„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 22. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Technik als Erweiterung menschlicher Fähigkeiten
2. Big Data

Hatte Leroi-Gourhan mit seinem Buch „Hand und Wort“ (1964/65) noch die verschiedenen Phasen der ‚Exteriorisierung‘ bzw. mit Gore: ‚Erweiterung‘ menschlicher Fertigkeiten vor allem auf Werkzeuge bezogen und von weiteren Phasen der Exteriorisierung/Erweiterung menschlicher Muskelkraft auf tierische Muskelkraft, auf Wind- und Wasserkraft bis hin zu den diversen fossilen Brennstoffen wie Kohle und Öl und schließlich bis zur Elektrizität gesprochen, und hatte er auch schon die Exteriorisierung der menschlichen Intelligenz in die Maschinenintelligenz thematisiert, so hatte er doch noch nicht die Exteriorisierung des menschlichen Unterbewußtseins in Betracht gezogen. Heidegger bezeichnet diese Qualität der Technik, die sich unabhängig von unserer bewußten Kontrolle vollzieht, als „Gestell“. (Vgl. meinen Post vom 23.04.2013) Auch Al Gore hat dafür ein Wort: „Big Data“. Umso unverständlicher ist es, daß er die Technik generell, also auch die Informationstechnologie, für ethisch neutral hält.

Al Gore bezeichnet diese Dimension des globalen Internets, die laufend Daten sammelt und am Menschen vorbei austauscht, wie z.B. das Internet der Dinge, als eine Art „Unterbewusstsein“, als „periphere(s) Nervensystem“. (Vgl. Gore 2014, S.93) Mit Hilfe neuer Algorithmen, so Gore, können „umfangreiche Datenmengen“, zu denen wir bislang keinen Zugang gehabt hatten, durchforstet und ausgewertet werden. (Vgl. ebenda) Gore spricht von „nützlichen Erkenntnissen“, die so gewonnen werden können, und vergleicht diesen rechnerunterstürzten Umgang mit von Rechnern erhobenen Daten mit dem Vorgehen von Psychologen und Philosophen, die ebenfalls ihr eigenes Bewußtsein oder das ihrer Klienten erforschen. (Vgl. Gore 2014, S.94)

An dieser Stelle kommt Gore übrigens auf die NSA und ihre Praktiken zu sprechen. Ohne schon von Snowden und seinen Enthüllungen zu wissen – Gores Buch ist 2013 erschienen –, kommt er schnell zur Sache, was diese „nützlichen Erkenntnisse“ betrifft: „Nach 9/11 wurden einem ehemaligen Mitarbeiter der National Security Agency zufolge ‚im Grunde alle Regeln über Bord geworfen, jeder Vorwand wurde genutzt, das Ausspionieren von Amerikanern zu rechtfertigen‘, auch das direkte Abhören von Telefonaten.() Nach Ansicht des ehemaligen leitenden NSA-Beamten Thomas Drake verwandelte der Kurswechsel nach 9/11 ‚die Vereinigten Staaten von Amerika rasch in ein Gebilde, das wie ein fremder Staat das Land mit einer flächendeckenden elektronischen Schleppnetzfahndung überzog‘.() Ein ehemaliger NSA-Mitarbeiter schätzt, dass die Behörde seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ‚zwischen fünfzehn und zwanzig Billionen‘ Nachrichten abgefangen hat.()“ (Gore 2014, S.125)

Gore erwähnt auch einen vom NSA 2011 angeschafften Computergiganten, der „unter anderem jedes Telefongespräch, jede E-Mail, jede SMS, jede Google-Suche und jede andere elektronische Kommunikationsform (verschlüsselt oder nicht) überwachen (kann), die von einem US-Bürger gesendet oder empfangen wird. All diese Daten werden dauerhaft für das Data-Mining gespeichert, also für die Auswertung der Datenbestände.“ (Gore 2014, S.128) – Man fragt sich unwillkürlich ob Snowden dort gearbeitet hat, bevor er sich mit seinen Unterlagen an die Weltöffentlichkeit wandte und schließlich ausgerechnet bei Putin – Schande über unsere Bundesregierung! (und natürlich auch über den Rest der ‚freien‘ Welt) – Unterschlupf fand.

Und Gore spricht durchaus, wie Kittler sagen würde, ‚Klartext‘. Er bezeichnet die NSA-Computer als das „aufdringlichste und mächtigste Datensammelsystem ..., das die Welt je gesehen hat“ (vgl. Gore 2014, S.128), und er stellt nüchtern fest, daß man vom „Apparat eines Polizeistaates“ sprechen könne (vgl. Gore 2014, S.126). Schon die Bush-Regierung, so Gore, hatte so etwas Ähnliches geplant gehabt, wie es dann unter Obama verwirklicht worden ist, und diesem Vorhaben den Namen „Total Information Awareness“ gegeben. (Vgl. Gore 2014, S.128)

„Total Information Awareness“: das könnte auch der Name Gottes sein. Er könnte den 99 Namen Allahs hinzugefügt werden, und er ist vielleicht der hundertste, den bislang keiner kannte. Aber wir können uns auch einfach damit begnügen, vom ‚Gestell‘ zu sprechen. Denn ein solch totales Bewußtsein wird dem Menschen immer verwehrt sein, selbst der NSA und ihren Mitarbeitern. Es werden die Maschinen sein, die darüber entscheiden, was davon sich für uns zu wissen lohnt. Übrigens – wie Herfried Münkler am Beispiel des Ersten Weltkriegs zeigt – letztlich kommt es nicht auf die Informationen an. Ein Zuviel-Wissen kann genauso zu politischen Fehlentscheidungen führen wie ein Zuwenig-Wissen. (Vgl. meinen Post vom 30.03.2014)

Man kann für ‚NSA‘ selbstverständlich auch ‚Google‘, ‚Amazon‘, ‚Facebook‘ etc. einsetzen. Aber am einfachsten ist es natürlich, wenn man einfach bei ‚Internet‘ oder ‚Gestell‘ bleibt.

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