprüche an den Samenspender stellen. Reproduktionsmediziner fühlen sich nur für ihre Leistungen bei der assistierten Empfängnis zuständig und lehnen jede über den Erfolg dieser Maßnahmen hinausgehende, das künftige Leben der Spenderkinder betreffende Verantwortung ab. (Vgl. Bernard 2014, S.124)

Aber die Maßnahmen der Reproduktionsmediziner gingen lange Zeit über das für dieses egoistische Interesse Notwendige weit hinaus. Bernard teilt die Geschichte der Reproduktionsmedizin in drei Etappen ein: „Ein halbes Jahrhundert lang stand die Behandlung im Zeichen möglichst reibungsloser Vertuschung; von den frühen achtziger Jahren an begann man, die Zeugungsweise offenzulegen, die sozialen Beziehungen aber weiterhin kategorisch über die biologischen zu stellen; und nun wird mehr und mehr der Versuch unternommen, die herkömmliche Bedeutung der Deszendenz in das System der Allianzen zu integrieren.“ (Bernard 2014, S.154)

Dabei gehen die neueren Versuche, die Deszendenz, also den biologischen Vater, in die mittels reproduktionsmedizinischer Unterstützung entstandenen Familien wieder zu integrieren, vor allem von den Familien aus, und nicht von den Reproduktionsmedizinern. Letztere erwarteten bis in die Gegenwart hinein von ihren Klienten, daß sie im Erfolgsfalle ihren Verwandten, Freunden und nicht zuletzt den Kindern selbst deren biologische Herkunft nach Möglichkeit verschwiegen. Das war mit der vertraglich festgehaltenen Pflicht der Lebenspartner zu vollständiger gegenseitiger Aufrichtigkeit verbunden, was wiederum auch rechtliche Implikationen hatte, um zu vermeiden, daß etwa einem der beiden Partner unwissentlich ein künstlich gezeugtes Kind untergeschoben wurde.

Diese gleichzeitige Verschwiegenheit und Offenheit steht als ein Paradox im Zentrum solcher durch assistierte Empfängnis gestifteten Familien: „Die Methode der Samenspende, so könnte man sagen, erfordert von den Paaren also eine präzise Logistik der Aufrichtigkeit: Gegenüber dem eigenen Kind, den Freunden und den Verwandten muss sie mit aller Konsequenz verborgen, gegenüber dem Ehepartner aber mit aller Konsequenz offengelegt werden. Im Vertrauen auf diese Spaltung liegt nach Ansicht der Gynäkologen die Formel für ein glückliches Familienleben. Der blinde Fleck der Argumentation besteht allerdings darin, dass genau jene Ehrlichkeit, die für eine stabile Ehe als unabdingbar gilt, im Verhältnis zum eigenen Kind und allen anderen nahestehenden Menschen vernachlässigenswert sein soll.“ (Bernard 2014, S.203f.)

Die Unsichtbarkeit des Samenspenders, die sich aus dieser gleichzeitig biologischen wie kulturellen Politik der Reproduktionsmediziner ergibt, hat nun Bernard zufolge einen die Familienkultur prägenden Effekt, vergleichbar dem des unsichtbaren Dritten: „In letzter Zeit hat die Kulturwissenschaft der Kategorie des Dritten besondere Aufmerksamkeit geschenkt – eine Figur, die, wie Michel Serres bereits vor dreißig Jahren in seinem Buch über den ‚Parasiten‘ untersucht hat, immer zwischen der Behinderung und der Ermöglichung von Zweierbeziehungen angesiedelt ist.“ (Bernard 2014, S.249)

Der unsichtbare Dritte lenkt den Blick der Zwei voneinander ab: sie sind nicht mehr der Spiegel des jeweils anderen, sondern in ihre Dyade, dem Humboldtschen Dualis, nistet sich ein Parasit ein, der die wechselwirkenden Energien absorbiert. Aufgrund der Trennung von Sexualität und Fortpflanzung und der von den Reproduktionsmedizinern tatkräftig unterstützten Verdrängung des biologischen Vaters durch den symbolischen Vater muß die „Sphäre, die wie keine andere auf der Intimität einer Zweierbeziehung beruht hat, sich für Dritte öffnen“. (Vgl. Bernard 2014, S.249) Mit anderen Worten: der verdrängte, unsichtbar gemachte Samenspender wird zum Kulturstifter: „Dass es gerade der ‚Dritte‘ ist, der natürliche Konstellationen in kulturelle verwandelt, haben die an der Wende zum 20. Jahrhundert entstehenden Wissenschaften vom Menschen ausdrücklich betont.“ (Ebenda) – Die kleinste Einheit der Kultur ist keine Dyade, sondern eine Triade. Erst die Triade eröffnet das strukturelle Spiel mit den Stellenwerten, das spannungsvolle ‚Bäumchen wechsel dich‘, wobei die Lücke des abwesenden Samenspenders (vgl. Bernard 2014, S.114f.) einen Sog auf die anwesenden Familienmitglieder ausübt, der sie irrealisiert.

Wenn sich also Spenderkinder – unabhängig davon, ob sie nun unter ihrer künstlichen Herkunft leiden oder nicht – über die Willkürlichkeit ihres Daseins empören, so nicht etwa deshalb, weil der natürliche Weg weniger zufällig gewesen wäre, wie Arthur Kermalvezen in seiner Autobiographie (2009) meint. (Vgl. Bernard 2014, S.126f.) Was ihn wahrscheinlich vor allem peinigt, ist der Gedanke an den verdrängten Dritten, seinen biologischen Vater, an dessen Stelle eine bezahlte Dienstleistung getreten ist. Schon Rousseau hat in seinem „Emile“ darauf hingewiesen, daß der Mensch nur die von Menschen verursachten Zwänge als ungerecht empfindet. Naturzwänge hingegen nimmt er hin, ohne sich gegen sie zu empören. Zumindestens wenn er geistig normal ist. Von Xerxes heißt es, daß er wegen eines Sturms, der ihn daran hinderte, das Meer zu überqueren, dieses Meer auspeitschen ließ und es sogar in Ketten legen wollte. Aber ansonsten sind wir eigentlich eher dazu geneigt, Naturereignisse ergeben hinzunehmen.

Auch Hans Blumenberg spricht davon, daß schon die auf natürlichem Wege zu ihren Kindern gekommenen Eltern diesen Kindern gegenüber eine letztlich uneinlösbare Schuld abzutragen haben, die darin besteht, deren Dasein zu rechtfertigen. (Vgl. meinen Post vom 11.07.2012) Diese Schuldverpflichtung ist bei der künstlichen Empfängnis noch einmal um einiges gewachsen. Wogegen sich also Kermalvezen empört, ist wohl eher diese Künstlichkeit seines Daseins, mit dem er glaubt, sich nicht eher befreunden zu können, als bis er den unsichtbaren Dritten gefunden hat, dem er es verdankt. Ein anderes Spenderkind, Hannah, die mit ihrem eigenen Dasein durchaus einverstanden ist, hat immerhin den Wunsch, dem Reproduktionsmediziner, in dessen Firma sie gezeugt wurde, gegenüberzutreten: „Damit er mich sieht und merkt: Seine Arbeit hat Folgen.“ (Bernard 2014, S.133) – Auch in diesem Wunsch steckt wohl ein Gutteil an Widerwillen angesichts der Gleichgültigkeit eines menschlichen Subjekts gegenüber den Folgen seines Tuns. Eine solche Gleichgültigkeit billigen wir nur Naturprozessen zu, nicht aber dem Menschen.

Es sind wohl letztlich doch nicht nur die Verträge und Allianzen, die eine Familie machen. In „The Kids Are All Right“, einem von einer lesbischen Regisseurin gedrehten Film über ein lesbisches Paar, das sich mit Hilfe der Reproduktionsmedizin einen gemeinsamen Kinderwunsch erfüllt – Bernard widmet diesem Film ein ganzes Kapitel seines Buches (vgl. Bernard 2014, S.83ff.) – wird dann auch Erstaunliches gezeigt: Beide Frauen lassen sich vom selben Samenspender befruchten und bekommen einen Sohn und eine Tochter. Warum vom selben Samenspender? Auch hier ist es wieder der unsichtbare Dritte, der etwas zwischen den beiden Frauen zu stiften hat, was durch sie selbst biologisch nicht möglich ist: Blutsverwandtschaft. Vermittelt über ihre Kinder sind die beiden Frauen nun im umfassenden Sinne miteinander verwandt. Und niemand in dieser Familie ist mehr das, was er ist, sondern etwas anderes.

Irgendwie erinnert mich das an den Garten von Herrn Ming, in dem jeder von irgendjemandem geliebt wird, aber keiner von dem, den man liebt.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen