„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 21. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Ich habe schon in meinen Posts vom 16.02. und vom 18.02.2013 darauf hingewiesen, daß der Intersubjektivität, an der sich Habermas orientiert, die materielle Basis fehlt. Nach Habermasens Darstellung beruht die Evolutionsgeschichte vor allem auf kognitiven Schüben: „Die folgende, sehr grobe Skizze der Weltbildentwicklung ist ein Vorschlag, drei Zäsuren auf dem Wege ‚von den Weltbildern zur Lebenswelt‘ als kognitive Schübe zu begreifen, die zu erweiterten Weltbildperspektiven geführt haben.“ (Habermas 2012, S.28).

Habermas zählt zwei (vgl. Habermas 2012, S.73) bis drei (vgl. Habermas 2012, S.29, 32, 34) solcher Schübe auf, von denen der erste in der sogenannten ‚Achsenzeit‘ um 500 vor unserer Zeitrechnung liegt, wo „in Persien, Indien und China, in Israel und Griechenland die bis heute wirksamen religiösen Lehren und kosmologischen Weltbilder“ entstehen (vgl. Habermas 2012, S.29), der zweite im europäischen Mittelalter über den Nominalismus „in Richtung eines dezentrierten Begriffs der Welt als der Gesamtheit physikalisch beschreibbarer Zustände und Ereignisse“ geht (vgl. Habermas 2012, S.32) und mit dem dritten Schub „zum säkularen und verwissenschaftlichten Weltverständnis der Moderne ... sich erneut die begriffliche Konstellation von Lebenswelt, objektiver Welt und Alltagswelt (verändert)“ (vgl. Habermas 2012, S.34).

Die menschliche Evolution bezeichnet Habermas insgesamt als „kulturellen, sich immer weiter beschleunigenden“ Lernprozeß, der den „Mechanismus von Mutation und Selektion“ ablöst, indem er an dessen Stelle die „reziproke() Verwendung von Symbolen“ setzt. (Vgl. Habermas 2012, S.87) Bei der Darstellung des beschleunigenden Effektes einer vollausgebildeten Sprache auf die kulturelle Entwicklung versäumt es Habermas, auf die Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu verweisen. Stattdessen spricht er summarisch von „pragmatischen Rahmenbedingungen“: „Für eine symbolisch vermittelte Kommunikation ‚sprachlichen‘ Charakters genügt der konventionalisierte Austausch von Gesten. Dafür ist die Beherrschung einer grammatischen Sprache noch nicht nötig. Der semantische Gehalt, den beispielsweise Interjektionen, Einwortsätze oder kindliche Gesten ausdrücken, besteht – wie beim Ausruf ‚Feuer!‘, der sich gleichzeitig auf einen Vorgang bezieht, Furcht ausdrückt und um Hilfe bittet – aus einem Syndrom von drei noch ungetrennten Elementen: der Wahrnehmung einer Episode oder eines Zustandes in der Welt, den Expressionen der jeweils eigenen Stimmungen oder Affekte sowie den dazugehörigen, an Andere gerichteten Imperativen und Verhaltenserwartungen.()“ (Habermas 2012, S.88)

Wo aber für die „evolutionär entscheidende Innovation“ die „Beherrschung einer grammatischen Sprache noch nicht nötig ist“, bedarf es auch keiner Schriftlichkeit, um die eigentliche kulturelle Revolution in Gang zu bringen. Sogar zur „grammatischen Verknüpfung solcher einfachen semantischen Konventionen“, zu denen „es im Laufe von Phylo- bzw. Ontogenese“ kommt, mit ihren aus „referentiellen und prädikativen Ausdrücken zusammengesetzten Struktur von Aussagen“ und der „Unterscheidung zwischen propositionalen Bestandteilen und dem illokutionären Modus ihrer Verwendung“ (vgl. Habermas 2012, S.89) brauchen wir nur die mythologischen Erzähltraditionen mit ihrer „extravaganten Syntax“ (vgl. Tomasello (2009) und meine Posts vom 26.04. und vom 27.04.2010) und keine eigene Schriftlichkeit. Habermas ordnet den Mythos dem „sakralen Komplex“ zu und spricht von „Mythen und Riten“. (Vgl. Habermas 2012, S.78f.) Ein Blick auf die evolutionären Zeiträume einer solchen Mündlichkeit zeigt aber, daß sich hier in der Menschheitsentwicklung nicht viel tut. Ich verweise auf Habermasens eigene Darstellung:
„Wenn wir den sakralen Komplex verstehen wollen, müssen wir auf die kulturanthropologischen Beobachtungen von sogenannten modernen Naturvölkern zurückgreifen, aus denen sich Rückschlüsse auf die bis ins 11. Jahrtausend v.Chr. zurückreichenden neolithischen Lebensformen ziehen lassen. Denn in den jüngeren literarischen Zeugnissen und archäologischen Funden der besser zugänglichen frühen Hochkulturen spiegelt sich bereits die Rekonstruktion eines älteren Bestandes an Mythen und Riten. Dessen Ausarbeitung und literarische Fortbildung hat seit etwa 3000 v.Chr. unter dem Einfluss der Interessen staatlich organisierter Herrschaft und auf dem Niveau eines sich herausbildenden historischen Bewusstseins stattgefunden. Die Anfänge des sakralen Komplexes reichen allerdings auch hinter die jüngere Steinzeit noch weit zurück. Die ältesten in Australien aufgefundenen Felsenmalereien, die auf Kultstätten schließen lassen, werden auf ein Alter von 50.000 Jahren datiert, während die erste bei homo sapiens nachgewiesene Bestattung etwa 100.000 Jahre alt ist. Aus dieser Zeit stammen auch die ältesten Funde von Schmuckgegenständen. Das unverwüstliche Material dieser Muschelperlen erinnert freilich daran, dass noch ältere mythische Erzählungen und rituelle Handlungen in den flüchtigeren Medien von Rede, Gesang und Tanz gar keine Spuren hinterlassen haben können.() Daher gibt es naheliegende Spekulationen über ältere, hinter die archäologischen Funde zurückreichende Ursprünge des sakralen Komplexes in der Periode der Entstehung von homo sapiens und homo neanderthalensis aus dem älteren homo heidelbergensis (vor 300.000 bis 100.000 Jahren).“ (Habermas 2012, S.78f.)
So verliert sich die kulturelle Phylogenese immer weiter in die Vergangenheit – Günter Dux spricht sogar von einem Zeitraum von 1,8 Millionen Jahren (vgl. meinen Post vom 10.09.2012) – und man weiß nicht recht, wo man die Beschleunigung der kulturellen Evolution nun eigentlich genau hindatieren soll, eine ‚Beschleunigung‘ die sich über hunderttausende von Jahren erstreckt und mehr an biologische Zeiträume denken läßt als an im engeren Sinne kulturelle. (Vgl. meinen Post vom 18.11.2012)

Es ist zwar in dem ausführlichen Zitat auch von einer etwa 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung einsetzenden literarischen Fortbildung der Mythen und Riten die Rede, wie etwa in Blumenbergs „Arbeit am Mythos“ (1979), aber anders als Blumenberg geht Habermas auch hier mit keinem Wort auf den fundamentalen Einschnitt in der kulturellen Evolution ein, den diese literarische Bearbeitung des Mythos bedeutete. Dabei liefert die Umstellung von der Mündlichkeit auf die Schriftlichkeit, die vor etwa 5000 Jahren begann, eine materielle Erklärung für ein neues Welt- und Selbstverhältnis, in das jene kognitiven Schübe, von denen Habermas spricht, eingebettet sind.

War der Mensch, folgt man Plessner, aufgrund der Anatomie seines Körperleibs in eine exzentrische Position zu sich und seiner Welt geraten, so war er in den langen Jahrzehntausenden und Jahrhunderttausenden auf der Basis einer Mündlichkeit, die kulturelles Wissen nur im drei bis vier Generationenrhythmus weitergeben konnte, nach dem alles, was weiter zurücklag als 80 Jahre, zur grauen Vorvergangenheit ferner Ahnen gehörte, in eine Welt eingebettet, die sich niemals änderte, sondern zyklisch wiederholte. Der exzentrischen Positionalität der Individuen entsprach keine gesellschaftliche Struktur. Die Gemeinschaft, in der dieser Mensch lebte, basierte auf Verwandtschaftsbeziehungen und dem Gabentausch.

Erst mit der Schrift begannen sich die Menschen Gedanken über ihre Vergangenheit zu machen und sogar das Bedürfnis zu entwickeln, anders zu leben als die Vorfahren und etwas Neues mit dem eigenen Leben anzufangen. (Vgl. hierzu Assmann und meinen Post vom 05.02.2011) So wurde die Schrift zur materiellen Basis einer exzentrisch positionierten Kulturalität, ähnlich wie der Körperleib die materielle Basis der exzentrischen Positionalität des individuellen Menschen bildet. Erst jetzt, wo sich die individuelle und die gesellschaftliche Anatomie entsprachen, konnten sich beide wechselseitig dynamisieren und genau jene kulturelle Beschleunigung in Gang setzen, von der immer gerne geredet wird, wenn es um die Menschheitsentwicklung geht, die aber tatsächlich erst vor 5000 Jahren einsetzt.

Wenn man wissen will, wie sich die Schrift auf unser Verhältnis zu unserem Körper ausgewirkt hat, kenne ich nichts Besseres als Christina von Brauns „Der Preis des Geldes“ (2/2012). (Vgl. meine Posts vom  09.11. bis zum 22.12.2012)

PS (13. Dezember 2020):
Meine Kritik an Habermasens Fortschrittsgeschichte konzentriert sich hier auf die Vernachlässigung der Schrift als kulturelles Beschleunigungsmoment. Es gibt aber noch ein anderes Moment, das Habermas konsequent unterschlägt und auch in seinem neuesten Werk, „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2 Bde., 2019), kommt es nicht vor: der Beginn des Patriarchats vor drei- bis viertausend Jahren. In meiner aktuellen Lektüre, „Ursprünge und Befreiungen. Eine dissidente Kulturtheorie“ (2011) von Carola Meier-Seethaler, beschreibt die Autorin, wie der Wechsel vom Matrizentrismus zum Patriarchat zur Etabierung einer ‚Kultur‘ der fortschreitenden Zerstörung der planetaren Lebensgrundlagen durch eine ihr destruktives Potential fortwährend steigernde Technologie, wie wir sie heute vor Augen haben, geführt hat.
Im Titel des Buches steht „Ursprünge“ für den „Beginn unserer heutigen Kulturbasis“, also für das Patriarchat, mit dem ein „tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel“ einhergegangen ist. (Vgl. CMS 2011, S.27) Dabei ist das Patriarchat in seinen Ursprüngen motiviert durch die biologische „Outsiderposition“ des Mannes, nämlich nicht gebären zu können. Viele Jahrzehntausende, Jahrhunderttausende, je nachdem wie weit man den homo sapiens zurückdatiert, war den Menschen nicht bewußt, daß der Mann zum Zeugungsakt eines Kindes was beitrug. Die Rolle des Vaters hatte immer der Bruder der Mutter inne. Diese Unkenntnis war auch durch eine „Ovulationshemmung“, die es heute nicht mehr gibt, während der drei- bis vierjährigen Stillzeit bedingt, in der die Mutter Sex haben konnte, aber nicht ‚befruchtet‘ werden konnte. ‚Befruchtung‘ ist übrigens wieder so ein verfälschender Terminus, weil die ‚Frucht‘ ja nicht vom Mann stammt, sondern von der Frau.
Als dann über die Viehzucht im Neolithikum der Beitrag des Mannes erkannt wurde, begannen die Männer diesen ‚Zeugungsakt‘ so zu überhöhen, daß sie auf lange Sicht, also im Verlauf von mehreren Jahrtausenden, allmählich die matrizentrische Kultur verdrängten und, vor allem in den letzten drei- bis viertausend Jahren, ihre ‚Minderwertigkeit‘ hinsichtlich der Gebärfunktion mit Hilfe des Patriarchats überkompensierten.
So viel zu den ‚Ursprüngen‘. Was die „Befreiungen“ betrifft, geht es der Autorin um eine gleichzeitig gesellschaftliche wie individuelle „Befreiung zur Partnerschaft“, in der sich die „Fragen der Sexualität ebenso neu zu stellen haben, wie die Frage nach der Ehe oder anderen dauerhaften Gemeinschaften“. (Vgl. CMS 2011, S.34) Dabei ist Meier-Seethaler zwar Feministin, aber sie hält nach wie vor an der verschiedenartigen Körperlichkeit von Männern und Frauen fest. Männer können eben nicht Kinder gebären; das macht auch psychologisch einen Unterschied. Letztlich gibt es der Autorin zufolge nur eine Ebene, auf der Frauen und Männer ursprünglich gleich sind: im „Überlebenskampf in der Natur“ und in ihrer „existenziellen Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen“: „Dabei waren weder die psychischen Schöpfungen von Mythos und Kult noch die materiellen Kulturinnovationen dem männlichen Geschlecht vorbehalten, vielmehr spricht alles dafür, dass sowohl im sozialen wie im kulturellen Bereich zunächst ein Ungleichgewicht zugunsten der Frau bestanden hat, was zu vielschichtigen Kompensationen auf der Seite des Mannes führte.“ (CMS 2011, S.30f.)
Was die „Befreiungen“ betrifft, im Sinne einer Partnerschaft auf Augenhöhe, spricht Meier-Seethaler im Plural, also von einer Vielzahl individueller Befreiungen in den Paarbeziehungen, zu denen zwar ein unterstützendes, nicht mehr patriarchales gesellschaftliches Milieu gehört, das aber nicht als ein Zwangskollektivismus verstanden werden darf. Die Beziehungsarbeit ist zu einem großen Teil eine individuelle. So verstehe ich die Autorin jedenfalls.
Mich spricht Meier-Seethalers kulturtheoretische Analyse an. Sie entspricht meiner eigenen psychischen Verfassung; meinem Offline-Projekt, meinem Begehren eine andere Gestalt zu geben. Habermasens Fortschrittsgeschichte krankt daran, daß er die Unvernunft in der Vernunft nicht thematisiert. Er bleibt weitgehend blind für das destruktive Potential einer patriarchal deformierten Wissenschaftlichkeit, die alles Subjektive und Emotionale aus ihrem Horizont ausblendet. Nur so kann sich diese Fortschrittsgeschichte als Fortschritt bis heute behaupten; eine kleine Weile noch.

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