„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 21. Februar 2012

Rekursivität und vertikale Verankerung

In meinem Post vom 05.02.2011 hatte ich Assmanns Begriff der vertikalen Verankerung mit dem Begriff der Haltung als einer individuellen Positionierung des Menschen im Raum und in der Zeit verknüpft. Damit wollte ich auf einen Grenzbegriff im Sinne der Plessnerschen exzentrischen Positionalität hinaus, also im Sinne einer Grenze zwischen Innen und Außen (räumlich) und zwischen Vergangenheit und Zukunft (zeitlich). Ich hatte dabei noch nicht an die damit zusammenhängende Thematik der Rekursivität gedacht, wie sie von Tomasello am Beispiel der menschlichen Kommunikation diskutiert worden ist. (Vgl. meinen Post vom 25.04.2010)

Erst im letzten Post vom 12.02.2012 ist mir klar geworden, daß die Rekursivität des menschlichen Selbstbewußtseins einer haltgebenden Struktur bedarf, wenn wir uns nicht auf den verschiedenen Ebenen unserer vielfältigen intentionalen Akte im Unendlichen verlieren wollen. Dieses Problem ist in der Philosophie als regressus ad infinitum bekannt. Letztlich ist die Rekursivität (ich weiß, daß ich weiß, daß ich weiß ...) ein Aspekt der Reflexivität. Zunächst scheint es sich um ein recht banales Problem von wechselseitigen Spiegelungseffekten zu halten, etwa wenn sich jemand zwischen zwei Spiegeln aufhält und seine Person in einer sich unendlich fortsetzenden Reihe gespiegelt sieht.

Aber diese Spiegelungen unterscheiden sich nicht im einzelnen voneinander. Sie sind identisch. Es macht also qualitativ keinen Unterschied, ob ich in einen Spiegel oder in zwei Spiegel schaue und mich nur einmal gespiegelt sehe oder unendlich oft: ob ich also denke, daß ich denke, oder ob ich denke, daß ich denke, daß ich denke usw. Von dieser Art ist auch das sokratische „Ich weiß, daß ich nichts weiß!“, das inhaltlich völlig unbestimmt ist. Hier macht es überhaupt keinen Sinn eine weitere Metaebene hinzuzufügen: „Ich weiß, daß ich weiß, daß ich nichts weiß!“ – Die dritte Ebene fügt den anderen beiden Ebenen nichts hinzu. Es würde auch keinen Sinn machen, Bejahungen und Verneinungen zu variieren, weil nur logischer Nonsens dabei rauskommen würde, etwa: „Ich weiß nicht, daß ich weiß!“

Aber es macht sehr wohl einen Unterschied, ob ich weiß (A), daß ich den Kaffeeautomaten abgeschaltet habe (B), als ich in den Urlaub fuhr, oder ob ich denke (A), daß ich weiß (B), daß ich den Kaffeeautomaten abgeschaltet habe (C), als ich in den Urlaub fuhr. Es macht einen Unterschied, ob ich glaube (A), daß der Passant, den ich nach dem Weg gefragt habe, den richtigen Weg weiß (B), daß er verstanden hat (C), daß ich diesen Weg wissen will, und daß er bereit ist (D), mir sein Wissen mitzuteilen, so daß ich problemlos an mein Ziel gelange; oder ob ich glaube (A), daß der Passant, den ich nach dem Weg gefragt habe, den richtigen Weg weiß (B), und daß er verstanden hat (C), daß ich diesen Weg wissen will,

–    dieser Passant aber leider nur glaubt (D'), daß er den Weg, nach dem ich ihn gefragt habe, weiß (E'), so daß er zwar bereit ist (F'), mir dieses ‚Wissen‘ mitzuteilen, dieses Wissen aber leider falsch ist (G'), wie ich kurz darauf feststelle (H'), nachdem ich mich hoffnungslos verfahren habe;

–    oder dieser Passant den Weg tatsächlich weiß (D''), daß er aber trotz seiner Absicht (E''), mir den richtigen Weg zu beschreiben, bei der Beschreibung (F'') die Straßen durcheinanderbringt, so daß die Wegbeschreibung leider falsch ist (G''), wie ich kurz darauf feststelle (H''), nachdem ich mich hoffnungslos verfahren habe;

–    oder dieser Passant den Weg tatsächlich weiß (D'''), daß er sich aber einen Spaß daraus macht (E'''), mir den falschen Weg zu beschreiben (F'''), so daß die Wegbeschreibung leider falsch ist (G'''), wie ich kurz darauf feststelle (H'''), nachdem ich mich hoffnungslos verfahren habe.

Rekursivität im Tomaselloschen Sinne beinhaltet also zwar auch die Möglichkeit einer prinzipiell unabschließbaren Aufspaltung und Vervielfältigung von Bewußtseinsebenen, so wie auch die Reflexivität. Aber die Rekursivität geht über bloß logische Spiegelungen hinaus. Die verschiedenen Bewußtseinsebenen sind inhaltlich qualifiziert. An der Grenze zwischen Innen und Außen und zwischen Vergangenheit und Zukunft erstrecken sich die intentionalen Akte in die jeweiligen Richtungen nach innen und nach außen (mich selbst und den Passanten betreffend), nach hinten und nach vorne (ich selbst als derjenige, der die Kaffeemaschine ausgemacht hat oder nicht, und als derjenige, der inzwischen in den Urlaub gefahren ist).

Die prinzipiell unabschließbare Aufspaltbarkeit selbstbewußter Intentionalität bedarf, wie schon im letzten Post angedeutet, einer haltgebenden Struktur, die wir als Haltung oder mit Assmann als vertikale Verankerung bezeichnen können. Haltung bzw. vertikale Verankerung ermöglichen es uns, uns an der Gegenwartsgrenze zwischen gerade vergangen und noch nicht geschehen zu ‚halten‘, ohne in die Vergangenheit oder in die Zukunft hinein abzustürzen. Sie ermöglichen es uns, zu verhindern, daß wir nach innen als ‚Ich‘ zersplittern oder uns nach außen ins ‚Du‘ oder ‚Wir‘ verlieren.

Letztlich aber ist Rekursivität noch mehr als ein dynamischer Prozeß des menschlichen Selbstbewußtseins. In all ihrer Ambivalenz bildet Rekursivität doch auch ein Moment innerer Freiheit. Wie sehr wir auch manipulativen Medien und Zwängen ausgesetzt sein mögen: welche rekursiven Reaktionen nach innen sie letztlich wirklich auslösen, ist unkontrollierbar. In diesen rekursiven Reaktionen analysiert und bewertet das Individuum alles, was ihm widerfährt. Ob es dabei auf bestimmten Ebenen verharrt oder plötzlich auf eine andere Ebene springt, wo sich alles in einem völlig neuen Licht darstellt, kann keine Macht der Welt determinieren.

Rekursivität ermöglicht es sogar, den Spieß umzukehren, wie ich es in diesem Blog schon mehrmals am Beispiel der zweiten Naivität beschrieben habe. (Vgl.u.a. meinen Post vom 24.01.2011) Indem ich mich über eine Intentionsebene, auf der ich einen bestimmten Bewußtseinsakt naiv vollziehe, erhebe und diesen in seiner Naivität durchschaue, kann ich über diese Naivität verfügen, wie z.B. der Passant, der sich über die Situation des Nach-dem-Weg-Fragens erhebt und sie in einen persönlichen Spaß verwandelt, indem er eine falsche Auskunft gibt. Daß er sich selbst dabei wiederum naiv verhält, durchschaut er entweder nicht oder es ist ihm egal.

Durchschauen wir die Naivität unserer Bewußtseinsvollzüge, so stehen uns prinzipiell zwei Wege offen: wir werden (a) zu Zynikern, wie der Passant, der spaßeshalber eine falsche Auskunft gibt, oder wir nutzen unsere Naivität (b), um situationsadäquate Entscheidungen zu treffen. Rekursivität eröffnet uns also eine Chance: nämlich anstatt der ersten Naivität beliebig viele Naivitätsebenen hinzuzufügen das Einnehmen einer ‚Haltung‘ oder auch: vertikale Verankerung.

Nachtrag 03.03.2012: Ein schönes Beispiel für Rekursivität liefert der Film „Slumdog Millionär“. Ein Junge aus den Slums von Bombay nimmt an einer Quizsendung teil und steht vor der Beantwortung der 10 Millionen-Rupien-Frage: zwei mögliche Antworten, eine richtige, eine falsche. Der Moderator gibt dem Jungen auf der Toilette einen Tip. Als Motiv erzählt er ihm, er wäre auch mal ein Slumdog gewesen, und er sei bisher der einzige, der es geschafft habe, sich zum Millionär hochzuarbeiten. Nun könne er gut mitempfinden, was der Junge gerade durchmache.

Wieder auf Sendung wählt der Junge nicht die Antwort, die ihm der Moderator vorgesagt hat, sondern die andere. Diese Antwort ist richtig; der Moderator hatte gelogen.

Welche Metaebenen spielte der Junge im Kopf durch? Folgender innerer Monolog ist denkbar: Der Moderator sagt (A), daß er selbst einmal ein Slumdog gewesen ist (B), daß er deshalb (C) mit mir mitempfindet und (D) mir helfen will. Er sagt mir, daß ich (E) die Antwort „B“ wählen soll. Ich weiß (A), daß der Moderator (B) mich von Anfang an in der Sendung vor dem Publikum lächerlich gemacht und mich nicht für voll genommen hat. Ich habe die Erfahrung gemacht (C), daß uns Slumdogs (D) das eigene Hemd näher ist als das Wohl des anderen und daß deshalb (E) Mitleid und Solidarität bei uns Fremdwörter sind. Ich glaube deshalb (F), daß es wahrscheinlicher ist, daß (G) der Moderator mich reinlegen will. Ich werde deshalb (H) in der Show die Antwort „D“ wählen.

Nun ist das mit solchen rekursiven Überlegungen so eine Sache: sie sind instabil, und bei der kleinsten Veränderung von Situationen springt man von einer Metaebene in die andere, wie Elektronen in ihrer Wolke Quantensprünge machen. Moderatoren wissen das und fragen in solchen Quizsendungen gerne nach: „Du willst also ‚D‘ wählen? Bist Du Dir da ganz sicher?“  ̶  Normalerweise reicht das schon aus, um den Rater zu verunsichern und sich anders entscheiden zu lassen. Aber so hartnäckig der Moderator auch bohrt,  ̶  der Junge bleibt bei seiner Antwort: „Nein, ich bin mir nicht sicher!“  ̶  „Aber Du bleibst bei Deiner Antwort?“  ̶  „Ja!“

Das ist vertikale Verankerung. In der ganzen Quizsendung, die sich über mehrere Tage oder Wochen erstreckt, bleibt der Junge bei seinen Entscheidungen. Er läßt sich kein einziges Mal durch den Moderator verunsichern. Er vertraut seinen Intuitionen und weiß von den Fallstricken der Naivität. Das hat er als Slumdog gelernt. So kann ihm die Naivität  ̶  als zweite Naivität  ̶  zum Mittel werden, und er hat es nicht mehr nötig, seinen eigenen Verstand dem Moderator unterzuordnen.

Nebenbei erfährt man übrigens etwas darüber, was Bildung ist: nicht das, was Universitätsprofessoren wissen. Ausgebildete Akademiker sind nämlich schon viel früher aus der Quizsendung ausgeschieden als der Slumdog. Der Slumdog aber verbindet mit allen Fragen, die ihm gestellt werden, Lebenserfahrungen. Und diese Lebenserfahrungen haben einen Sinn. Sogar der Benjamin Franklin auf der Hundertdollarnote, nach dem er in der Quizsendung gefragt wird, hat einen Sinn im Leben des Jungen. Nur deshalb ist er sich zwar nicht seiner Antworten, aber seiner selbst sicher. Dieser Sinn verankert ihn, läßt ihn eine innere Haltung finden. Worin dieser Sinn besteht?  ̶  Da müßt Ihr Euch den Film schon ansehen ...

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1 Kommentar:

  1. Also nachdem ich beim ersten Leseversuch aufgrund der Rekursivität des Textes vor Lachen unter dem Tisch lag - muss ich leider gestehen, das das Thema doch auch seine sinnvollen Seiten hat, nimmt man das Beispiel aus dem indischen Film.

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