„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 16. Mai 2012

Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011

1. Existentieller Historismus
2. Genesis und Geltung
3. Historische Individualität und Subjektivität
4. Lebenswelt und Gewalt
5. Lebenswelt und Praktiken
6. Unaufgehobene Potentiale

Hans Joas zeichnet nach, wie der Begriff der Seele im 19. Jhdt. nach und nach aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwunden ist, bis er schließlich im 20. Jhdt. im „Begriff des Selbst“ mündete, „den wir heute in Psychologie und Soziologie verwenden.“ (Joas 2011, S.214) Mit diesem Begriff des Selbst wurde der ursprüngliche Bedeutungsumfang des Begriffs der Seele auf den Aspekt der „Selbstreflexivität“ (Joas 2011, S.226) reduziert: „Von den meisten Interpreten, mich eingeschlossen, wurde diese Transformation von der Seele zum Selbst bisher als epochaler Durchbruch in der Geschichte der Sozialwissenschaften betrachtet, als echte Errungenschaft amerikanischen Denkens ...“ (Joas 2011, S.215)

Inzwischen aber sieht sich Joas genötigt, sich wieder auf jene „Bedeutungskomponenten“ des zu Unrecht verabschiedeten Seelenbegriffs zurückzubesinnen, die im Begriff des Selbst unberücksichtigt bleiben: „Meine These ist, daß der Seelenbegriff drei Bedeutungskomponenten enthielt, sich der dominante Strang des Pragmatismus jedoch nur um die Transformation einer dieser Komponenten bemühte. Die Bedeutung von ‚Seele‘ war reicher, als diese Denker erkannten.“ (Joas 2011, S.216) – Neben der Selbstreflexivität handelt es sich Joas zufolge bei den beiden anderen Komponenten um die Momente der „Unsterblichkeit“ und der „Verantwortung“ des Menschen. (Vgl. Joas 2011, S.223) Wir haben es also mit religiös motivierten, metaphysischen Fragen zu tun, die in einer engen Verbindung mit dem Geltungsanspruch der Menschenwürde stehen: „Der Begriff der Seele hatte eine metaphysische Garantie für das enthalten, was ich die Sakralität der Person nenne, das heißt die Annahme eines heiligen, nicht durch eigene Leistungen erworbenen, aber auch nicht verlierbaren und zerstörbaren Kerns jedes menschlichen Wesens.“ (Joas 2011, S.224)

So gesehen hängt der Begriff der Seele eng mit einer anderen, ebenfalls religiös motivierten Frage nach dem Wert des Lebens zusammen, die Joas unter dem Stichwort der „Gabe“ behandelt. (Vgl. Joas 2011, S.232-250) Da uns das ‚Leben‘ bzw. unsere ‚Seele‘ ‚geschenkt‘ wurde, sind wir nicht frei, darüber zu verfügen wie über irgendeine Sache. Wir haben eine Verantwortung dem Leben gegenüber. Auch diese Verantwortung gegenüber einer Gabe ist somit eine weitere metaphysische Quelle für die Sakralität der Person.

Es sind also vor allem diese im Begriff des Selbst unaufgehobenen, in eine religiös-metaphysische Dimension hineinreichenden Potentiale des traditionellen Seelenbegriffs, die Joas nun als „dynamische Kraft“ (Joas 2011, S.42) für eine auch in Zukunft lebendige Praxis der Menschenrechte genutzt wissen will. Dabei legt er einerseits Wert darauf, daß wir es bei diesen Potentialen nicht mit Potentialen konkreter Religionsgemeinschaften zu tun haben. Auch nicht religiös Gläubige „haben so gesehen etwas, das ihnen heilig ist.“ (Joas 2011, S.95) – Und: „Der Terminus ‚Sakralisierung‘ darf nicht so aufgefaßt werden, als habe er ausschließlich eine religiöse Bedeutung. Auch säkulare Gehalte können die Qualitäten annehmen, die für die Sakralität charakteristisch sind: subjektive Evidenz und affektive Intensität.“ (Joas 2011, S.18)

Aber indem der rationalistische Trend der Verwandlung von ‚Seele‘ in ‚Selbst‘ die beiden Bedeutungskomponenten der Unsterblichkeit und der Verantwortung aus dem wissenschaftlichen Prozeß eliminierte, geriet ein entscheidendes Moment der personalen Selbstbestimmung in Vergessenheit: sich selbst nicht gemacht zu haben; nicht der „Quell seiner eigenen Heiligkeit“ zu sein (vgl. Joas 2011, S.87). Schon William James hatte deshalb zu Beginn dieser Entwicklung gemahnt: „Tatsache ist, daß wir es uns nicht leisten können, auch nur einen einzigen der großen traditionellen Gegenstände des Glaubens verächtlich zu behandeln.“ (Joas 2011, S.222)

Joas’ Interesse an einer Neubewertung der unaufgehobenen Potentiale der ‚Seele‘ ist also vor allem ein metaphysisches. Ohne eine solche die Grenzen des menschlichen Verstandes überschreitende Ausrichtung hält er den Geltungsanspruch der Menschenrechte institutionell wie motivational für nicht genügend verankert. Letztlich glaubt er, die affirmative Genealogie mit ihrer Verknüpfung von Genesis und Geltung noch mit einer Metaphysik ausstatten zu müssen.

Aber auch hier bleibt am Begriff der Seele noch etwas unbemerkt, auf das Plessner hingewiesen hat und was ihn zur Konzeption eines antimetaphysischen Seelenbegriffs veranlaßt hat. Auch Plessner hält am traditionellen Seelenbegriff fest, nicht weil er ihm eine objektive oder gar substantielle Gültigkeit zuspricht, sondern weil auch er den Bedeutungsreichtum dieses Begriffs nutzen will, – allerdings auf nicht-metaphysische Weise. (Vgl. meinen Post vom 31.12.2010) Anstatt also die Seele aus einem religiösen Kontext heraus zu verstehen, führt er sie auf die menschliche Leiblichkeit zurück, was bei Plessner vor allem heißt: auf die exzentrische Positionalität des Menschen.

Der religiöse Kontext ist kontaminiert mit einer auf das Dogma von der  Erbsünde zurückgehenden Körperfeindlichkeit, die die Seele dem Körper substantiell entgegensetzt. Die Unsterblichkeit der Seele ging tendenziell immer auf Kosten der Sterblichkeit des Körpers. Auch bei Joas schimmert diese Körperfeindlichkeit durch, wenn er von der „konstitutiven Relation der Person zum Göttlichen“ schreibt, die der Vorstellung einer Seelensubstanz zugrunde liegt (vgl. Joas 2011, 229). Die konstitutive Relation der Person zum Körper bleibt hier unerörtert. An anderer Stelle heißt es sogar mit ausdrücklichem Bezug auf die Unsterblichkeit, daß die Person, um sie „nicht auf ihren Körper (zu) reduzieren“, nicht mit dem „Tod des Körpers“ enden dürfe. (Vgl. Joas 2011, S.239)

Plessner hingegen beschreibt den Menschen als eine in der körperlichen Anatomie begründete exzentrische Positionalität: er ist sein Leib, wie er gleichzeitig einen Leib hat. Daraus wiederum erklärt sich die ambivalente Struktur seiner Expressivität: er ist gleichzeitig nach außen sichtbar, wie er nach innen verborgen ist. Da der Mensch mit seiner exzentrischen Positionalität also weder Mitte noch Peripherie ist, oder eben beides zugleich, kann er in seiner Mitte nur auf vermittelte Weise sein. Mit anderen Worten: um vor sich selbst verständlich zu sein, muß er sich anderen gegenüber ausdrücken.

Dieses Bedürfnis, bei sich zu sein, kann also nur über die Zuwendung zur Außenwelt und zum anderen Menschen befriedigt werden, muß aber aufgrund der Ambivalenz von Leibsein und Leibhaben immer wieder scheitern. Der jeweils gefundene Ausdruck ist immer von der Angst durchsetzt, mißverstanden zu werden. Genau dieses Hin und Her von dem Bedürfnis, sich zu zeigen und verstanden zu werden, und der Angst, mißverstanden zu werden und deshalb zurückzuschrecken und sich zu maskieren, bezeichnet Plessner als ‚Seele‘. Und ihr Zustand ist ein „Noli me tangere“. (Vgl. meinen Post vom, 14.11.2010)

Was also Joas „Sakralität der Person“ nennt und als modernes Tabu beschreibt, das ist eben bei Plessner im wesentlichen ein Tabu des „Noli me tangere“. Dafür braucht es keine Metaphysik, sondern nur ein unendliches Zurückschrecken vor der Sichtbarkeit, verbunden mit dem gleichzeitigen unstillbaren Bedürfnis nach dieser Sichtbarkeit. Ich denke, daß die Plessnersche Seelenkonzeption keine schlechtere Garantie für die Sakralität der Person bildet als die Joassche Konzeption. Es ist eine Konzeption expressiver Solidarität unter körperlich konstituierten Intelligenzen, die keinen anderen Halt an sich und anderen haben, als die Geschichten, die sie einander erzählen. Und genau deshalb ist eben Joas’ Projekt einer affirmativen Genealogie um so wichtiger. Denn diese liefert die Geschichten, die die subjektive Evidenz einer solchen Solidarität begründen können, einer Solidarität, die dann auch über die Gegenwart hinausreichen und künftige Generationen umfassen kann.

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