„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 19. November 2024

Individuelles Allgemeines: Cornelia Funke

1. Die Tintenwelt-Trilogie
2. Der vierte Band

Wie schon im letzten Blogpost angekündigt, soll es hier um die Tintenwelt-Trilogie (2003-2007) von Cornelia Funke und um ihr letztes Jahr erschienenes Tintenweltbuch „Die Farbe der Rache“ (2023) gehen. Ich hatte geschrieben, daß es sich, was das Individuelle Allgemeine betrifft, bei den Tintenweltbüchern um eine Antithese zu „Kleine freie Männer“ (2003/2005) von Terry Pratchett handele. Eine solche Antithese sind sie insofern, als wir es bei den Tintenweltbüchern nicht nur mit Skizzen zu tun haben, die die konkrete Welt auf wenige allgemeine Wörter reduzieren. Tatsächlich aber sind sich Funke und Pratchett im Wesentlichen erstaunlich einig.

Das zeigt sich an verschiedenen, über die ersten drei Bücher verteilten Stellen, wo Funke der Tintenwelt ähnliche magische Eigenschaften zuschreibt wie Pratchett der Feenwelt. So denkt z.B. Meggie, Mortimers Tochter, einige Zeit, nachdem sie in die Tintenwelt übergewechselt ist: „Das Leben war viel schwieriger in Fenoglios Welt, und doch schien es Meggie, als spinne seine Geschichte mit jedem anbrechenden Tag einen Zauber um ihr Herz, klebrig wie Spinnenfäden und gleichzeitig betörend schön ... Alles um sie her schien inzwischen so wirklich. Ihr Heimweh war fast verschwunden.“ (Funke 2005, S.270)

Fenoglios Buch übt also auf seine Leserschaft eine ähnliche Macht aus, wie die Feenkönigin über die Menschen, die es, aus welchen Gründen auch immer, in ihr Reich verschlagen hat. Auch der Autor selbst, Fenoglio, gerät eher unfreiwillig in die Tintenwelt, die er selbst erschaffen hat, und merkt bald widerwillig, daß er, obwohl ihr Schöpfer, von seiner eigenen Geschichte gefangen genommen wird:

„Nein, er hing nicht an Fäden wie diese dumme Puppe, mit der Baptista manchmal auf den Märkten auftrat (auch wenn sie ihm etwas ähnlich sah). Nein, nein, nein. Keine Fäden für Fenoglio, ob Wort- oder Schicksalsfäden. Er hatte sein Leben gern in den eigenen Händen und verwahrte sich gegen jede Einmischung ‒ auch wenn er zugab, dass er selbst sehr gern der Puppenspieler war. Es blieb dabei: Seine Geschichte war einfach etwas aus dem Ruder gelaufen. Niemand schrieb sie. Sie schrieb sich selbst! Und nun war sie eben auf diesen dummen Einfall mit dem Riesen gekommen!“ (Funke 2007, S.637)

Es stellen sich auch dieselben Fragen, so etwa der kleinen Hexe im Feenkönigreich, als sie merkt, daß dort alles flach ist, ohne Räumlichkeit und Zeit. Und Meggie fragt sich: „Wie weit reichte Fenoglios Welt? Nur gerade so weit, wie er sie sich ausgemalt hatte?“ (Funke 2005, S.210)

Aber im Zentrum von Funkes Romantrilogie steht doch die von mir erwähnte Antithese zu Pratchett. Die Tintenwelt ist nicht flach. Sie hat eine eigene Tiefe und ihre eigene, vom Autor (Fenoglio) unabhängige Erzählrichtung. Ständig weichen die Figuren von der vom Autor vorgegebenen Handlung ab, und es treten sogar neue Figuren auf, von denen Fenoglio bislang nichts gewußt hatte. So wehrt er sich gegen Elinors Vorwürfe, die ihn für das Desaster, das dem Fortgang der Geschichte droht, verantwortlich macht: „Und warum ist Cosimo dann tot? Habe ich geschrieben, dass Mortimer das Buch so bindet, dass es den Natternkopf bei lebendigem Leib faulen lässt? Nein. War es meine Idee, dass der Schnapper eifersüchtig auf ihn ist und die Hässliche plötzlich ihren Vater töten will? Keineswegs. Ich habe diese Geschichte nur gepflanzt, aber sie wächst, wie sie will, und alle verlangen, dass ich voraussehe, welche Blüten sie treiben wird!“ (Funke 2007, S.520f.)

Es gibt sogar eine Stelle, in der die Tiefenschärfe der Geschichte, ähnlich wie im bloß zweidimensionalen Feenkönigreich, thematisiert wird: „Es tat gut zu reiten, einfach nur zu reiten, während die Tintenwelt sich vor ihnen entfaltete wie ein kunstvoll zusammengelegtes Papier. Und mit jeder Meile zweifelte Mo mehr daran, dass all das wirklich erst durch Fenoglios Worte entstanden war. War es nicht viel wahrscheinlicher, dass der alte Mann nur ein Berichterstatter gewesen war, der von einem winzigen Ausschnitt dieser Welt erzählt hatte, einem Bruchteil, den sie schon lange hinter sich gelassen hatten? Fremde Berge säumten den Horizont und Ombra war weit. Der Weglose Wald schien ebenso fern wie Elinors Garten, die Nachtburg nichts als ein finsterer Traum ...“ (Funke 2007, S.470)

Es gibt also denkwürdige Parallelen und Unterschiede in den von Funke und Pratchett beschriebenen Phantasiewelten, und diese Unterschiede haben etwas mit dem Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem zu tun. Funke legt dabei den Fokus auf die Schlüssellochfunktion der auf Papier niedergeschriebenen Wörter. Zwar reduziert dieses Schlüsselloch die wahrgenommene Welt auf einen winzigen Ausschnitt, aber dahinter verbirgt sich eine ganze unendliche Welt.

Das Seltsamste an der ganzen Konstruktion der Tintenwelt ist, daß das Buch, um das es geht und das den Titel „Tintenherz“ trägt, mit dem ersten Band der Trilogie, der ebenfalls den Titel „Tintenherz“ (2003) trägt, nicht identisch ist. Das Buch, das wir in der Hand halten und das wir lesen, handelt von demselben Buch, das wir gar nicht lesen! Von seiner Geschichte erfahren wir nur indirekt über ihre Figuren, die von Mortimer versehentlich aus ihrer Tintenwelt herausgelesen worden sind. Denn zunächst wechseln ja die Figuren im Buch in die reale, ungeschriebene Welt, bevor seine Leser ab dem zweiten Band in die geschriebene Buchwelt wechseln, die dann aber nicht mehr die Tintenwelt des Buchs ist, um das es im ersten Band geht, sondern inzwischen eine andere, veränderte Welt.

Bevor ich jetzt darauf eingehe, wie dieser Wechsel von einer Welt zur anderen funktioniert, versuche ich die Frage zu beantworten, was es eigentlich mit dieser seltsamen Erzählkonstruktion auf sich hat. Wieso schreibt Funke ein Buch, in dem es um ein Buch gleichen Titels geht, dessen Geschichte nirgendwo niedergeschrieben ist und nur ausschnittsweise aus der Figurenperspektive ,erzählt‛ wird? Ein Buch, das also gewissermaßen ein Schlüsselloch in einem Schlüsselloch ist?

Ich denke, das macht insofern Sinn, als jetzt im Band „Tintenherz“ das Buch „Tintenherz“ zur Hintergrundgeschichte wird, zu der die verschiedenen Figuren, stellvertretend für die Leserinnen und Leser, unterschiedliche Perspektiven beisteuern können und so die ganze Geschichte jetzt offen dafür wird, wie das ,Ganze‛ sich weiterentwickelt, weil wir Leserinnen und Leser, die das Originalbuch nicht gelesen haben, ja nicht wissen können, was dieses Ganze eigentlich genau ist. Das Originalbuch kann jetzt also jedes mögliche ,Ende‛ haben, weil wir dieses Ende nicht kennen! Und aus demselben Grund kann es auch alle möglichen Welten beinhalten. Wie Fenoglio zu Meggie sagt: „Glaub mir: Diese Geschichte ist ein Labyrinth!“ (Funke 2007, S.468)

Was tritt jetzt an die Stelle des Originals, das wir nicht kennen? Unsere Phantasie! Für diese Phantasie stehen der Autor, Fenoglio, und die verschiedenen Vorleser, die mit ihren Stimmen seinen Worten Leben verleihen und so den Verlauf der Geschichte beeinflussen Und letztlich wir Leser, die sie weiterspinnen. Bezeichnender Weise ,vergißt‛ Fenoglio an einer Stelle im dritten Band das den Unterschied markierende Präfix, wenn er sich über seine finanziell prekäre Situation in der Tintenwelt beklagt: „Er hätte einen Leser gebraucht, um seine Worte in klingende Münzen zu verwandeln, und er war nicht sicher, ob Meggie oder ihr Vater ihm für solch prosaische Ziele ihre Zunge geliehen hätten.“ (Funke 2007, S.56)

Es hätte natürlich „Vorleser“ heißen müssen, aber Fenoglio denkt stattdessen an einen „Leser“. Diese Unachtsamkeit ist für jemanden, dessen Eitelkeit als Autor solche Ausmaße annimmt wie bei Fenoglio ‒ er platzt fast vor Stolz über seine von ihm erschaffene Welt ‒, keine Kleinigkeit. Nie würde er zugeben, daß er als Autor von gewöhnlichen Leserinnen oder Lesern abhängig wäre.

Tatsächlich aber ist er abhängig: und zwar von Vorlesern! Denn Fenoglio kann zwar Geschichten schreiben, aber er kann sie nicht vorlesen. Er kann sie nicht so vorlesen, wie es z.B. Mortimer kann, oder Meggie, oder Darius, oder ,Orpheus‛ (wie er, ehemaliger Leser der Tintenwelt und nicht minder eitel als Fenoglio, sich selbst gerne nennt). Alles übrigens Menschen aus der ungeschriebenen, realen Welt! Unter den Figuren der Tintenwelt befinden sich keine Vorleser, die die Gabe haben, ihre Welt real werden zu lassen bzw. den weiteren Verlauf ihrer Geschichte zu manipulieren. Mit einer Ausnahme! Aber dazu gleich mehr.

Zunächst einmal scheint die Wirkmächtigkeit der menschlichen Stimme also dazu in der Lage zu sein, den Wechsel von Figuren aus der Geschichte in die reale Welt und umgekehrt den Wechsel von Leserinnen und Lesern aus der realen Welt in die Geschichte zu ermöglichen. Die Stimme steht also für die Macht der Phantasie, und letztlich ist es diese Phantasie, die die Geschichte ,wachsen‛ läßt, wie es immer wieder heißt, sowohl zur Freude wie auch zum unendlichen Leid der vom gnadenlosen Fortgang der Geschichte Betroffenen.

Nicht zuletzt Fenoglio, der Autor, leidet unendlich darunter, seine Macht über die Geschichte mit anderen teilen zu müssen. Nicht einmal er selbst kann die eigene, von ihm geschriebene Geschichte, verändern, seit er sich ebenfalls in ihr befindet.

Immerhin bleibt Fenoglio noch ein Vorteil: es reicht nicht, einfach nur irgendetwas vorzulesen. Was die Geschichte verändern soll, muß zu allererst gut geschrieben sein. Ohne einen gut geschriebenen Text, hat auch der beste Vorleser keine Macht über die Geschichte. Nur Orpheus, ehemaliger Leser von „Tintenherz“ und ab dem dritten Band in die Tintenwelt hinübergewechselt, hat die Gabe, gute Texte zu schreiben und sie so vorzulesen, daß sie sich verwirklichen und die Geschichte verändern. Dabei bedient er sich aber eines Tricks. Da er das letzte existierende Exemplar von „Tintenherz“ besitzt, stiehlt er sich die nötigen Wörter aus dem Buch und setzt sie neu zusammen. Also kann er gar nicht gut schreiben. Er ist bloß ein Epigone.

Wenn aber gute Vorleser wie der Buchbinder Mortimer oder seine Tochter Meggie aus einem gut geschriebenen Text vorlesen, dann wird das, was sie vorlesen, auch Wirklichkeit. Und es ist Fenoglio, der ihnen diese Texte liefert, denn ihm geht es, trotz seiner ganzen Eitelkeit, doch letztlich immer nur um seine Geschichte, und er erklärt dann auch Elinor, ebenfalls aus der ungeschriebenen Welt in die Tintenwelt gewechselt, worum es beim Schreiben geht:

„,Jede gute Geschichte verbirgt sich hinter einem Gewirr von Fragen, und es ist nicht leicht, ihnen auf die Schliche zu kommen. Hinzu kommt, dass diese hier ihren ganz eigenen Kopf hat, aber ‒‛, Fenoglio senkte die Stimme, als könnte die Geschichte sie belauschen, ,wenn man ihr die richtigen Fragen stellt, flüstert sie einem all ihre Geheimnisse zu. So eine Geschichte ist ein sehr geschwätziges Ding.‛“ (Funke 2007, S.466f.)

Aber es gibt noch andere Konkurrenz für die beiden Antagonisten Fenoglio und Orpheus: den Tod! Der Tod erweist sich in der Trilogie, also in den ersten drei Büchern, als eine unabhängige Instanz. Ähnlich wie Tiffany in „Freie kleine Männer“ über ein eigenes Realitätsprinzip verfügt, den Feuerstein, so bildet auch der Tod in Gestalt der „Weißen Frauen“ ein Realitätsprinzip, das gleichermaßen für die geschriebene wie für die ungeschriebene Welt gilt. Und der Tod ist eine weibliche Stimme! (Vgl. Funke 2007, S.261)

Am Ende des dritten Bandes, also am Ende der Trilogie, erscheint die Stimme in Gestalt einer weißen Frau und schreibt eine eigene, letztgültige Version von diesem Ende auf ein Blatt Papier, das sie Meggie überreicht. Farid fragt sie: „Kannst du es lesen?“ ‒ Meggie nickt und sagt: „Geh zum Schwarzen Prinzen und sag ihm, er kann sein Bein schonen ... Wir bleiben alle hier. Das Lied über den Eichelhäher ist geschrieben.“ (Funke 2007, S.707)

Kein Wort davon, daß Meggie die Worte des Todes noch vorlesen müßte. Sie haben ihre eigene Geltung, die über die Macht des Autors Fenoglio und eines Vorlesers hinausreicht, denn an der weiter oben zitierten Stelle heißt es, daß der Tod „das Land regiert, in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen“. (Vgl. Funk 2007, S.261)

Das ist mehr als bloße Lyrik. Tatsächlich spricht Funke hier ein Thema an, das sie nicht in Ruhe lassen und 16 Jahre später veranlassen wird, noch einen vierten Band zu schreiben. Es geht bei diesem Thema um die Frage, was es bedeutet, über ein Land zu regieren, in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen. Funke hatte mit ihrer Trilogie noch keine zufriedenstellende Antwort auf des Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem gefunden. Damit werde ich mich im nächsten Blogpost befassen.

Sonntag, 17. November 2024

Individuelles Allgemeines: Terry Pratchett

Im ersten Tiffany-Roman „Kleine freie Männer“ (2003/2005) beschreibt Terry Pratchett die Feen-Welt am Beispiel eines Bildes von Richard Dadd (1817-1886): „The Fairy Feller’s Master Stroke“ (Der meisterhafte Schlag des Elfenholzfällers). Ich möchte an diesem Beispiel verdeutlichen, was Literaturwissenschaftler unter dem Begriff des Individuell Allgemeinen verstehen (Schleiermacher/Frank). Dabei geht es mir nicht um Literaturwissenschaft, sondern darum, wie das menschliche Bewußtsein funktioniert.

In einem zweiten Blogpost werde ich mich mit Cornelia Funkes Tintenwelt befassen, die gewissermaßen die Anti-These zu Pratchetts Tiffany-Roman bildet. In ihren vier Romanen „Tintenherz“ (2003), „Tintenblut“ (2005), „Tintentod“ (2007) und „Die Farbe der Rache“ (2023) geht es ebenfalls um das Spannungsverhältnis zwischen Individuellem und Allgemeinem. Im zuletzt erschienenen Roman geht es sogar um die unterschiedliche Weise, wie Bilder (Gemälde) und Texte Individuelles und Allgemeines miteinander vermitteln.

Wenn ich mich jetzt also den „Kleinen freien Männern“ von Terry Pratchett zuwende, dann greife ich vor allem auf meine Erinnerung an Lektüren zurück, die schon viele Jahre zurückliegen, weil nach unserer Trennung alle Scheibenweltromane in den Besitz meiner Ex-Freundin übergingen. Mein Gedächtnis ist leider sehr unzuverlässig, und ich kann mich deshalb für die Genauigkeit meiner Erinnerungen nicht verbürgen. Aber im wesentlichen läuft es auf folgendes hinaus:

Tiffanys kleiner Bruder wird von der Feenkönigin gekidnappt und ins Feenreich verschleppt. Tiffany Weh (engl: Tiffany Aching), ein damals noch 11-jähriges Mädchen und noch keine ausgewachsene Hexe wie in den späteren Tiffany-Romanen, macht sich auf den Weg ins Feenreich, um ihren Bruder zurückzuholen. Feen sind in dieser Geschichte überhaupt nicht nett. Sie sind bösartig und egozentrisch. Und wer sich in ihr Reich begibt, ist ihnen vollständig ausgeliefert, weil es ein Traumreich ist, und dieser Traum wird nicht etwa von den Besuchern geträumt, sondern von der Feenkönigin. Ihre Macht besteht darin, das individuelle Bewußtsein vollständig zu manipulieren, so daß jede, jeder das für wirklich hält, was sie uns glauben macht.

Im Vorgriff auf Funkes „Tintenwelt“ kann man also sagen, daß die Feenkönigin über die Fähigkeiten einer guten Autorin verfügt und Tiffany und ihr kleiner Bruder für die Leserschaft ihrer Bücher stehen. Wer einmal eins ihrer Bücher aufgeschlagen hat, kann es nicht eher aus der Hand legen, als bis es durchgelesen ist.

Allerdings vergleicht Pratchett das Feenreich nicht mit einem Buch, sondern, wie schon erwähnt, mit einem Gemälde von Richard Dadd. Dabei ist das Gemälde selbst für mich an dieser Stelle weniger interessant, als vielmehr dessen Bezug auf das Abenteuer, das Tiffany im Feenreich erlebt. Das Seltsame an diesem Feenreich ist nämlich, daß es flach ist wie ein Gemälde. Es ist bloß zweidimensional. Das zeigt sich daran, daß Tiffany immer dann, wenn sie etwas in der (gemalten) Landschaft genauer zu fixieren versucht, stets nur ein und dieselbe Perspektive einnehmen kann. Sie kann in gewisser Weise nicht um die Dinge ,herumgehen‛. Es gibt nur den wahrgenommenen Vordergrund und dahinter keinen Hintergrund.

Je mehr Tiffany versucht, mehr von den Bäumen und Pflanzen zu sehen, als was sich schon dem ersten Blick anbietet, um so weniger Details werden erkennbar. ,Hinter‛ den Bäumen sind zwar auch noch Bäume, aber die sind nicht so genau und detailreich ausgeführt, wie die davorstehenden Bäume. Sie sollen gewissermaßen nur den Eindruck erwecken, als wäre da noch etwas ,dahinter‛ und alle weiteren Teile der Landschaft ,verschwimmen‛ mit zunehmender Ferne, um Räumlichkeit vorzutäuschen, ohne daß man aber auf diese Horizonte zugehen und dabei neue Dinge entdecken könnte.

Interessanterweise ist das Gemälde von Richard Dadd voller Details, und es wimmelt nur so von phantastischen Figuren, umgeben von dichtem Gebüsch, Gras und Gestein. Vom Himmel ist nur ein kleiner blauer Ausschnitt zu sehen. Aber die erstaunliche Detailfülle des Gemäldes kann Tiffany offensichtlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie es hier nicht mit der Wirklichkeit, sondern nur mit einer Fiktion zu tun hat.

Pratchett hat seiner Tiffany ein Realitätsprinzip eingepflanzt, das sich von keiner Feenkönigin außerkraft setzen läßt. Hexen, so Pratchett, ziehen ihre Macht aus dem Gestein. Je nach dem wo sie leben, sind es die unterschiedlichen dominanten Gesteinsarten, aus denen sie ihre Kraft ziehen. Als besonders mächtig gelten die harten Gesteinsarten, wie etwa Granit. Tiffany lebt aber in den Kreidehügeln, eine weite Graslandschaft, die ausschließlich für die Schafhaltung genutzt wird. Besonders hartes Gestein gibt hier also scheinbar nicht.

Aber als es ihr gelingt, ihren kleinen Bruder aus der Gewalt der Feenkönigin zu befreien, findet sie genau in diesen Hügeln und ihrer ozeanischen Herkunft Schutz vor der Verfolgung durch die Feenkönigin. Gerade das weiche, nachgiebige Kalkgestein verbirgt in sich den härtesten Stein überhaupt: den Feuerstein.

Dies nur, um die Geschichte zu vervollständigen. Mir geht es hier um das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem: um das „Individuell Allgemeine“. Dieses kommt in den Eigenschaften eines Gemäldes zum Ausdruck, wie Richard Dadd es gemalt hat, und zwar in seiner Zweidimensionalität. Alles, was das Gemälde an Figuren und Gegenständen und eben auch Flächen wie den Himmel enthält, bleibt allgemein. Die Gebüsche, die Gräser, die Figuren sind nichts für sich selbst, sondern stehen für etwas anderes. René Magritte brachte das zum Ausdruck, als er eine Pfeife malte und darunter die Worte setzte: „Ceci n’est pas une pipe“ (Dies ist keine Pfeife!).

Alles in dem Gemälde ist allgemein, weil nichts darin etwas für sich selbst ist; weil also nichts darin individuell ist. Individuell sind nur die konkreten Dinge in der realen Welt. Wer sie ansieht und in die Hand nimmt, wird ständig neue Details an ihnen entdecken, und die Details wiederum werden aus einer weiteren Fülle von Details bestehen, und des Sehens und Erlebens wird kein Ende sein. Das ist das eigentliche Kennzeichen aller individuellen Dinge. Auch wenn Richard Dadds Gemälde eine Photographie wäre, wäre die Auflösekraft der Photographie begrenzt. Wenn wir uns nicht vom ersten Augenschein beeindrucken lassen und immer genauer hinsehen, wird sich die scheinbare Fülle der Photographie irgendwann in einzelne Pixel auflösen.

Genau in diesem Sinne ist das Individuelle individuell. Das Allgemeine der malerischen Komposition arbeitet letztlich nur mit der Phantasie des Betrachters, der bzw. die sich durch die Darstellung angeregt fühlt, die ,Lücken‛ im Gemälde auszufüllen. Es ist die individuelle Phantasie, die das Allgemeine zum Leben erweckt. Und genau darin besteht die Macht der Feenkönigin. Sie nimmt unsere Phantasie in ihre Gewalt und verformt sie nach Gutdünken, wie es ihren Launen gerade gefällt. Ohne unsere Phantasie wäre sie machtlos. Was sie erschafft ist eine prächtige Phantasiewelt. Aber wir sind es, die ihr die Macht dazu geben.

Alles, was hier über das Feenreich gesagt wurde, läßt sich natürlich auch auf Bücher beziehen. Ich denke hier an ein anderes Buch bzw. eine ganze Reihe von Büchern, die mir mal ein Freund ausgeliehen hat und die ich also auch nicht in meinem Bestand habe. Der Autor ist Jasper Fforde. Seine Romanfigur ist eine Bücherdetektivin, deren Spezialgebiet darin besteht, in Unordnung geratene Bücherwelten zu retten. In einem seiner Romane, „Der Fall Jane Eyre“, wird z.B. die Hauptfigur, also Jane Eyre entführt, und die Detektivin muß versuchen, sie zu retten.

In einem dieser Romane nimmt die Detektivin die Hauptfigur, vielleicht ist es sogar Jane-Eyre, mit in die Realität, und die Hauptfigur wird von der Detailfülle dieser Realität überwältigt. In ihrer Romanwelt, die ja nur aus Wörtern besteht, kennt sie so etwas nicht. Dort reichen wenige Worte aus, um komplexe Ereignisse und vielfältige Landschaften zu ,skizzieren‛. Denn mehr tun die allgemeinen Worte nicht: Sie skizzieren bloß. Den Rest muß man sich hinzudenken.

Mittwoch, 6. November 2024

Die Mehrheit

Die Mehrheit in den USA hat Donald Trump gewählt. Demnächst wird man dann wohl noch etwas darüber erfahren, inwieweit die us-weite Mehrheit an Stimmen der Mehrheit der Wahl-,Männer‛ entspricht, die die Mehrheiten der Stimmen in den US-Staaten repräsentieren und die Donald Trump zum Präsidenten wählen werden. Und natürlich sind diese Mehrheiten wiederum nicht die Mehrheit, die die Demoskopen zuvor aus Umfragen errechnet hatten und die deutlich knapper ausgefallen war.

Wer also hat Trump gewählt? ‒ Die Wählerinnen und Wähler? Ja und nein. Eine Mehrheit von ihnen, wie auch immer diese Mehrheit rechnerisch ermittelt wird. Trump hat die Macht, weil er die Mehrheit hat.

Es kommt nicht auf die Wählerinnen und Wähler an. Jedenfalls nicht, wenn man darunter mündige Staatsbürger versteht, die über eine eigenständige Urteilskraft verfügen.

Immerhin: es gibt ja noch eine Verfassung. Aber es gibt auch noch Verfassungsrichter, also diejenigen, die gerade erst geurteilt haben, daß ein US-Präsident für so gut wie nichts, was er im Amt tut, gerichtlich belangt werden kann. Sie haben diesem Trump zu einer künftigen Machtfülle verholfen, wie sie sonst nur skrupellosen Diktatoren und Menschheitsverbrechern zur Verfügung steht.

Und heute morgen im Deutschlandfunk war Alice Weigel zu einem Interview zur US-Wahl eingeladen. Ob sie wollen oder nicht: mit jedem Interview, das die Journalisten solchen zwielichtigen Persönlichkeiten gewähren, tragen sie zur Verbreitung ihrer Agenda bei. Heißt ja nicht umsonst ,Rundfunk‛. Zwar fragen die Journalisten kritisch nach und lassen vorgetragene Lügen nicht unwidersprochen. Aber das kann nur ein mündiges Publikum beeindrucken, nicht aber die Mehrheit.

Ich habe das Radio ausgeschaltet.

Dienstag, 15. Oktober 2024

Die universelle Praxis von Ich = Du

Aleida und Jan Assmann haben gemeinsam das Buch „Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn“ (2024) geschrieben. Jan Assmann ist noch vor dem Erscheinen des Buches am 8. März diesen Jahres gestorben. Schon früh habe ich Jan Assmann in diesem Blog besprochen und auch danach von seinen Büchern geistig profitiert. Aleida Assmann habe ich erst später entdeckt und dann ebenso schätzen gelernt.

In den letzten Monaten bin ich anläßlich meiner Lektüren in diesem Blog immer wieder auf mein Konzept von Ich = Du zu sprechen gekommen. Auch das Buch des Autorenpaars hat mir neue Impulse zu meinem Konzept geschenkt und so die Gelegenheit gegeben, meine Gedanken zu ordnen und zu schärfen. Überrascht hat mich dabei der Bezug auf Karl Löwith (1897-1973), der ebenfalls ein Konzept zur Dualität entwickelt hat (vgl. Assmann 2024, S.94ff.) und den ich bislang als einen Vorläufer für mich gar nicht im Blick gehabt habe. Das Autorenpaar stellt Löwiths Philosophie neben Martin Bubers dialogisches Prinzip eines gleichberechtigten, wechselseitigen Ich-Du-Verhältnisses, geht dabei aber nicht weiter auf die Verzerrung dieses dialogischen Verhältnisses durch ein drittes Du ein. (Vgl. Assmann 2024, S.94f.)

Aleida und Jan Assmann unterscheiden insgesamt vier Bedeutungsebenen des Ge­meinsinns. (Vgl. Assmann 2024, S.94f. und S.189) Erstens faßt der Gemeinsinn alle Sinnesorgane zu einem Gesamtsinn zusammen. Umgangssprachlich hat er also die Funktion eines ,sechsten Sinns‛. Zweitens bildet er so etwas wie einen ,gesunden Menschenverstand‛, also ähnlich wie der britische ,common sense‛. Drittens bezeich­net der Gemeinsinn die Zivilgesellschaft, die sich für die Gesellschaft engagiert. Auf eine vierte Variante des Gemeinsinns kommt das Autorenpaar gegen Ende seines Bu­ches zu sprechen und schließt aus der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ,communis‛ auf eine gemeinsame Verpflichtung, auf eine „Pflicht“ und auf einen „Dienst“, die bzw. der darin besteht, sich für die „Mitmenschlichkeit“ und für „Menschenrechte“ einzusetzen.

Mich interessiert an Aleida und Jan Assmanns Ansatz vor allem der Versuch, den Gemeinsinn als eine individuelle Fähigkeit darzustellen, dem Leben gemeinsam mit anderen Menschen einen Sinn zu geben. Das ergibt natürlich eine Spannung zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen, die sich mit dem gemeinsamen Handeln verbinden.

Das Grundproblem, auf das das Autorenpaar immer wieder zu sprechen kommt, besteht darin, wie sich Menschen über die Grenzen ihrer Gemeinschaft hinaus auf eine Menschheit verpflichten lassen, die den ganzen Planeten umfaßt. Deshalb befassen sich Aleida und Jan Assmann durchgehend mit der Frage nach der Solidarität (vgl. Assmann 2024, S.35ff.), die sie noch einmal als „Solidarität-mit“ und als „Solidarität-gegen“ differenzieren (vgl. Assmann 2024, S.46ff.).

Ich möchte diese beiden Solidaritätsformen im Sinne meiner folgenden Überlegungen gerne leicht umformulieren: Solidarität füreinander und Solidarität gegeneinander. Während Aleida und Jan Assmann mit den unterschiedlichen Solidaritätsformen vor allem unterschiedliche Gruppen fokussieren, also offene und geschlossene Gruppen wie rechtsstaatliche Demokratien mit Minderheitenschutz versus einzelne Ethnien zur Volksgemeinschaft aufwertende Staatsformen, geht es mir hier vor allem um die Individuen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft. Dabei steht Karl Löwith mit seinem dialogischen Schema von ,Subjekt‛ und ,Objekt‛ für die Solidaritätsform des füreinander Eintretens und Carl Schmitt (1888-1985) für die Solidaritätsform des Gegeneinander von Freund und Feind.

Individuelle Solidarität


Wenn Karl Löwith (1928) seine dialogische Philosophie mit einer Verhältnisbestimmung von Subjekt und Objekt beginnt, geht es ihm dabei weniger um Erkenntnistheorie als vielmehr um eine sozial-anthropologische Fundamentalreflexion. Für das Subjekt sind eben nicht alle Objekte gleich. Es gibt Objekte, die sich kategorial von den übrigen Objekten unterscheiden: die Mitmenschen. Mitmenschen sind ,Objekte‛, die zugleich Subjekte sind, also Menschen, die sich gegenseitig auf eine Weise spiegeln, wie das einfache Objekte nicht können: „Der Mensch erkennt sich nur im Menschen.“ (Zitiert nach Assmann 2024, S.96)

Die Mitmenschen sind also ,Objekte‛, die wie das Subjekt ihnen gegenüber ebenfalls Subjekte sind, also „Seinesgleichen“. (Vgl. Assmann 2024, S.99) Diese Subjektbestimmung des Objekts ‚Mensch‛ entspricht meinem Ich = Du. Ich selbst habe das in früheren Blogposts auch als Rekursivität bezeichnet.

Aleida und Jan Assmann schreiben, Emmanuel Levinas (1906-1995) habe „die Löwithschen Grundsätze der Mitmenschlichkeit in eine Post-Holocaust-Ethik übersetzt“. (Vgl. Assmann 2024, S.101) Daß Levinas dabei aus dem dialogischen Prinzip eine Einbahnstraße aus Ich ≠ Du gemacht hat, schreiben sie nicht. Das Antlitz, wie Levinas dieses Du nennt, ist dem Ich gegenüber so dominant, daß sich das Ich ihm gegenüber in einem unaufkündbaren Schuldverhältnis befindet, während das Du immer nur vom Unrecht, das ihm widerfahren ist, bestimmt wird. Eine solche Einbahnstraße verhindert die offene Wechselseitigkeit von Ich und Du, eine Beziehung, die Solidarität füreinander ermöglicht.

Die Gefahr einer solchen Einbahnstraße sehe ich auch dort, wo Empathie an Eigenschaften, Werthaltungen, kulturellen Mustern orientiert wird, etwa bei dem Empathietheoretiker René Rhinow, über den das Autorenpaar schreibt: „Eine ganz neue Herausforderung besteht für ihn ... darin, Situationen mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kulturen und Werthaltungen zu verstehen, um mit ihnen konstruktiv kommunizieren zu können.“ (Assmann 2024, S.136)

Hier haben wir es nicht mehr mit Individuen zu tun, sondern mit durch Äußerlichkeiten erkennbar gemachten Gruppierungen. Was daran problematisch ist, zeigt sich an dem barmherzigen Samariter, auf den Aleida und Jan Assmann einige Seiten zuvor zu sprechen gekommen waren. Anhand der Samaritergeschichte, in der ein von den Juden verachteter Samariter einem überfallenen und verletzten Juden hilft, setzt das Autorenpaar die individuelle Verantwortung von Ich (Samariter) für Du (Jude) gegen die Gruppensolidarität (,wir‛ Juden gegen ,die‛ Samariter): „In dieser Begegnung (zwischen Samariter und Jude ‒ DZ) eröffnet sich die Möglichkeit einer mitmenschlichen Beziehung jenseits der Gruppensolidarität.“ (Assmann 2024, S.124)

Es ist also gerade die empathische Offenheit des Samariters für das Leid und für die Hilfsbedürftigkeit des Überfallenen, die ihn aus dem Gruppenzwang ‚Jude gegen Samariter‛ befreit und über seine Gruppenzugehörigkeit hinauswachsen läßt.

Die Empathie von Rhinow hingegen legt Ich und Du auf ein bestimmtes Erscheinungsbild und damit auf eine Gruppenzugehörigkeit fest, und beide fangen schon an, einander Rollenmuster zuzuordnen, bevor sie miteinander Kontakt aufnehmen. Damit wird die Ebene von Ich = Du verfehlt; also die Ebene, wo der Samariter ungeachtet der Feindschaft der Juden gegenüber den Samaritern dem überfallenen und verletzten Juden hilft.

Und auch hier ist es wichtig, nochmal festzuhalten, daß Ich = Du nicht darin aufgeht, daß Ich hilft und Du geholfen wird. Diese Festlegung von Ich und Du entspräche der Levinasschen Position. Nachdem der Samariter in der Geschichte seinen hilfsbedürftigen Mitmenschen in einer Herberge untergebracht hat und für die damit verbundenen Unkosten aufgekommen ist, geht er wieder seines Weges. Ich und Du sind wieder frei für neue Begegnungen, denen neue Möglichkeiten innewohnen.

Identitätspolitik


Im Gleichheitszeichen von Ich = Du geht es mir darum, daß auch das Du Ich und Ich Du ist. Ohne dieses Fundament gibt es keine Wechselseitigkeit. So eine Einbahnstraße, die das Ich darauf festlegt, Ich zu sein und das Du darauf, Du zu sein, sehe ich auch dort, wo das Autorenpaar vom sozialen und kulturellen Respekt spricht.

Sozialer Respekt, so Aleida und Jan Assmann, macht „auf den universalistischen Wert der Menschen“ aufmerksam. (Vgl. Assmann 2024, S.161) Damit bekommt der soziale Respekt die durchaus wichtige gesellschaftliche Funktion, „erniedrigte und unterdrückte Minderheit(en)“ in ihrem Anspruch auf Gleichberechtigung zu bestärken. (Vgl. ebenda) Man könnte also meinen, das entspräche meiner Vorstellung von Ich = Du. Aber Du ist nicht nur ein Symbol für eine Verpflichtung des Ich dem Du gegenüber, sondern selbst ein Ich. Es setzt sich also aus eigenem Antrieb Zwecke und muß dazu nicht durch ein anderes Ich und auch nicht durch ein gesellschaftliches ,Ich‛ legitimiert werden.

Schon die Vorstellung von der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Funktion, wie sie im sozialen Respekt zum Ausdruck kommt, beinhaltet eine Abhängigkeit des Du von einer durch die Gesellschaft gewährten Gunst. Minderheitenrechte sind Menschenrechte, die in der Würde des Menschen begründet sind. Sie sind keine Gunstbeweise.

Das gleiche gilt auch für den kulturellen Respekt, zu dem dem Autorenpaar sogleich auch noch die „Identitätspolitik“ einfällt. (Vgl. Assmann 2024, S.161; vgl. auch S.167ff.) Ich halte es für keine gute Idee, beide Begriffe im Text so nah zusammen zu stellen, als gehörten sie auch inhaltlich zusammen. Wenn Aleida und Jan Assmann schreiben, daß es beim kulturellen Respekt „um die Bejahung und Anerkennung von Differenz und Fremdheit“ geht: „Unterschiede werden dabei nicht mehr eingeebnet, sondern mit neuem Selbstbewusstsein hervorgekehrt.“ (Assmann 2024, S.162) ‒ dann ist der Schritt vom „neue(n) Selbstbewusstsein“ zur Identitätspolitik tatsächlich nicht mehr groß.

Natürlich sind sozialer und kultureller Respekt wichtige gesellschaftliche Praktiken, die so etwas wie eine Zivilgesellschaft konstituieren und völkischen Tendenzen Widerstand leisten. Das will ich durchaus gelten lassen. Mir geht es hier um etwas anderes. Ich will darauf hinaus, daß die individuelle Freiheit jenseits von „Gruppensolidarität“, vor allem also außerhalb von Gruppendynamiken aller Art, nur im Ich = Du verwirklicht wird. Kulturelle Unterschiede werden diese individuelle Praxis zwar immer begleiten, können aber nicht deren Ausgangspunkt sein.

Kulturelle Unterschiede sind letztlich nichts anderes als Eigenschaften, die sich in der Begegnung von Ich und Du wechselseitig manifestieren. In der Ich = Du-Begegnung werden sie zu individuellen (persönlichen) Eigenschaften und gehen als solche in die Wechselbeziehung, wie sie das Gleichheitszeichen zum Ausdruck bringt, ein. Dabei bilden das Ich als Ich und das Du als Ich die Zentren einer je individuellen Gestalt. Diese Gestalt hat ihre Individualität nicht von einer Gruppe her, sondern vom Du her, das mir begegnet. Das Du spiegelt mir mich selbst, so wie ich dem Du sein Ich spiegle. Und wenn ich zu ihm spreche, öffnet sich mir im Verstehen von Du der Sinn dessen, was ich sage, so wie sich umgekehrt dem Du, wenn es zu mir spricht, von meinem Verstehen her der Sinn dessen öffnet, was es sagt.

Deshalb haben „Bejahung und Anerkennung von Differenz und Freiheit“ (Assmann 2024, S.162) in der Wechselbeziehung zwischen Ich und Du einen anderen Sinn als in den Gruppendynamiken zwischen Individuen innerhalb einer Gruppe oder zwischen den Gruppen.

Kollektive Solidarität


Aleida und Jan Assmann zitieren den Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss (2019): „Der Mensch in der totalen Isolation hat das Böse nicht in sich. (...) Ich glaube, es ist nicht in uns, es ist zwischen uns, irgendetwas, das zwischen Menschen geschieht. Und die Untersuchung dieses Dazwischen, das hat nicht aufgehört, meine Faszination in Gang zu setzen.“ (Zitiert nach Assmann 2024, S.66)

Meiner Ansicht nach ist mit diesem ,Zwischen‛ nicht das Zwischen der Wechselbeziehung von Ich und Du gemeint, sondern das Zwischen innerhalb einer Gruppe, in der Individuen nicht ausschließlich als Individuen interagieren, sondern immer mit Rücksicht auf die Rollen, die sie in einer Gruppe spielen, also mit Rücksicht auf die anderen. Meine Formel für dieses zwischenmenschliche Böse lautet Ich = Wir. Und da es nicht nur zwischen verschiedenen Gruppen Interessengegensätze gibt, sondern entsprechende Konflikte auch innerhalb von Gruppen vorhanden sind, entspricht das ‚Böse‛, das Bärfuss in dem Zitat beschreibt, dem Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt. Freunde sind nur diejenigen, die meine Werthaltungen und meine Interessen mit mir teilen. Alle anderen sind Feinde. Dem Ich = Wir entspricht das Wir ≠ Ihr.

Für Carl Schmitt besteht das Mensch-Mensch-Verhältnis ausschließlich aus Freund-Feind-Beziehungen: „Die Logik heißt ,ich oder er‛ bzw. ,wir oder sie‛; für beide gemeinsam ist kein Platz auf der Erde und in der Weltgeschichte.“ (Assmann 2024, S.108) ‒ Wo sich Ich mit einem Wir identifiziert, übernimmt es auch dessen implizite Gegnerschaft zu anderen Gruppen-Wirs: also Freund ≠ Feind.

Identitätspolitik, wie wir sie heute kennen, ist im Grunde auch nichts anderes als ,wir‛ gegen die anderen. Susan Neiman nennt das ,Tribalismus‛, Stammesdenken. Wenn wir meinen, wir könnten hier gutartige von bösartigen Gruppenidentitäten unterscheiden, dann unterschätzen wir die Unversöhnlichkeit und die Unbedingtheit von Identitätsbehauptungen.

Menschheitsidee


Die Beziehungen zwischen Gruppen, gleichviel ob dabei an offene oder geschlossene Gruppen gedacht wird, werden oft so dargestellt, als handelte es sich um Kollektivindividuen, die ähnlich wie einzelne Menschen miteinander interagieren. ,Freundliche‛ oder ,feindliche‛ Beziehungen zwischen den Gruppen ähneln irgendwie freundlichen und feindlichen Beziehungen zwischen den Menschen innerhalb dieser Gruppen und werden auch ähnlich ,kommuniziert‛.

Auch Aleida und Jan Assmann schreiben Gruppen menschliche Eigenschaften zu und sprechen von einer gruppenübergreifenden Menschlichkeit: „Jede wie auch immer definierte Gruppe kann in der Interaktion mit anderen im Sinne Kants die Quellen ihrer gemeinsamen Menschlichkeit entdecken.“ (Assmann 2024, S.170)

Aber die Vorstellung, daß Gruppen miteinander kommunizieren, als wären sie Individuen, ist problematisch. Gruppen kommunizieren nur über Agenten miteinander. Und diese Agenten sind Individuen. Wenn Individuen ihre „gemeinsame Menschlichkeit“ entdecken, dann immer auf der Basis von Ich = Du und nicht auf der Basis kollektiver Identität bzw. auf der Basis einer Gruppenidentität. Das einzige, was Gruppen zu befrieden vermag, sowohl innerhalb einer Gruppe wie auch verschiedene Gruppen untereinander, sind deshalb die Individuen und ihre Rechte: ihre Menschenrechte. Gruppenrechte können ihre Legitimität immer nur aus individuellen Menschenrechten ableiten. Wo Gruppenrechte Menschenrechte beeinträchtigen, verlieren sie ihre Legitimität. Nur auf dieser Basis kann kulturelle Diversität funktionieren. Der Begriff der Menschheitsrechte führt in die Irre.

Aleida und Jan Assmann widersprechen in dieser Frage dem amerikanischen Sozialwissenschaftler Martin Walzer („Thick and Thin“, 1994), der ähnliche Vorstellungen wie ich vertritt und betont, daß nicht Gesellschaften, sondern immer nur konkrete individuelle Personen miteinander kommunizieren können, weil nur sie, und nicht die aus ihnen bestehenden Gesellschaften, über ein Bewußtsein verfügen: „Es ist aber in keiner Weise einzusehen, warum sich die ‚andere‛ Ebene, die Ebene der Menschheit, gar so blass oder ,dünn‛ darstellen muss. ... Es stimmt weder, dass es auf dieser Ebene kein Gedächtnis und keine Geschichte gibt, noch dass im Zeitalter des Anthropozäns keine Auffassungen über gemeinsame Herausforderungen, Bedrohungen, Güter, Ziele und Werte existieren.“ (Assmann 2024, S.174)

Es ist klar, worauf das Autorenpaar hinaus will: wenn Gesellschaften kein Bewußtsein besitzen, wie Walzer behauptet, auch nicht ein über ein Gedächtnis und eine Geschichte verfügendes Kollektivbewußtsein, gibt es auch kein „Menschheitsgedächtnis“ und auch keine menschheitliche Verantwortung. Gemeinsinn und Empathie lassen sich dann nicht universalisieren. Es gibt keine universelle Moral.

Aleida und Jan Assmann suchen also nach Belegen dafür, daß es ein übergreifendes Bewußtsein gibt, und sie glauben in erstaunlicher Naivität im Internet fündig zu werden: asoziale Plattformen wie Facebok und X sollen ihrer Ansicht nach in der Lage sein, „ein Menschheitsgedächtnis zu stiften“! (Vgl. Assmann 2024, S.175)

Die universelle Praxis von Ich = Du


Aleida und Jan Assmann sehen uns vor die Notwendigkeit gestellt, die partikulare Gemeinschaftsmoral durch eine universelle Moral der Menschenrechte zu ersetzen, die aber, wie sie schreiben, anders als die Gemeinschaftsmoral den Menschen nicht mehr „im Blut“ (Lebenswelt) liegt. Sie ist gerade in ihrer Universalität zu abstrakt und muß durch Gesetze und Erziehung abgesichert werden. (Vgl. Assmann 2024, S.180)

Ich denke aber, daß uns die universelle Moral durchaus „im Blut“ liegen könnte; nämlich dann, wenn wir verstehen und empfinden, daß die Praxis von Ich = Du über ihr eigenes universelles Potenzial verfügt. Ich = Du ist die einzige Sozialform, die nicht exkludiert. Sie formiert sich nicht gegen andere, sondern entspringt dem Anderen mir gegenüber. Da die persönlichen Eigenschaften von Ich und Du, die in deren Wechselbeziehung eingehen, dieser Wechselbeziehung nicht vorausgesetzt sind, wird sie auch durch keine Gruppenbindungen begrenzt. In diesem Sinne ist die Praxis von Ich = Du schon als Praxis universell und zugleich von höchster Bindungskraft.

Aleida und Jan Assmann setzen hingegen weiterhin ihre Hoffnung auf ein Kollektivindividuum namens Menschheit und geben dem Begriff der Identität einen gleichermaßen individuellen wie kollektiven Sinn: „Identitäten sind unter diesen Umständen nichts Abwegiges, sondern ein Menschenrecht der individuellen oder kollektiven Selbstbestimmung.“ (Vgl. Assmann 2024, S.184)

Aber so sehr es ein Menschenrecht auf die individuelle Entfaltung der Person gibt, so wenig gibt es auch ein Menschenrecht auf Identität. Der Begriff führt unvermeidbar zu einem fragwürdigen Menschenbild.

Freitag, 4. Oktober 2024

Hannah Arendt: Die Macht der Zahl

Die zentrale These in Hannah Arendts Buch „Macht und Gewalt“ (1970/2024) besteht meiner Ansicht nach darin, daß sich die Macht über die Zahl der Unterstützer definiert. Diese Zahl wird in Demokratien durch Wahlen ermittelt, so daß diejenigen Parteien, die die meisten Stimmen der Wählerinnen und Wähler auf sich vereinigen können, den Auftrag für eine Regierungsbildung erhalten. Aber auch alle anderen Regierungsformen, Monarchie, Oligarchie, Aristokratie und sogar die Tyrannei sind von der Unterstützung oder wenigstens Duldung der Bevölkerung abhängig.

An die Stelle der politischen Unterstützung durch die Gesellschaft (vgl. Arendt 1970/2024, S.53) kann auch die blanke, sich auf Waffen stützende Gewalt treten. Bei der Gewaltherrschaft spielt die Zahl der Unterstützer keine Rolle. Im Extremfall haben wir es mit der Herrschaft eines Einzelnen gegen alle zu tun: „Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation: Einer gegen alle.“ (Arendt 1970/2024, S.54f.) ‒ Allerdings ist die Dauerhaftigkeit einer solchen Gewaltherrschaft begrenzt.

Arendts Definition der Macht als Zahlenverhältnis, also letztlich als Herrschaft einer Mehrheit über eine oder mehrere Minderheiten, hat den Vorteil, auf Metaphysik zu verzichten. Denn aus dieser Perspektive besteht das Staatsvolk auch in nichts anderem als in einem Mehrheitsverhältnis, woran nichts Mysteriöses oder gar ,Heiliges‛ ist.

Zugleich verweist Arendt aber auch auf den dystopischen Aspekt einer demokratischen Mehrheitsherrschaft, die nicht auf den Schutz von Minderheiten verpflichtet ist: „Eine Demokratie, die im Unterschied zu einer Republik nicht an Gesetze gebunden zu sein braucht, also eine einfache Mehrheitsherrschaft, die nur auf Macht basiert, kann Minderheiten auf eine furchtbare Weise unterdrücken und abweichende Meinun­gen ohne alle Gewaltsamkeit sehr wirkungsvoll abwürgen.“ (Arendt 1970/2024, S.54 f.)

In so einer Demokratie verändert sich das Verhältnis zwischen Macht und Zahl: statt die Macht zu legitimieren, wird die Zahl selbst zur Macht; zur Macht der Zahl.

Aber das eigentliche Problem spricht Arendt hier gar nicht an. Ihre Definition der Macht als Zahl verschleiert, wie sehr die Macht ein le­bensweltliches Phänomen ist, das weniger vom Selbstbewußtsein als vom Unterbewußtsein bestimmt wird. Wenn z.B. Antisemitismus und Rassismus das kollektive Bewußtsein prä­gen, dann können Demagogen und Populisten über diese Haltungen (Meinungen) ihre Macht organisie­ren, ohne Gewalt anzuwenden, mit Ausnahme natürlich der gegen Juden und Schwar­ze gerichteten Gewalt. Das weiß auch Arendt, wenn sie schreibt: „Jeder Rassis­mus, der weiße wie der schwarze, ist von Haus aus gewaltträchtig, weil er gegen natürliche, organische Gegebenheiten protestiert, eine schwarze oder eine weiße Haut, die nicht von Meinungen abhängen, und an denen keine Macht etwas ändern könnte; kommt es hart auf hart, so bleibt nichts als die Ausrottung ihrer Träger.“ (Arendt 1970/2024, S.88)

Das ist eine korrekte Beschreibung solcher Dynamiken. Arendt übersieht nur, daß die Macht nicht nur machtlos ist gegen solche Dynamiken, sondern daß sie bzw. diejenigen, die ihre Macht mißbrauchen, via Lebenswelt dazu beitragen können, diese Gewaltdynamik allererst zu entfachen. Denn die weißen Rassisten sind nicht nur gewalttätig, sondern auch mächtig. Und ihre Macht beruht nicht auf Zahlen, die durch Wahlen ermittelt werden könnten, sondern auf dem kollektiven Unterbewußten.

Darauf will ich im Folgenden differenzierter eingehen.

Das Volk als Gruppe?

Zunächst mal ist die Differenz zwischen einem aufgeklärten bzw. rationalen und ei­nem metaphysisch überhöhten Begriff des Volkes nicht immer hinreichend klar. So setzt Arendt zwar die Begriffe „Volk“ und „Gruppe“ einander gleich ‒ „ohne ein ,Volk‛ oder eine Gruppe gibt es keine Macht“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.56) ‒, was eine weitere Entmystifizierung des Volksbegriffs bedeutet. Andererseits aber frage ich mich doch, ob das Volk jetzt nur den Status einer größeren Gruppe hat oder ob es als Staatsvolk vielleicht so etwas wie eine Meta-Gruppe bildet, die alle anderen Grup­pen unter sich vereint? Dieses Meta-Verhältnis des Volkes zu allen anderen Gruppen läßt sich dann aber nicht mehr einfach in ein Zahlenverhältnis auflösen und ist jetzt ein Thema für die Metaphysik.

Wenn aber das Volk einfach nur größer wäre als alle anderen Gruppen, im Sinne von Mehrheit und Minderheit, dann wäre es Teil der ganz normalen Interessenkonflikte, die zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen bestehen, und dann hätten wir es nicht mehr mit einem Machtverhältnis, sondern mit einem Gewaltverhältnis zu tun.

Ich frage mich, ob sich überhaupt schon jemals jemand über die Legitimität von Ge­setzen Gedanken gemacht hat, ohne dabei auf den Begriff des Volkes zurückzugrei­fen? Könnte der Begriff der Staatsbürgerschaft nicht den Begriff des Volkes erset­zen? Ist für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland der Bezug auf das Volk nicht völlig überflüssig? Tatsächlich soll das Grundgesetz doch den einzelnen Men­schen vor der Mehrheit, also vor dem ,Volk‛ schützen, und zugleich muß es selbst durch eine Zweidrittelmehrheit gegen das Volk abgesichert werden.

Macht als Selbstzweck

Auch daß Hannah Arendt die Macht als Selbstzweck definiert und dabei die Parallele zum Begriff des Friedens zieht, trägt zu einer Mystifizierung des Machtbegriffs bei: „Der Zweck des Krieges ist der Friede; aber auf die Frage: Und was ist der Zweck des Friedens? gibt es keine Antwort. ... Ein solches Absolutes ist auch die Macht; sie ist, wie man zu sagen pflegt, ein Selbstzweck.“ (Arendt 1970/2024, S.63)

Arendt ergänzt, daß die Macht als Selbstzweck, „weit davon entfernt, Mittel zu Zwecken zu sein, tatsächlich überhaupt erst die Bedingung ist, in Begriffen der Zweck-Mittel-Kategorien zu denken und zu handeln.()“ (Arendt 1970/2024, S.63)

Das ist eine widersprüchliche Definition der Macht. In Begriffen der Zweck-Mittel-Kate­gorie zu denken und zu handeln, ist instrumentelles Denken und Handeln, was nach Arendts eigener Definition nicht ein Kennzeichen von Macht, sondern von Gewalt ist. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.20, 53f., 58) ‒ Demnach wäre also die Macht eine Vor­aussetzung für Gewalt? Dann gäbe es also Gewalt als Zweck-Mittel-Rationalität nur dort, wo es Macht gibt? ‒ Das wäre wohl die Konsequenz, wenn Macht tatsächlich die Voraussetzung für instrumentelles Handeln wäre.

Außerdem: Organisation ist Arendt zufolge ein Kennzeichen von Macht. Wo sich Menschen organisieren, können sie, sogar wenn sie nicht in der Mehrheit sind, die Macht ergreifen. Als eine besonders bizarre Form der Herrschaft qua Organisation kann man z.B. die Bürokratie bezeichnen, von der Arendt sagt, daß sie die „vielleicht furchtbarste Herrschafts­form“ überhaupt sei (vgl. Arendt 2024, S.50); und zwar ob­wohl sie eine Form der „Niemandsherrschaft“ ist! Niemand herrscht mehr, wo die Or­ganisation alles beherrscht. Niemandsherrschaft wäre dann tatsächlich ein Selbst­zweck.

Zurück zur Macht als Selbstzweck: warum also sollten sich Menschen überhaupt staatlich or­ganisieren, wenn nicht um eines Zweckes willen? Grup­pen verfolgen selten nur einen Zweck und meist sogar viele Zwecke gleichzeitig. Und nach Arendt ist das Volk eine Gruppe. Wiederum nach Arendt bedarf die staatliche Macht vor allem der Unterstützung durch das Volk. Letztlich ist die Macht also kein Selbstzweck, son­dern ein Mittel des Volkes, seine ,Mehr­heit‛ gegenüber den Minder­heiten und dem Einzel­nen durchzusetzen.

Die Macht befindet sich also mit dem Frieden nicht auf einer Ebe­ne. Eher ist es wohl so, daß der Friede der einzige legitime Grund für die Konstitution staatlicher Macht ist.

Kollektive Schuld und Lebenswelt

Wie schon erwähnt, führt die scheinbare Rationalität des aus freien Wahlen sich ergebenden Zahlenverhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit an dem eigentlichen Ursprung von Macht vorbei. Dieser Ursprung ist nicht rational bestimmbar, sondern besteht im kollektiven Unterbewußten. Die rationale Begrenztheit ihres Konzepts wird dort deutlich, wo Arendt sich gegen den Versuch wendet, Schuld zu kollekti­vieren. Sie sieht darin nur den Versuch, die „wirklich Schuldigen oder Verantwortlichen, die Miß­stände abstellen könnten“, davor zu schützen, zur Verantwortung gezogen zu werden. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.78)

So berechtigt diese Feststellung in vielen Fällen auch ist, verschleiert sie doch, daß es trotzdem kollektive Schuld gibt. So wurzelt der Rassismus nicht nur in kodi­fizierten gesellschaftlichen Institutionen, die man reformieren oder abschaffen kann, son­dern auch in gesellschaftlichen Infra-Strukturen bzw. in der Lebenswelt und wirkt dort auf unsicht­bare, unmerkliche Weise auf unser Bewußtsein ein.

Außerdem widerspricht sich Arendt hier selbst, denn gleichzeitig verweist sie auf das Phänomen „kollektiver Gewalt“. (Vgl. Arendt 1979/2024, S.79ff.) Wo von kollektiver Gewalt die Rede ist, liegt auch der Gedanke an kol­lektiver Schuld nicht fern. Allerdings geht es Arendt hier nicht um den Graubereich irrationaler Gewaltausbrüche, sondern um gesetzlich legitimierte Gewalthandlungen gegen einen äußeren Feind auf dem Schlachtfeld. Das kollektive Band, das die Soldaten untereinander verbindet, ist die Gleichheit aller angesichts des Todes.

Immerhin entlarvt Arendt so die politische Romantisierung bzw. Mystifikation der Gewalt als einer Form der ultima ratio. Hier geht es also nicht um kollektive Schuld, sondern um Kameradschaft. Dennoch liegt es beim Gedanken an kollektive Ge­walt eben auch nahe, daß es so etwas wie kollektive Schuld geben muß. Die Geschichte der Menschheit ist voll von entsprechenden Beispielen, von Sklaverei, Genoziden und Pogromen. Diese Gewaltphänomene wurzeln tief in den Lebenswelten von Gesellschaf­ten und Kulturen, auch dort, wo rechtsstaatliche Strukturen und Verfassungen die Un­antastbarkeit der Würde des Menschen garantieren.

Begriffe wie Mehrheit und Minderheit, Macht als Zahl, sind angesichts der lebensweltlichen Einflüsse auf das Denken und das Handeln der Menschen unterkomplex.

Interessenkonflikte und Lebenswelt

Letztlich ist die Lebenswelt der blinde Fleck in Arendts Konzept von Macht und Ge­walt. Das zeigt sich u.a. daran, daß Arendt zu der Frage, warum die Menschen so oft und immer wieder gegen ihre eigenen Interessen handeln, nicht viel Aufschußreiches einfällt.

„Verhaltens­weisen und Argumente in Interessenkonflikten pflegen sich nicht durch ,Vernünftigkeit‛ aus­zuzeichnen. Nichts ist leider mit so hartnäckiger Beständig­keit von der Wirklichkeit wider­legt worden, wie das Credo des ,aufgeklärten Eigenin­teresses‛ ...“ (Arendt 1979/2024, S.90)

Arendt beschreibt hier ein Phänomen, das schon vielen Soziologen und Ökonomen Kopfzerbrechen bereitet hat. Interessenkonflikte zwischen den Menschen sind ja ei­gentlich eher simpel und deshalb auch nicht schwer auf den Punkt zu bringen. Aber wenn wir uns das Wahlverhalten in einer Demokratie anschauen, müssen wir feststellen, daß Bürgerinnen und Bürger immer wieder Parteien wählen, die ihre In­teressen nicht vertreten. Demagogen und Populisten fällt es erstaunlich leicht, dem Wahlvolk erfolgreich Lösungen für Pseudoprobleme anzubieten, die mit ihren tatsächlichen Problemen nicht das Geringste zu tun haben. Dabei greifen sie auf kollektive Urängste zurück und bedienen soziale Bedürfnisse nach Gemeinschaft und Wohlbefinden und spielen auf der lebensweltlichen Klaviatur positiver und negativer Gefühle.

Es ist die Lebenswelt, mit deren Hilfe die ver­meintlich rationalen Interessenkonflikte verschleiert und deren Energien in Kanäle umgeleitet werden, die den Interessen der Menschen schaden, obwohl sie glauben, es ginge hier um sie. Die Energien, die so mobilisiert werden, entziehen sich der Statistik. Aber ohne sie gibt es keine Macht.

Donnerstag, 3. Oktober 2024

Rassismus, Bildung und Technik in Arendts „Macht und Gewalt“

In ihrem Nachwort zu Hannah Arendts Buch „Macht und Gewalt“ (1970/2024) stellt die Wissenschaftsphilosophin Christine Blättler Arendts Technikkritik in den Kontext einer „mehrheitlich technikfeindlichen“ Nachkriegszeit. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.150) Darüberhinaus ordnet Blättler pauschalisierend jede Technikkritik überhaupt dem „Kulturpessimismus“ zu, für den sie insbesondere Ernst Jünger und Martin Heidegger in Anspruch nimmt (vgl. Arendt 1970/2024, S.154), und so spricht sie vom „kulturpessimistische(n) Fahrwasser“ Heideggers, bezeichnet den „Ökologiediskurs“ als „Verfallsgeschichte“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.154), spricht auch von einem mit der Technikkritik verbundenen „kruden Pessimismus“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.156) und behauptet, Levinas paraphrasierend, daß „die Feinde der Industriegesellschaft zum größten Teil Reaktionäre seien“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.157).

Ein derartiges pauschales, undifferenziertes, alle Argumente der ,technikfeindlichen Reaktionäre‛, zu denen Blättler keineswegs nur Jünger und Heidegger zählt, ignorierendes Pauschalurteil, von dem dann auch respektable Persönlichkeiten wie Günter Anders und Hans Jonas nicht freigesprochen werden können, erübrigt jede Erwiderung meinerseits. Wenn man Hannah Arendt wegen ihres Buches tatsächlich einen Vorwurf machen müßte, dann nicht wegen ihrer wohlbegründeten Fortschritts- und Technikkritik, sondern wegen einiger rassistischer und/oder nah am Rassismus entlang schrammender Stellen, in denen sie sich zu der us-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 50er und 60er Jahren des 20. Jhdts. äußert.

Deshalb zunächst hierzu ein paar Worte von mir: Arendt glaubt den schwarzen, ihre Bürgerrechte einfordernden Studenten ihre Qualifikation für ein Universitätsstudium absprechen zu müssen. Der offensichtliche Rassismus zeigt sich vor allem an Textstellen wie diesem: „Im Gefolge der Bürgerrechtsbewegung haben die Universitäten und Colleges eine große Anzahl von Negerstudenten aufgenommen, ohne von ihnen die üblichen akademischen Qualifikationen zu verlangen; und die Folge war, daß diese Studenten, die besser als irgendjemand sonst wußten, daß der ihnen gebotene Nachhilfeunterricht ein hoffnungsloses Unternehmen war, sich von der Studentenschaft absonderten, organisierten und nun verständlicherweise forderten, das Universitätsniveau so weit zu senken, daß sie mitkommen konnten ‒ bzw. da dies vielleicht doch nicht möglich war, ihnen ein eigenes ,Studiengebiet‛, die sog. ,Black studies‛, einzurichten.“ (Arendt 1970/2024, S.33f.)

Obwohl ich diese Textstelle eindeutig als rassistisch einordne, bleibt hier doch offen, ob Arendt den schwarzen Studenten pauschal einfach die nötigen Fähigkeiten/Begabungen per se abspricht oder ob sie sich nur darüber beklagt, daß sie nicht auf die „üblichen akademischen Qualifikationen“ hin geprüft wurden, bevor sie aufgenommen wurden. Doch ihre Bemerkung, daß jeder Nachhilfeunterricht von vornherein zum Scheitern verurteilt war und die betroffenen Studenten dies sogar selbst gewußt hätten, weshalb sie eine Art Alibifach, das man nicht als richtiges Universitätsfach ansehen könne, für sich reklamierten, überschreitet eindeutig die Grenze zum Rassismus.

Dennoch möchte ich als Bildungsphilosoph hier nicht dieses rassistische Moment ihrer Argumentation fokussieren, sondern ihre Vorstellung von dem, was eine Universität eigentlich ist. Diese Vorstellung unterscheidet sich nämlich erheblich von dem, was der Universitätsgründer Wilhelm von Humboldt darunter verstanden hatte. Nach Humboldts Ansicht war die Universität nicht besonders befähigten oder besonders begabten Studenten vorbehalten, denn an der Universität geht es gar nicht um den Erwerb von Spezialwissen, für das eventuell schon vor Studienbeginn eine spezielle Eignung vorausgesetzt werden müßte. Für solche Spezialfälle ist nach Humboldt nicht die Universität zuständig, sondern entweder wissenschaftliche Einrichtungen wie die Akademien oder die Berufsausbildung.

Humboldt zufolge besteht die eigentliche Studienreife nicht in einem bestimmten, abprüfbaren Bestand und Niveau von Wissen und Fähigkeiten, sondern im Interesse des Studenten für seinen Gegenstand. Dieses Interesse muß einerseits an seinem Gegenstand haften, darf aber andererseits nicht daran kleben bleiben. Es muß durch den Gegenstand hindurch auf die Welt als Ganzes gehen. Erst dieses Ganze der Welt macht aus einer Forschungseinrichtung eine Bildungseinrichtung. Und die Universität war Humboldts Auffassung nach auch als Forschungseinrichtung vor allem ein Ort der Allgemeinbildung.

Humboldt übersetzte das Wort ,studio‛ mit ,Eifer‛ und sogar mit ,Liebe‛; also mit der Liebe zum Gegenstand und zur Welt; oder etwas nüchterner: mit ,Interesse‛. Wo das Interesse vorhanden ist, ergeben sich Begabungen und Fähigkeiten quasi von selbst. Wer interessiert war, also ,Student‛ im ursprünglichen Sinne des Wortes, besaß auch die Universitätsreife.

Nur wo diese Liebe zum Ganzen da ist, geht das Universitätsstudium über die begrenzten Spezialbegabungen einzelner Kandidatinnen und Kandidaten, die man auf ihre ,Eignung‛ testet, hinaus. Die Befähigung folgt dem Interesse. Wo kein Interesse ist, verkümmern auch die vorhandenen ,Begabungen‛.

Aus dieser humboldtschen Perspektive ist es einfach falsch, schwarzen Studenten ihre Qualifikation abzusprechen. Es geht auch nicht an, die „Black Studies“ im inneruniversitären Fächerkanon als unwissenschaftlich abzuwerten. Wenn sich das Interesse der aus der Bürgerrechtsbewegung kommenden schwarzen Studenten zuerst auf dieses Wissensgebiet richtete, so deshalb, weil die „Black Studies“ eben auch einen bislang ausgeblendeten Teil der Welt, einen Teil des Ganzen bilden. Wenn es den schwarzen Studenten darum ging, ein bislang brachliegendes Wissensgebiet aufzuarbeiten und sich zugleich auf diese Weise einen Zugang zur universellen Bildung zu erarbeiten, dann ist die Universität genau der richtige Ort für dieses Anliegen.

Tatsächlich gibt es aus Humboldts Perspektive keinen Gegenstand, von dem aus sich keine Wege auf einen umfassenden Horizont des Wissens eröffnen.

Zurück zu Christine Blättler. Ich hatte sie schon als übelmeinende, auf den Fortschritt eingeschworene Rhetorikerin abgehakt, da kam dann doch noch etwas Interessantes zum Thema ,Geschichtsphilosophie‛. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.168ff.) Blättler kommt für mich überraschend auf den Umstand zu sprechen, daß beides, Fortschritt und Geschichtsphilosophie, auf einer Teleologie beruhen. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.170f.) Welche Umwege der Geschichtsverlauf auch immer nimmt und welche Kollateralschäden der Fortschritt auch immer verursacht ‒ die Richtung, in die es geht, ist von vornherein festgelegt: aufwärts und vorwärts. (Vgl. Arendt 19702025, S.175) Und Blättler resümiert: „Insofern weist dieser Geschichtsbegriff neben seiner gewaltvollen genauso einen technischen Charakter auf und findet in der technischen Bestimmung von Gewalt durch Arendt eine Bestätigung.“ (Arendt 1970/2024, S.175f.)

Auf den letzten Seiten ihres Nachworts geht Blättler nochmal detaillierter auf Arendts Fortschrittskritik ein und würdigt sie in ihrer argumentativen Stringenz. Die Verbindung des Fortschrittsgedankens mit technologischer Innovation, so Blättler Arendt paraphrasierend, führt geradewegs in eine unaufhaltsame Sachzwangsdynamik, die die Menschen dazu zwingt, „das, was sie können, auch zu tun, ohne es zu wollen“: „Der von (Arendt) in dieser Dynamik von Sachzwängen registrierte Machtverlust, ,der Gewalt Tor und Tür öffnet‛, ist vor dem Hintergrund ihrer Unterscheidung von Macht und Gewalt nicht zu unterschätzen und leitet diese pauschale Wissenschafts- und Technikkritik an.“ (Vgl. Arendt 170/2024, S.177)

Aber Blättler bleibt auch in diesem Zitat dabei: Arendt pauschalisiert, und ihre Fortschrittskritik ist deshalb eben doch nicht ernstzunehmen.

Hannah Arendt hatte schon in ihrem Buch Christine Blättlers Position gekannt und entkräftet. Denn so, wie Blättler Arendt in die Reihe eines Ernst Jünger und eines Martin Heidegger und anderer ,Kulturpessimisten‛ stellt, argumentieren, wie Arendt schreibt, schon immer die Kritiker der Fortschrittskritik: „Nach Präzedenzfällen und Analogien Ausschau zu halten, wo es keine gibt, sich ‒ unter dem Vorwand, daß wir aus der Vergangenheit, besonders aus den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen lernen sollten ‒ gar nicht erst darauf einzulassen, das, was getan und gesagt wird, aufgrund der Ereignisse selbst zu berichten und darüber nachzudenken, ist für einen Großteil der gegenwärtigen Diskussion charakteristisch.“ (Arendt 1970/2024, S.105f.)

Zeitgeschichtlich sind auch Ernst Jünger und Martin Heidegger den „Jahren zwischen den beiden Weltkriegen“ zuzuordnen. Und Blättler meint eben auch, mit dem Verweis auf Jünger und Heidegger sei schon alles über Arendts Technik- und Fortschrittskritik gesagt. Daran ändern nicht einmal die letzten drei, vier Seiten ihres Nachworts etwas.

Montag, 16. September 2024

Das dritte Du in Martin Bubers Dialogischem Prinzip

1. Vorweg: methodische Probleme
2. Das ewige Du
3. die Liebe und das Konkrete
4. ,Ich‛ sagen
5. Gemeinschaft und Kollektivität
6. Kritik der Mystik

Ungeachtet meines Vorwurfs an Buber, daß er mit dem dritten (ewigen) Du die Wechselbeziehung zwischen Ich und Du mystisch überhöht, ist Bubers eigene Haltung gegenüber der Mystik durchaus nicht unkritisch. In folgendem längeren Zitat bewegt sich Buber auf einem schmalen Grat zwischen dem buddhistisch beeinflußten Gedanken des Nichttuns als höchster Form menschlichen Handelns und einer Anerkennung der Sinnenwelt als einzig relevanter Wirklichkeit des Menschen:
„So ist die Beziehung (also Ich-Du ‒ DZ) Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem. Wie denn eine Aktion des ganzen Wesens, als die Aufhebung aller Teilhandlungen und somit aller (nur in deren Grenzhaftigkeit gegründeter) Handlungsempfindungen, der Passion ähnlich werden muß. Das ist die Tätigkeit des ganz gewordenen Menschen, die man das Nichttun genannt hat ... Dazu bedarf es nicht eines Abstreifens der Sinnenwelt als einer Scheinwelt, es gibt nur die Welt, die uns freilich zwiefältig erscheint nach unserer zwiefältigen Haltung. ... Alles, was je in den Zeiten des Menschengeistes ersonnen worden ist an Vorschrift, angebbarer Vorbereitung, Versenkung, hat mit dem ureinfachen Faktum der Begegnung nichts zu schaffen. ... Im Sinn von Vorschriften ist das Ausgehen (aus der „Eswelt“ heraus ‒ DZ) unlehrbar. ... eine umso elementarere Umkehr ... ein Aufgeben nicht etwa des Ich, wie die Mystik zumeist meint: das Ich ist wie zu jeder Beziehung so auch zur höchsten unerläßlich, da sie nur zwischen Ich und Du geschehen kann ...“ (1923/1984, S.78f.)
Mit Bubers an dieser Stelle klarem Eintreten für eine Anerkennung der Sinnenwelt unterscheidet er sich auch von Keiji Nishitani, der die Sinnenwelt nur über den Umweg ihrer Negation durch das Feld der Leere hindurch als Vollendung eines Kreisgangs, der zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, anerkennen will. Eine weitere kritische Distanzierung von Nishitani wäre von Buber aus dort möglich, wo dieser am Schluß des Zitats das Ich als notwendigen Bestandteil der Ich-Du-Beziehung gegen die Mystik verteidigt. Außerdem erinnert Buber mit der „zwiefältigen Haltung“ gegenüber dem Scheincharakter der Welt an Plessners Begriff der Doppelaspektivität, die ja bedeutet, das Verhältnis zwischen Innen (Innenwelt) und Außen (Außenwelt) als eine Frage der Perspektive zu verstehen.

Und wie Hermann Hesse im „Siddhartha“ und im „Glasperlenspiel“ bezweifelt Buber, daß es einer Lehre bedarf, um den richtigen Weg zu finden bzw. den Weg Buddhas zu gehen: das Heraus-Gehen aus der „Eswelt“ ist „unlehrbar“: „Buddha kennt das Du-Sagen zum Menschen ‒ das zeigt der groß überlegene, aber auch groß unmittelbare Verkehr mit den Schülern ‒ doch er lehrt es nicht ...“ (1923/1984, S.94)

Das wäre dann der gute Sinn des Gebrauchs von Paradoxa, von denen auch schon im zweiten Blogpost die Rede gewesen war. Eine Lehrhaltung, die nichts von ,Vorschriften‛, ,angebbaren Vorbereitungen‛ hält, wird Paradoxien gegenüber klaren Anweisungen immer den Vorzug geben, um die Schüler daran zu gewöhnen, selber zu denken.