„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 19. Mai 2012

Rekursivität und Programmierung

(Käte Meyer-Drawe, Menschen im Spiegel ihrer Maschinen, München 2/2007 (1996))

Während Joas einer bloßen Verknüpfung von Genesis und Geltung nicht genügend Bindungswirkung zutraut, so daß er glaubt, ihr noch eine metaphysische Garantie für die Sakralität der Person beifügen zu müssen (vgl. meinen letzten Post), verweist Meyer-Drawe auf eine Entwicklung, die mit Ludwig Feuerbach (1804-1872) ansetzt, der die vom Menschen auf seinen Gott projizierten Qualitäten zurückholen und sie ihrem ursprünglichen Eigner zurückgeben wollte, die aber stattdessen zum gegenwärtigen „Konkubinat von Kybernetik und Metaphysik“ führt (vgl. M.-D. 2/2007, 164), in dem die Maschinen an die Stelle der ehemaligen göttlichen Projektionsfläche treten: „Projizierte der Mensch ehemals seine Vollkommenheitsentwürfe in seinen Gott, der unendlich und unsterblich war, so imaginiert er sich heute in informationsverarbeitenden Systemen, die seine Vorzüglichkeiten übernehmen, ohne unter seinen Mängeln zu leiden. Es sind vor allem die Visionen einer postbiologischen Gesellschaft, die auf ihre Weise an der Verwirklichung des Traums von der Unsterblichkeit der Seele und der Diskriminierung unseres Leibes arbeiten. ... Daß er sterblich ist, teilt der Mensch mit anderen Lebewesen, daß er dies weiß und sich zu diesem Wissen verhält, ist sein Specificum.““ (M.-D. 2/2007, S.31)

Weit entfernt also von der Notwendigkeit einer zusätzlichen metaphysischen Motivationsquelle sieht Meyer-Drawe in einer solchen göttlichen Garantie vor allem „eine grundsätzliche Verkennung des Menschen, die darin besteht, daß er sich vom Dauerhaften, vom Identischen, vom Faßlichen her versteht.“ (Vgl. M.-D. 2/2007, S.152) – Das im Einleitungskapitel „Der ‚achte‘ Tag“ festgehaltene Resultat ihres Vergleichs der Menschen mit ihren Maschinen besteht deshalb in der Feststellung: „Menschen sind als leibliche Wesen endlich. Sie sind ihrem imaginierten Gott ganz und gar unähnlich.“ (M.-D. 2/2007, S.33)

Meyer-Drawes Buch bildet in diesem Post gewissermaßen die ‚Begleitmusik‘ für die Einführung einer weiteren Graphik zur Rekursivität (vgl. meinen Post vom 14.04.2012), in der es um den Zusammenhang von Rekursivität und Programmierung geht. Dieser Graphik liegt Meyer-Drawes Analyse des kartesianischen „cogito“ zugrunde. Dieses „cogito“ (cogito ergo sum) führt alle Gewißheiten der Wahrnehmung und der Lebenswelt, auf die einzige Gewißheit der Erkenntnis zurück, daß ich es bin, der denkt. Dabei werden res cogitans, also das denkende Ich, und res extensa, also alle Gegenstände der Wahrnehmung, so radikal voneinander getrennt, daß die beiden Relata nicht mehr miteinander versöhnt werden können. Alles, was ich denke, ist von nun an unbestreitbar gewiß, und alles, was ich wahrnehme, ist von nun an unwiederbringlich zweifelhaft.

In der weiteren Entwicklung führt diese Trennung von Denksubjekt und Wahrnehmungsgegenstand zur Entwicklung von „Geistmaschinen“ (vgl. M.-D. 2/2007, S.64 u.ö.), also den heutigen Computern, in die die seelische Erbmasse der res cogitans übergegangen ist, und zu der Schaffung virtueller Realitäten, in die die welthaltige Erbmasse der res extensa übergegangen ist. Plessners präsentisches Bewußtsein wird zur „Telepräsenz“: „Telepräsenz und virtuelle Realitäten suggerieren die Möglichkeiten reiner Intelligenz. In der Telepräsenz, in der Impulse des Gehirns an eine Maschine übertragen werden, lebt man ‚sozusagen im Körper des Roboters; das Bewußtsein befindet sich dort, wo der Roboter ist – eine echte Entstofflichung.‘ ... Während sich in der Telepräsenz die res cogitans selbständig macht, verschwindet in der virtuellen Realität die Wirklichkeit und wird zu einem Traum.“ (M.-D. 2/2007, S.189) – Ein Beispiel dafür, wie sehr wir inzwischen „im Körper des Roboters“ leben und dafür jeder Empathie für die Befindlichkeit des Menschen entbehren, liefert Metzinger mit seinem Ego-Tunnel, der die existentielle Verzweiflung künftiger Robotergenerationen antizipiert. (Vgl. meinen Post vom 13.05.2010)

Der Titel von Metzingers „Ego-Tunnel“ liefert zugleich die Metapher für das armselige Bewußtseinskonzept der künstlichen Intelligenz, – die black box: „Maschinen spiegeln uns eine dürftige Form unseres Verhaltens und unseres Denkens wider, nämlich die Form, die nach Regeln herstellbar ist, eine Organisation ohne Überraschungen.“ (M.-D. 2/2007, S.195) – Wir verstehen zwar nicht, was im Inneren der black box geschieht, aber es funktioniert. Daß es funktioniert, ist das Einzige, was wir wissen müssen. Und weil es funktioniert, können wir es machen. ‚Leben‘, ‚Bewußtsein‘, ‚Gedächtnis‘ bleiben also zwar letztlich unverstandene Phänomene, aber wir lassen einfach Simulationen an ihre Stelle treten. Simulationen – siehe die virtuellen Welten – sind zum letzten Ziel unserer Erkenntnis geworden.

Im Grunde ist unser ganzes wissenschaftliches Wissen nie etwas anderes als Simulation gewesen. Basiert das Wissen der Lebenswelt auf dem Wahrnehmungsglauben (vgl. M.-D. 2/2007, S.141, 176, 186, 188f.; vgl. auch meine Posts vom 13.01.201206.02.2012 und vom 10.02.2012), so trennt die Wissenschaft inzwischen ein „Abgrund“ von diesem Wahrnehmungsglauben. (Vgl. M.-D. 2/2007, S.61, 119) Ihr reicht es, zu wissen, wie etwas funktioniert, ein Wissen, das um so ‚rationaler‘ ist, je mehr es der Lebenswelt und dem Wahrnehmungsglauben widerspricht, – je mehr es also auf der Gewißheit einer mathematisch gefaßten rex cogitans beruht und sich von einer sinnlich erfahrenen rex extensa entfernt. Wenn man weiß, wie etwas funktioniert, kann man es nachmachen, also simulieren. Erst das simulierbare Ergebnis ist wissenschaftliches Wissen par excellence.

Im weiteren Schritt kann man sagen: Nur was ‚funktioniert‘ – also Wissen –, kann auch simuliert werden. Was nicht funktioniert, kann auch nicht simuliert werden. Dazu gehört alles Nicht-Wissen, das in Form eines Unbewußten bzw. Unterbewußten ‚fungiert‘. Dazu gehören Meyer-Drawe zufolge das Vergessen und – mit Bezug auf Plessner – das Lachen. (Vgl. M.-D. 2/2007, S.36u.ö.) Mit Blumenberg könnte man noch das Einschlafen und das Aufwachen hinzufügen. (Vgl. „Höhlenausgänge“ (1989), S.11-19)

In dieser abgründigen Loslösung vom Wahrnehmungsglauben wird die Wissenschaft blind für die Welt, – sie verwandelt sich selbst in eine black box: „Der Mensch, der alles seinem Wissen unterwerfen will, verschließt sich in seinen Beschreibungen gegen das, was er nicht selbst ist. Diese Verschließung, in der der Mensch gleichsam zum schwarzen Loch wird, in dem die Welt verschwindet ..., geht einher mit der Grundstruktur sicherer Erkenntnis ...“ (M.-D. 2/2007, S.118)


Das erinnert an das „Loch“ der camera obscura, von dem Friedrich Kittler behauptet, daß es gegen Null tendiert. (Vgl. meinen Post vom 03.05.2012) Von dieser Vorstellung ausgehend habe ich nun meine Graphik konzipiert. In dieser Graphik stelle ich wie in den anderen beiden Graphiken zur Rekursivität zwei Bewußtseinsmodelle einander gegenüber: in diesem Fall ‚Mensch‘ und ‚Maschine‘. Die Maschine bildet eine black box in Form der camera obscura. Die Analogie besteht vor allem in dem gegen Null tendierenden Loch (je kleiner, um so schärfer die Auflösung), durch das der ‚Lichtstrahl‘ der Programmierung (G) in das Innere der Kamera eindringt und dort ein ‚verkehrtes‘, also auf den Kopf gestelltes Modell des Menschen auf die ‚Rückwand‘ der Kamera projiziert. Diese Umkehrung soll das von Meyer-Drawe beschriebene Verkennungsverhältnis zwischen Mensch und Maschine zum Ausdruck bringen.

Der Projektionsstrahl der Programmierung besteht aus Algorithmen, die bestimmte mathematisierbare Intelligenzfunktionen des Menschen simulieren. Die Programmierung beinhaltet also ausschließlich die Wissensebene (E) der menschlichen Rekursivität. Alle anderen Ebenen von (A) bis (D) einschließlich (F) werden von diesem Projektionsstrahl nicht mittransportiert. Mit Bezug auf die Graphik bedeutet das, daß diese rekursiven Ebenen prinzipiell nicht simulierbare Vollzüge darstellen. Das simulierbare (E) bleibt in der black box des Computers flächig; es hat keine Tiefe.

‚Tiefe‘ erhält die Programmierung erst über das Interface, dessen Prinzip vor allem darin besteht, dem menschlichen User eine virtuelle Welt vorzuspiegeln, die er nun mit allen seinen Bewußtseinsmomenten ‚füllen‘ kann. Er projiziert also – wie bei Phantomgliedmaßen oder bei Maschinen, mit denen er über ein neuronales Interface verbunden ist – Sinn in die Maschine. Dieser Sinn hat die Struktur eines Sinns von Sinn und eröffnet nun das in die Tiefe des Bewußtseinsbrunnens hinabreichende rekursive Spiel mit sich selbst.

Es ist also nicht der Programmstrahl, der das Licht einer künstlichen Intelligenz in die black box der Maschine hineinträgt – jedenfalls nicht, wenn diese künstliche Intelligenz der menschlichen Intelligenz gleichen soll –, sondern es ist die narrative Mathematik des Interface, die den Menschen einlädt, die Bewußtseinslücken der Programmierung mit Sinn zu füllen.

Meyer Drawes Ausführungen zur Verdopplung des sich selbst reflektierenden Ich in ein Ich-Subjekt und in ein Ich-Objekt (vgl. M.-D. 2/2007, S.79-91) geben mir hier den Anlaß, die Rekursivität selbst noch einmal in sich zu differenzieren. Bislang hatte ich eher undifferenziert mal von einer den Anderen wie mich einbeziehenden Rekursivität (Tomasellos gemeinsame Aufmerksamkeit) und mal von einer in der eigenen Subjektivität sich verlierenden Rekursivität (Unbewußtes/Unterbewußtes) gesprochen. In meiner Graphik bezieht sich die zweite Rekursivitätsform vor allem auf die Ebenen der Wahrnehmung (A), als dem die Außenwelt konstituierenden Vollzug, und der Erinnerung (B), als dem die Innenwelt konstituierenden Vollzug. Diese Ebenen bilden Vollzüge wie das Vergessen und das Lachen bei Meyer-Drawe, die der Subjekt/Objekt-Differenz des Ich – als sich selbst als denkendes Ich wahrnehmendes Ich – uneinholbar vorausliegen: „Wichtig für unseren Zusammenhang ist, daß im Vollzug des immer genaueren Bestimmens des wissenden Selbstbezugs sich auch immer deutlicher zeigt, daß die Differenzen des Ich auf einem Fundament ruhen, das selbst nicht Gegenstand der Erkenntnis sein kann. ... Das Bewußtsein des Ich bedeutet Bewußtsein der Trennung von Subjekt und Objekt der Bewußtseinsaktivität.“ (M.-D. 2/2007, S.87)

Diese Struktur, sich selbst immer nur hinterher zu sein und sich in Richtung auf den Vollzug immer nur zu verspäten, bildet das Prinzip der zweiten Rekursivitätsform. Wir haben es hier gewissermaßen mit der Fundamentalbestimmung von Rekursivität zu tun, aus der sich der rekursive Raum zwischen Subjekt und eigener Subjektivität (Innenweltbezug) sowie zwischen Subjekt und anderen Subjekten bzw. den Objekten unserer Außenwelt eröffnet. Aus der ambivalenten Doppelstruktur, Leib zu sein (wahrnehmen, schlafen, vergessen, lachen, niesen etc.) und Leib zu haben (denken, handeln, sprechen etc.) entspringt der rekursive Bezug auf die verschiedenen Ebenen unserer eigenen Bewußtseinsprozesse und von anderen, uns ähnlichen Bewußtseinsprozessen.

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