„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 2. Mai 2012

Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesungen 1999, Berlin 2011

1. Kittlers Antihumanismus
2. Das Reelle und das Berechenbare
3. Medienverbundsysteme und die Einheit der Sinne (Plessner)
4. Standards und Stile
5. Das Subjekt als unendlicher Fluchtpunkt (Rekursivität)
6. Rekursivität und Resonanz
7. Leichen, Heilige und Löcher

Die eindimensionale Linie, mit deren Hilfe sich der Schall aufzeichnen läßt, bildet eine Frequenzkurve, deren Amplituden sich in Metern und Sekunden messen lassen. Kittlers Fixierung auf dieses temporale Moment führt, wie ich schon in meinem Post vom 08.04.2012 angemerkt habe, zu einer Abwendung von der Voluminosität des Klangs, die Plessner zufolge das Spezifikum des menschlichen Gehörs ausmacht (vgl. meinen Post vom 15.07.2010 zu Plessner). Sind also bei Kittler die den Schall kennzeichnenden Frequenzkurven spezifisch eindimensional, im Unterschied zur Zweidimensionalität des Lichtes, so ist der Klang bei Plessner spezifisch dreidimensional, – übrigens interessanterweise im Unterschied zum eher eindimensionalen „Sehstrahl“, der Plessner zufolge der euklidischen Geometrie zugrunde liegt. Kittler bezieht sich auch auf den Sehstrahl (vgl. 1999/2011, S.54), allerdings nur als einer Verwechslung der eigentlichen Strahlungsrichtung: denn das Licht strahlt ja nicht aus den Augen ab, sondern von den Gegenständen, und dringt von diesen her durch die Pupille ins Auge ein.

Demzufolge wäre Plessner also ein Irrtum unterlaufen, als er vom Sehstrahl sprach. Es ist letztlich aber nur eine Frage der ‚Blickrichtung‘. Da Kittler das Subjekt des Sehens grundsätzlich verleugnet, kann für ihn der Licht-Strahl nur von Gegenständen und Leinwänden abstrahlen und nicht in Form bewußter Wahrnehmung, eben als Seh-Strahl, vom Auge ausgehen. Im Sehstrahl steckt für Kittler einfach zuviel subjektive Aktivität.

Wir haben also eine Umkehrung der Dimensionalitäten von Gehör und Gesicht bei Kittler und bei Plessner. Läßt Kittler vom Gehör nur noch die eindimensionale Frequenzlinie gelten, so kommt es Plessner vor allem auf dessen Dreidimensionalität an. Und verweist Kittler vor allem auf die Zweidimensionalität des Lichts (auf Photos, Leinwänden, Monitoren), so betont Plessner eher die Eindimensionalität des Sehstrahls, was den Gesichtssinn ja für das repräsentative Bewußtsein bzw. den ‚Geist‘ besonders brauchbar macht.

Von der Dreidimensionalität des Klangs spricht Kittler in „Optische Medien“ nur an zwei Stellen: einmal als „Außenraumakustik“ (vgl. 1999/2011, S.234) und einmal als „Raumklangeffekt“ (vgl. 1999/2011, S.257). Bei der ersten Stelle geht es um den „Doppelgängerschreck“ (1999/2011, S.234), wenn wir unser Abbild im Film oder unsere Stimme auf dem Tonband als unerträglich empfinden. Letzteres führt Kittler eben auf die fehlende Innenakustik „zwischen Kehlkopf, eustachischer Röhre und Innenohr“ (ebenda) zurück. Bei der Stimme vom Tonband bleibt uns nur die Außenraumakustik, und da wird uns dann die eigene Stimme fremd.

Bei der zweiten Stelle geht es eben genau darum, worum es Kittler nicht geht: um Resonanz. Beim „Musiksignal“ sollte man Kittler zufolge tunlichst von „Raumklangeffekten“ absehen, weil sich eben alles Wesentliche am Schall in „einer zwar komplexen, aber einzigen Schwingung in der Zeit“ abspielt. (Vgl. 1999/2011, S.257) Außenraumakustik und Raumklangeffekte sind also in Kittlers Medienanalysen überflüssige und deshalb zu vernachlässigende Größen. Nicht mal als Störungen kommen sie in Betracht, weil das Rauschen ja im Zuge der Digitalisierung vollständig berechenbar und damit kontrollierbar geworden ist.

Dennoch muß gerade im Rahmen dieses Blogs noch einmal ausdrücklich auf die funktionale Verwandtschaft zwischen Rekursivität und Resonanz verwiesen werden. Denn der Resonanzraum ist genau der Ort, in dem das menschliche Bewußtsein sich zu einer Welt ausdehnt, was Plessner ja als Voluminosität bezeichnet. Hier kann es seine rekursiven Bahnen ziehen, die Innenraum und Außenraum gleichermaßen umfassen.

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