„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 6. Februar 2013

Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012

1. Prolog
2. Evolution auf der Basis morphischer Resonanz
3. Der ‚Geist‘ in der Naturwissenschaft
4. Ganzheiten wie z.B. eine Welle
5. Die Metapher des Gravitationsfeldes
6. „Brauchen wir wirklich ein Gehirn?“
7. Rekursivität und Doppelblindverfahren
8. Eine zeitliche Anatomie des Körperleibs

Wenn man mal im quantifizierbaren Bereich bleibt, so ist es sicher bemerkenswert, daß unsere Vorfahren als Jäger und Sammler ein größeres Gehirn gehabt haben als wir selbst in unserer heutigen High-Tech-Zivilisation. Wir halten uns so viel zugute auf unsere formal-operativen Kompetenzen, die wir ‚primitiven‘ Kulturen gerne absprechen (vgl. meinen Post vom 20.01.2013), aber tatsächlich scheint es so zu sein, daß wir für diese formalen Intelligenzfunktionen kein besonders großes Gehirn brauchen.

Es fällt auch auf, daß herausragende mathematische Begabungen oft mit neurologischen Pathologien einhergehen. Man denke etwa an in dieser Hinsicht besonders auffällige Autisten. (Vgl. meinen Post vom 01.08.2012) Autisten weisen auch mit einem gestörten Körpergefühl einhergehende soziale Defizite auf. Das paßt zu dem evolutionsbiologischen Befund, daß das Gehirnwachstum vor allem mit gesteigerten Ansprüchen an die sozialen Kompetenzen einherging. Wo das Gehirn der Schimpansen an Gruppengrößen von 40 bis 50 Individuen angepaßt ist, ist das Gehirn von Menschen an Gruppengrößen von bis zu 150 Individuen angepaßt. Eine Zahl, die sich – nebenbei gesagt – auch nicht über Facebook aufstocken läßt, weil es hier ausschließlich um Nähebeziehungen geht, also neudeutsch: face to face.

Es ist also nicht die Mathematik, für die wir ein großes Gehirn brauchen. Man könnte es vielleicht sogar dahingehend zuspitzen – immer unter der Voraussetzung quantifizierbarer ‚Intelligenz‘ –, daß ein größeres, funktionierendes Gehirn für mathematische Begabungen eher hinderlich als förderlich ist. Sheldrake spitzt diese Frage angesichts normal intelligenter Menschen mit auffälligen neurophysiologischen Pathologien auf die Frage zu, inwiefern wir überhaupt ein Gehirn brauchen: „Zu besonders gravierenden Abweichungen vom normalen Bau eines Gehirns kommt es bei Menschen, die an Hydrocephalus leiden, volkstümlich Wasserkopf genannt. Bei dieser Krankheit ist die Schädelhöhle mehr oder weniger stark mit zerebrospinaler Flüssigkeit oder Liquor ausgefüllt. Der britische Neurologe John Lorber stellte fest, dass Menschen mit sehr stark ausgeprägtem Wasserkopf mitunter erstaunlich normal sind, was ihn zu dieser provokanten Frage veranlasste: ‚Brauchen wir wirklich ein Gehirn?‘ Er untersuchte die Gehirne von über sechshundert Hydrocephaluskranken und fand in etwa sechzig Fällen, dass die Schädelhöhle zu mehr als 95 Prozent mit Liquor ausgefüllt war. Manche dieser Menschen litten an ernsten Behinderungen und Entwicklungsstörungen, doch andere waren mehr oder weniger normal, und bei einigen lag der Intelligenzquotient über 100. Ein junger Mann, Absolvent der Sheffield-University mit einem erstklassigen Abschluss in Mathematik, hatte einen IQ von 126, aber ‚praktisch kein Gehirn‘. Bei ihm war die Schädelhöhle mit einer etwa einen Millimeter dicken Schicht von Gehirnzellen ausgekleidet und ansonsten mit Flüssigkeit gefüllt.() Jeder Versuch, sein Gehirn mit gängigen Mitteln wie etwa Vernetzungsdiagrammen zu erfassen, wäre zum Scheitern verurteilt. Die geistigen Funktionen und die Gedächtnisleistung waren bei ihm mehr oder weniger normal, und das mit einem Gehirn, das nur fünf Prozent der Normalgröße bietet.“ (Sheldrake 2012, S.255f.)

Sheldrake behauptet sogar, daß wir nicht mal für unser Gedächtnis ein funktionierendes Gehirn brauchen. Am Beispiel von Einzellern wie der Schirmalge und dem Trompetentierchen, die über keine Neurophysiologie verfügen (vgl. Sheldrake 2012, S.181 und 264f.), zeigt er, daß Erinnerungen offensichtlich auch auf eine andere Weise gespeichert werden können: „Das Gedächtnis des Trompetentierchens kann man nicht anhand von Veränderungen an den Nervenenden oder Synapsen erklären – es besitzt keine.“ (Sheldrake 2012, S.265)

Hier finde ich es besonders interessant, daß das Gehirn in bezug auf Lernen und Gedächtnis unterschiedlich funktioniert. Informationstheoretische Lehr-Lerntheorien setzen Lernen und Gedächtnis praktisch gleich. Lernen führt zur Bahnung und Verstärkung von neurologischen Netzwerken, die dann für künftige, der Lernsituation entsprechende Ernstfälle zur Verfügung stehen. Diese verstärkten neurologischen Netzwerke bilden also zugleich ein Gedächtnis in Form von durch Lernen angelegte ‚Erinnerungsspuren‘. Sheldrake kann nun aber zeigen, daß es solche Erinnerungsspuren nicht gibt. Wenn man nämlich bei Küken diese durch Lernen verstärkten Nervenbahnen operativ entfernt, können sich die Küken trotzdem weiterhin an das Gelernte ‚erinnern‘: „Sie (Steven Rose und Kollegen – DZ) richteten Küken durch einen Übelkeitsreiz darauf ab, nicht an kleinen farbigen Lichtern zu picken, und tatsächlich sahen die Küken (die ihrer Natur nach an allem picken) bei der nächsten Begegnung mit diesem Lichtreiz vom Picken ab. Jetzt untersuchten die Forscher die Gehirne dieser Küken und fanden, dass in einer bestimmten Region im linken Vorderhirn mehr aktives Wachstum und Entwicklung stattfanden, wenn etwas gelernt wurde.() ... Damit war jedoch nicht der Beweis verbunden, dass die aktiven Zellen spezifische Erinnerungsspuren enthielten. Wurde nämlich bei den Küken am Tag nach ihrem Training die Region der aktiven Zellen aus dem linken Vorderhirn entfernt, konnten die Küken das Gelernte trotzdem weiterhin anwenden. Die am Lernprozess beteiligte Hirnregion war für das Bewahren der Lerninhalte nicht erforderlich!“ (Sheldrake 2012, S.253)

Karl Lashley, ein Anhänger der Reflexbogentheorie des Gedächtnisses – das Gedächtnis bildet sich über die konditionierte Bahnung von Nervenverbindungen –, kam schließlich durch seine Experimente zu der Einsicht, daß sich das Gedächtnis nicht an lokalisierbaren neurologischen Netzwerken festmachen läßt, sondern ein „Aktivitätsmuster“ bildet, in der Art eines „Interferenzmuster(s) von Wellen“ an der „Oberfläche einer Flüssigkeit“. (Vgl. Sheldrake 2012, S.252) – Sheldrake ergänzt: „Folglich war das Erinnern für ihn ‚eine Art Resonanz zwischen sehr vielen Neuronen‘.() ... ‚Das Gedächtnis ist überall, aber nirgends im Besonderen.‘()“ (Ebenda)

Sheldrake hält es deshalb für wahrscheinlich, daß das Gedächtnis in Form von „elektro-magnetischen Feldern“ organisiert ist, die durch „Muster von Nervenaktivität“ erzeugt werden. (Vgl.S.256) Das würde auch die rätselhafte Synchronisierung von neurologischen Aktivitäten in verschiedenen Bereichen des Gehirns im „Gamma-Frequenzspektrum“ erklären, die Wolf Singer als „Korrelat von Gestaltphänomenen“ beschreibt. (Vgl. meinen Post vom 18.07.2011) Elektro-magnetische Felder könnten diese global verstreuten Aktivitäten synchronisieren und stabilisieren.

Sheldrake verwendet deshalb die Metapher vom Rundfunk und von Fernsehgeräten, die auf bestimmte Sendefrequenzen eingestellt sind: „Vor diesem Hintergrund scheint Erinnerungsvermögen eher auf Resonanz als auf chemischer Speicherung in den Nervenzellen zu beruhen. ... Erinnerungen eines Organismus beruhen vielleicht auf morphischer Resonanz mit seiner eigenen Vergangenheit. Das Gehirn könnte eher einem Fernsehgerät als einem Festplattenrecorder ähneln.“ (Sheldrake 2012, S.256)

Diese Metapher würde zugleich veranschaulichen, daß das Gedächtnis – im Unterschied zum Lernen – nicht vom Gehirn selbst organisiert wird; so wenig eben, wie die Fernsehsendung vom Fernsehgerät stammt, sondern nur von ihm empfangen wird. Das Gedächtnis wäre also von der Gehirnanatomie weitgehend unabhängig und bedürfte des Gehirns nur zu seine Aktualisierung. So wird z.B. auch bei der Verpuppung eines Schmetterlings die Anatomie der Raupe, einschließlich ihrer Neuroanatomie, vollständig umgebaut: „In der Puppe wird das Raupengewebe praktisch komplett aufgelöst, bevor sich die adulte Form bildet. Sogar das Nervensystem wird größtenteils abgebaut. Trotz all dieser Veränderungen während der Metamorphose können sich Falter offenbar an das erinnern, was sie als Raupe gelernt haben.“ (Sheldrake 2012, S.257)

Sheldrake schätzt deshalb die Plausibilität von molekularen Gedächtnistheorien – das Gehirn als ‚Speicher‘ – als gering ein, im Vergleich zu seinem eigenen Konzept, das auf hypothetischen morphogenetischen Feldern und der morphischen Resonanz beruht. (Vgl. Sheldrake 2012, S.275) Insgesamt wird dadurch auch der von den Neurophysiologen so häufig abgewertete ‚Restkörper‘ aufgewertet. Denn wenn das Gedächtnis auch bei einem beschädigten Gehirn funktioniert, muß man wohl davon ausgehen, daß der gesamte Organismus wie ein Gedächtnis funktioniert und so die pathologischen Gehirnfunktionen kompensieren kann.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen