Anne Nuhn, Pflicht & Zweifel. Ein Regency-Märchen Roman, Buch 1, 2025
ISBN 978-1-0670534-2-0
https://annenuhn.com/
Hallo Anne,
endlich halte ich den ersten Band von „Pflicht & Zweifel“ in meinen Händen. Ich hatte ihn im Buchhandel bestellen wollen und mußte mich darüber aufklären lassen, daß dieses Buch trotz ISBN-Nummer nicht im Buchhandel erhältlich sei. Man kann es nur über Amazon beziehen, und ich bestelle nichts bei Amazon. Niemals. Meine Schwester half mir aus der Verlegenheit und überließ mir ihr Exemplar.
Endlich konnte ich erfahren, was aus dem Digiskript geworden ist, das Du mir vor sechs Jahren anvertraut hattest. Manches in dem fertigen Exemplar ist anders, als ich es in Erinnerung habe. Ich will es hier aber nicht Zeile für Zeile mit dem Digiskript vergleichen, sondern nur auf das eine und andere hinweisen, das mir besonders ins Auge fällt.
Das Erste, was mir auffällt, ist natürlich der geänderte Titel. Das Digiskript hatte noch den Arbeitstitel „Zorn & Zweifel“. Dieser Arbeitstitel spielt auf die beiden hauptsächlichen inneren Zustände von Carolena Seed/Bloom an, die den ersten Band der Trilogie dominieren. Der endgültige Titel ist weniger persönlich und hebt die moralisch-gesellschaftliche Dimension des Buches hervor. Er ändert nichts an der inneren Zerrissenheit von Carolena, deutet aber den Weg an, der vor ihr liegt und den sie noch zu gehen hat. Das vom Arbeitstitel angedeutete existenzielle Drama verschiebt sich mit „Pflicht & Zweifel“ in Richtung eines Bildungsromans und erinnert so an Jane Austen (1775-1817), von der wir ähnliche Gegenüberstellungen kennen: „Stolz und Vorurteil“ oder „Sinn und Sinnlichkeit“. Nicht umsonst nennst Du Deine Trilogie ein Regency-Märchen.
Dabei ist die Regency-Epoche, 1810 bis 1820, eine Umbruchzeit, in der traditionelle Lebensweisen neuen Technologien weichen mußten, und also keineswegs eine Zeit der Märchen; jedenfalls nicht im Sinne der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen. Deine Trilogie ist eher eine gelungene Mischung aus Märchen, Fantasy und Bildungsroman. Dabei fällt vor allem eins auf: der Pflichtbegriff beschränkt sich eben nicht auf die Gentleman-und-Lady-Etikette der englischen Standesgesellschaft. Du gibst dem Pflichtbegriff zwei verschiedene Inhalte, zwischen denen Carolenas Bildungsweg verläuft, im ständigen Wechsel zwischen dem einen und dem anderen, tastend, irrend, im verzweifelten Versuch, den Klippen und Fallstricken beider Pflichten auszuweichen.
Tatsächlich handelt es sich nicht einfach um zwei Pflichten, sondern um zwei Welten, der Welt der Magie und der Welt der Vernunft. Aber nein! Auch das trifft es nicht ganz. Die Magie ist nicht vernunftlos, und die gesellschaftliche Vernunft ist nicht einfach nur vernünftig; heute nicht und eben auch nicht in der Regency-Epoche. Siehe Austens „Stolz und Vorurteil“.
Auf der Seite der Magie lernt Carolena die Grausamkeit kennen. Diese Magie gibt ihr die Mittel in die Hand, ihre Rache ins Werk zu setzen. Aber auf der Seite der Magie gibt es auch Vernunft. Eine Natur-Vernunft. Eine Vernunft des Geschehenlassens. Eine Vernunft der Akzeptanz. Eine kosmische Vernunft, die einerseits grausam über das persönliche Schicksal von Einzelnen hinweggeht, aber andererseits alles mit allem verbindet: eine große Harmonie. Eine Natur-Vernunft also, deren Magie kein fügsames Werkzeug ist für Carolenas Rache.
Die gesellschaftliche Vernunft steht hingegen für Regeln, für Ordnung, für Macht, für das Eingreifen, Zurichten und Planen. Nichts läßt sie geschehen, ohne es zu bewerten, es entweder einem Nutzen zuzuführen oder es zu vernichten, weil es schädlich ist.
Sowohl in der Natur wie auch in der Gesellschaft sind es Carolenas Mitleid und vor allem ihr Gerechtigkeitsempfinden, die sie dazu verleiten, durch ihr Eingreifen alles nur noch schlimmer zu machen. Das sind die zwei Dimensionen der Pflicht, mit denen sie sich zunächst als Lehrling in der Magie und dann als Debütantin im Dienst einer Lady konfrontiert sieht.
Das ist so etwa der erste Band Deiner Trilogie und natürlich wie alle Zusammenfassungen völlig unzulänglich. Aber dieses Buch ist Dir gelungen. Mal sehen, wie ich jetzt in den Besitz des zweiten Bandes komme. Vielleicht kann mir meine Schwester weiterhelfen.
Noch eins zum Schluß: Was den Zweifel betrifft, so ist es doch ein Magier, nämlich Borke, der der größte Zweifler im ersten Band von „Pflicht & Zweifel“ ist und dem Carolenas Gewißheiten ziemlich auf die Nerven gehen: „Wir können von Glück sagen, dass Sie kein Zepter in der Hand halten!“ (S.134) ‒ Was für eine wunderbare Ironie, wenn man an den Schluß der Trilogie denkt!
Liebe Grüße,
Detlef
Erkenntnisethik
„Wenn schon eine ganze Welt, auf Erkenntnis beruhend und ihrer ständig bedürftig, errichtet ist und ihren Gang geht, wie die der modernen Technik, wird der nach dem Grund ihrer Möglichkeit und nach ihren Sicherheitsgarantien Fragende zum Sokrates der Vergeblichkeit.“ (Blumenberg, Höhlenausgänge, S.169)
„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)
Montag, 1. September 2025
Freitag, 1. August 2025
Im Briefkasten
Ich fand in meinem Briefkasten zwei kleine Heftchen von Petra Klingl. Von Amazon versandt und ohne Begleitbrief. Auch keine Rechnung. Ein Heftchen über Haikus und ein Heftchen mit Haikus. Die Regeln in dem einen Heftchen, wie man Haikus schreibt, werden von den Haikus im anderen Heftchen nicht eingehalten. Das hat mir gefallen. Gefallen haben mir auch die Haikus. Aber diese Petra Klingl kenne ich nicht. Ich weiß nicht wer und warum mir die beiden Heftchen geschickt hat. Wer auch immer hat meiner Postanschrift „Blog Erkenntnisethik“ hinzugefügt. Es muß sich also um eine Besucherin oder einen Besucher meines Blogs handeln.
Im Briefkasten zwei
Umschläge von Amazon.
Einer mit Haiku.
Umschläge von Amazon.
Einer mit Haiku.
Mittwoch, 16. Juli 2025
01.07.–15.07.: Übersicht und Links
1. Der aktuelle Stand, 01.07.
2. Der imaginäre Punkt, 02.07.
3. griechische Antike
5. frühes Christentum
2. Der imaginäre Punkt, 02.07.
3. griechische Antike
‒ Knabenliebe, 05.07.
4. Kaiserzeit5. frühes Christentum
‒ Diätetik, 09.07.
Exkurs: stultitia und sapientia, 10.07.
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür, 11.07.
‒ Ehe und Zweiheit, 12.07.
‒ Erkenntnis, 13.07.
‒ Jungfräulichkeit, 14.07.
6. Das Subjekt und die Macht, 15.07.
Dienstag, 15. Juli 2025
„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“
Michel Foucault:
In diesem letzten Blogpost kehre ich noch einmal zum ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“, zu „Der Wille zur Wahrheit“ (SuW 1) zurück. In diesem Band spricht Foucault die Möglichkeit an, daß „man die Mechanismen der Sexualität umkehren“ könne, indem man sich vom „Sex-Begehren“ abwendet. (Vgl. SuW 1, S.187) Die Macht des Sexualitätsdispositivs und damit die Macht selbst in ihrer ganzen Anonymität, in ihrer lebensweltlichen Verfaßtheit, kann also gebrochen werden. Das Sexualitätsdispositiv bzw. den „Sex“ hatte Foucault zuvor als einen „imaginären Punkt“ bezeichnet, der die „Totalität des Körpers“, nämlich gleichzeitig als Pluralität und als Ganzes und außerdem biographisch als eine Identität, „symbolisch darstellt“. (Vgl. SuW 1, S.185)
Das ist eine schwierige, in sich widersprüchliche Konstruktion, stellt aber wohl den Versuch dar, der Macht ein widerständiges Subjekt entgegenzustellen. In den insgesamt vier Bänden von „Sexualität und Wahrheit“ wird Foucault darauf nicht mehr zurückkommen. Aber in der Vorlesung vom 17.02.1982 in „Hermeneutik des Subjekts“ (2004; S.308ff.) finde ich eine Stelle, in der Foucault auf die „Bedeutung“ zu sprechen kommt, „die ich dieser Untersuchung der Sorge um sich und des Selbstbezugs beimesse, die Ihnen etwas schleppend und pedantisch erscheinen mag“. (Vgl. Foucault 2004, S.314)
An dieser Stelle geht Foucault noch einmal ausdrücklich auf die Funktion des Subjekts in einer „Ethik des Selbst“ ein, „wenn es denn wahr ist, daß es keinen anderen, ersten und letzten Punkt des Widerstands gegen die politische Macht gibt als die Beziehung seiner selbst zu sich“. (Vgl. Foucault 2004, S.313) ‒ Auch hier, „wenn es denn wahr ist“, wieder die enge Verbindung von Selbst und Wahrheit, die den Titel der vier Bände zu „Sexualität und Wahrheit“ spiegelt.
Zu Beginn seiner Vorlesungsreihe, am 06.01.1982, stellt Foucault diese Verbindung ausdrücklich her: Nur über das Subjekt eröffnet sich ein Zugang zur Wahrheit, nicht über das Individuum. (Vgl. Foucault 2004, S.34 und S.36) Zwar gilt das im Zusammenhang dieser Vorlesung nur für die ,Geistigkeit‛, also für die spirituelle Dimension der Wahrheit, und nicht für die kognitive Erkenntnis der heutigen Wissenschaft und Politik. Außerdem habe ich, wie ich hier gerne festhalten möchte, ein Problem mit einer spirituell verfaßten Geistigkeit, die auf Praktiken der Erleuchtung setzt. Und auch die Trennung zwischen dem Subjekt und dem Individuum halte ich für künstlich und wirklichkeitsfremd. Das Subjekt und seine Subjektivität sind untrennbar mit der Biographie eines Individuums verbunden.
Dennoch hebt Foucault in seiner Vorlesung vom 17. Februar zurecht die politische Bedeutung des Subjekts und seines Zugangs zu seiner Wahrheit hervor: „Nehmen wir die Frage der Macht, der politischen Macht, und stellen sie in den allgemeineren Zusammenhang der Frage der Gouvernementalität, der Gouvernementalität verstanden als ein strategisches Feld von Machtverhältnissen in einem allgemeinen und nicht nur politischen Sinn, als ein strategisches Feld beweglicher, veränderbarer und reversibler Machtverhältnisse,() dann glaube ich, daß das Nachdenken über den Begriff der Gouvernementalität theoretisch und praktisch nicht um ein Subjekt herumkommt, das sich durch eine Beziehung zu sich selbst definiert.“ (Foucault 2004, S.313f.)
Zwei Dinge sind für mich gerade angesichts einer zunehmenden Ablehnung von universellen, humanistischen Prinzipien und einer grassierenden Subjekt- und Menschenfeindlichkeit in der Philosophie, in der Wissenschaft und in der gesellschaftlichen Praxis bemerkenswert: Foucaults Festhalten am Subjektbegriff und daß gerade er, der dem Diskurs der Macht sein ganzes philosophisches Wirken gewidmet hat, auf die Reversibilität, auf die Veränderbarkeit von Machtverhältnissen verweist, für die, setzt man auf diese Veränderbarkeit, eben gerade der Subjektbegriff unverzichtbar ist.
Sexualität und Wahrheit: Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Hermeneutik des Subjekts (2004)
6. Das Subjekt und die MachtIn diesem letzten Blogpost kehre ich noch einmal zum ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“, zu „Der Wille zur Wahrheit“ (SuW 1) zurück. In diesem Band spricht Foucault die Möglichkeit an, daß „man die Mechanismen der Sexualität umkehren“ könne, indem man sich vom „Sex-Begehren“ abwendet. (Vgl. SuW 1, S.187) Die Macht des Sexualitätsdispositivs und damit die Macht selbst in ihrer ganzen Anonymität, in ihrer lebensweltlichen Verfaßtheit, kann also gebrochen werden. Das Sexualitätsdispositiv bzw. den „Sex“ hatte Foucault zuvor als einen „imaginären Punkt“ bezeichnet, der die „Totalität des Körpers“, nämlich gleichzeitig als Pluralität und als Ganzes und außerdem biographisch als eine Identität, „symbolisch darstellt“. (Vgl. SuW 1, S.185)
Das ist eine schwierige, in sich widersprüchliche Konstruktion, stellt aber wohl den Versuch dar, der Macht ein widerständiges Subjekt entgegenzustellen. In den insgesamt vier Bänden von „Sexualität und Wahrheit“ wird Foucault darauf nicht mehr zurückkommen. Aber in der Vorlesung vom 17.02.1982 in „Hermeneutik des Subjekts“ (2004; S.308ff.) finde ich eine Stelle, in der Foucault auf die „Bedeutung“ zu sprechen kommt, „die ich dieser Untersuchung der Sorge um sich und des Selbstbezugs beimesse, die Ihnen etwas schleppend und pedantisch erscheinen mag“. (Vgl. Foucault 2004, S.314)
An dieser Stelle geht Foucault noch einmal ausdrücklich auf die Funktion des Subjekts in einer „Ethik des Selbst“ ein, „wenn es denn wahr ist, daß es keinen anderen, ersten und letzten Punkt des Widerstands gegen die politische Macht gibt als die Beziehung seiner selbst zu sich“. (Vgl. Foucault 2004, S.313) ‒ Auch hier, „wenn es denn wahr ist“, wieder die enge Verbindung von Selbst und Wahrheit, die den Titel der vier Bände zu „Sexualität und Wahrheit“ spiegelt.
Zu Beginn seiner Vorlesungsreihe, am 06.01.1982, stellt Foucault diese Verbindung ausdrücklich her: Nur über das Subjekt eröffnet sich ein Zugang zur Wahrheit, nicht über das Individuum. (Vgl. Foucault 2004, S.34 und S.36) Zwar gilt das im Zusammenhang dieser Vorlesung nur für die ,Geistigkeit‛, also für die spirituelle Dimension der Wahrheit, und nicht für die kognitive Erkenntnis der heutigen Wissenschaft und Politik. Außerdem habe ich, wie ich hier gerne festhalten möchte, ein Problem mit einer spirituell verfaßten Geistigkeit, die auf Praktiken der Erleuchtung setzt. Und auch die Trennung zwischen dem Subjekt und dem Individuum halte ich für künstlich und wirklichkeitsfremd. Das Subjekt und seine Subjektivität sind untrennbar mit der Biographie eines Individuums verbunden.
Dennoch hebt Foucault in seiner Vorlesung vom 17. Februar zurecht die politische Bedeutung des Subjekts und seines Zugangs zu seiner Wahrheit hervor: „Nehmen wir die Frage der Macht, der politischen Macht, und stellen sie in den allgemeineren Zusammenhang der Frage der Gouvernementalität, der Gouvernementalität verstanden als ein strategisches Feld von Machtverhältnissen in einem allgemeinen und nicht nur politischen Sinn, als ein strategisches Feld beweglicher, veränderbarer und reversibler Machtverhältnisse,() dann glaube ich, daß das Nachdenken über den Begriff der Gouvernementalität theoretisch und praktisch nicht um ein Subjekt herumkommt, das sich durch eine Beziehung zu sich selbst definiert.“ (Foucault 2004, S.313f.)
Zwei Dinge sind für mich gerade angesichts einer zunehmenden Ablehnung von universellen, humanistischen Prinzipien und einer grassierenden Subjekt- und Menschenfeindlichkeit in der Philosophie, in der Wissenschaft und in der gesellschaftlichen Praxis bemerkenswert: Foucaults Festhalten am Subjektbegriff und daß gerade er, der dem Diskurs der Macht sein ganzes philosophisches Wirken gewidmet hat, auf die Reversibilität, auf die Veränderbarkeit von Machtverhältnissen verweist, für die, setzt man auf diese Veränderbarkeit, eben gerade der Subjektbegriff unverzichtbar ist.
Montag, 14. Juli 2025
„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“
Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit
Jungfräulichkeit und Ordensgemeinschaft ‒ Es gibt zwei Formen einer Gott geweihten christlichen Lebensführung: die Ordensgemeinschaft, von der hier schon die Rede gewesen ist, und die ‚Jungfräulichkeit‛, die sich unabhängig von irgendeiner Gemeinschaftsbindung ebenfalls ausschließlich der Gottesbeziehung widmet. Dabei hat der Begriff der Jungfräulichkeit sein Vorbild in der Gottesmutter Maria, meint aber nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Foucault bezieht sich bei diesem Thema auf Basilius (336-365), ehemaliger Arzt und Bischof von Ankyra, und auf Clemens von Alexandrien (150-250), Philosoph und Theologe.
Foucault weist ausdrücklich darauf hin, daß sich alles, was Basilius von Ankyra zur Jungfräulichkeit zu sagen weiß, diametral von dem unterscheidet, was Cassian über das Klosterleben schreibt: „Die Analyse Cassians ist sehr anders als die des Basilius von Ankyra. Sein Bezugsrahmen ist die klösterliche Praxis ... Auf jeden Fall treffen die Ausführungen Cassians, die Regeln und Vorschriften, die er aufzeigt, auf eine Lebensform zu, bei der der Verzicht auf jegliche Form von sexuellen Beziehungen bereits erfolgt ist.“ (SuW 4, S.292)
Foucaults Formulierung vom „Verzicht“ klingt so, als handelte es sich bei der Entscheidung des Novizen für das Kloster um eine der Jungfräulichkeit vergleichbare freie Entscheidung, was aber angesichts dessen, was Foucault zuvor über die Taufe und über das Klosterleben geschrieben hatte, nicht so gemeint sein kann. Möglicherweise meint er mit der Feststellung, daß der Verzicht „bereits erfolgt“ sei, daß mit dem Gelübde für den jetzigen Mönch der Punkt gesetzt ist, von dem an er sich vollständig dem Willen anderer zu unterwerfen hat, während die ,Jungfrau‛ zwar ebenfalls verzichtet, ihr Wille aber weiterhin durch kein Gelübde gebunden ist.
Ein weiterer Unterschied zum Klosterleben besteht darin, daß die Jungfräulichkeit nach dem Modell „der sexuellen Begierden, Handlungen und Beziehungen“ (vgl. SuW 4, S.274), bis hin zur „sexuelle(n) Vereinigung von zwei Individuen als implizites oder explizites Modell“ für den „souveränen Eingang des Herrn“ in den jungfräulichen Geist (vgl. SuW 4, S.297), gestaltet ist, während im Kloster die „Beziehung des Geistes zu Gott“ eine reine „Erkenntnisbeziehung“ (vgl. SuW 4, S.298) „nach dem Modell des Blicks und des Lichts“ ist. Cassian denkt das Klosterleben nicht in den Kategorien der Jungfräulichkeit, nicht nach dem Modell von Braut und Bräutigam, sondern er denkt es als geistigen „Akt der Betrachtung (Gottes), der mit dem Betrachteten ein und dasselbe ist“. (Vgl. SuW 4, S.297)
Gemeinsam ist beiden Glaubenspraktiken, der Jungfräulichkeit und der Erkenntnisbeziehung, jedenfalls, daß sie ganz und gar auf Gott ausgerichtet sind. Gott übernimmt dem Gläubigen gegenüber die Funktion des Du, das jetzt nicht mehr für soziale Beziehungen zwischen Menschen zur Verfügung steht. Cassian deutet den ‚Anderen‛ um zum „Feind“, gegen den der Gläubige einen „geistigen“ Krieg führen muß: „Aber als Krieg gegen einen Gegner (und mehr noch einen unermüdlichen, zu allen Listen fähigen Feind als einen Rivalen in einem redlichen Spiel) erfolgt der Kampf gegen einen anderen. Athleten gebietet der Kampf eine Form des Selbstbezugs. Kriegerisch ist er eine Beziehung zu einem irreduziblen Element der Andersheit.“ (SuW 4, S.305f.)
So steht also jede Beziehung zu einem Anderen, der bzw. das nicht Gott ist, unter diesem Makel der potenziellen Feindschaft, auch das Verhältnis von Körper und Seele, wobei der Körper das Schlachtfeld der Seele mit dem Feind ist: „Der geistige Kampf ist damit unabdingbar eine Auseinandersetzung mit dem Anderen, eine Dynamik von Bewegungen, die von der Seele zum Körper gehen und umgekehrt, schließlich die Aufgabe der Entzifferung, um zu erfassen, was sich unter dem Anschein des Selbst verbirgt.“ (SuW 4, S.305f.)
Was Foucault hier als „Anschein des Selbst“ bezeichnet, ist nichts anderes als der Körperleib, auf dem sich wie auf einem Schlachtfeld die Kräfte des Feindes (Außenwelt) und die seelischen Befindlichkeiten (Innenwelt) begegnen und vermischen, so daß sich der Gläubige in dem Kampfgetümmel nicht mehr wiedererkennt: „Insgesamt handelt es sich um ein komplexes Spiel zwischen der Seele und dem Feind, bei dem mittels des Körpers, der Bewegungen von sich gibt und aufnimmt, Gedanken ausgesandt, repetiert, aufgenommen, von neuem in Gang gesetzt werden.“ (SuW 4, S.307f.)
Teile des Kapitels zur Jungfräulichkeit sind für mich deshalb interessant, weil hier auf eine spezifische, sich zunächst von Cassian, dann aber eben auch von Plessner gravierend unterscheidende Weise vom Körperleib die Rede ist. ,Jungfräulichkeit‛ meint kein weibliches Zustandsmonopol, sondern transzendiert im Gegenteil die Zweigeschlechtlichkeit in Richtung auf einen Körper, wie er in einem Leben nach dem Tod sein wird. Schon in diesem Leben, also diesseits des Todes, können auch Männer ihr Leben der Jungfräulichkeit widmen. Schon diesseits des Todes ist der jungfräuliche Mensch also engelgleich, d.h. geschlechtslos. Dem Krieg, den der Mönch gegen das Andere führt und damit eben auch gegen sich selbst, wird durch die Jungfräulichkeit ein Ende gesetzt.
Bruch zwischen Innen und Außen ‒ Bei der Jungfräulichkeit, schreibt Foucault mit Bezug auf Clemens von Alexandrien, gehe es um den „Schnitt“ zwischen Schöpfung und Zeugung, „ab dem die sexuelle Betätigung in der Geschichte der Welt eine Rolle spielt“: „Sie (die ‚sexuelle Betätigung‛ ‒ DZ) muss verhindern, dass das Gesetz des Todes vollkommen siegt; sie muss die Erde bevölkern, bevor sie ihrerseits verschwindet, wenn mit der Inkarnation (der Geburt Christi ‒ DZ) die Zeit der Erlösung gekommen ist.“ (SuW 4, S.273)
Gab es zu Beginn der Schöpfung und nach der Vertreibung aus dem Paradies nur zwei Menschen auf der Erde, Adam und Eva, mußte alles darauf angelegt sein, die Erde zu bevölkern und den Fortbestand der Menschheit sicher zu stellen. Nach der Inkarnation aber, also nach Christi Geburt, gibt es so viele Menschen, daß die Jungfräulichkeit an die Stelle der Sexualität treten kann. Alles, was zwei Menschen verschiedenen Geschlechts miteinander verbindet, kann nun auf die Verbindung zwischen dem Menschen und Gott übertragen werden, und vor Gott gibt es keinen Unterschied zwischen Frau und Mann: „Schließlich leitet die Jungfräulichkeitsmystik () eine Zäsur ein, die in Form von geistigen Gestalten ein Zusammenspiel von Regungen, Vereinigungen, Fortpflanzungen entwirft, die ein wortwörtliches Doppel der sexuellen Begierden, Handlungen und Beziehungen sind.“ (SuW 4, S.274)
Als ,Jungfrauen‛ können Frauen und Männer gleichermaßen zu Bräuten Christi werden. In diesem Zusammenhang ist immer wieder bei Foucault von einem „Schnitt“, einer „Zäsur“, einem „Bruch“ die Rede, den die „Rolle der Jungfrau“ markiert. (Vgl. SuW 4, S.283) Immer wenn von einem „Bruch“ die Rede ist, werde ich hellhörig, weil ich dabei sofort an Plessner denke. Im Falle der Jungfrau geht es dabei um die Abtrennung der zweigeschlechtlichen „körperlichen Liebe“ von der „unkörperlichen Liebe zu Gott“. (Vgl. SuW 4, S.284)
Die unkörperliche Liebe zu Gott ist vor allem eine Sache der Seele, die bei allen, bei Frauen und Männern, ,gleich‛, d.h. ungeschlechtlich ist. Plessners Hiatus besteht im Bruch zwischen dem menschlichen Bewußtsein und der Welt, zwischen Innen und Außen.
Die Jungfräulichkeit hingegen ist ein innerer Bruch, ein Bruch zwischen Körper und Seele, und nur insofern auch ein Bruch zwischen Innen und Außen, als der Körper in Bezug auf die Seele etwas Äußerliches ist. Letztlich haben wir es mit zweierlei Brüchen zu tun, wie sich an der „Ökonomie des Blicks“ bei Basilius von Ankyra zeigt, der den Körper mit seinen Sinnesorganen gleichsetzt, die für die äußere Welt der Zugang zu unserer Innenwelt sind und durch die alles Schlechte und alles Übel zur Seele gelangt: „Diesem Bruch verleiht Basilius zwei Formen, die beide, wenn auch jede auf eine andere Weise, auf der Vorstellung einer gewissen Äquivalenz zwischen der Lust als Prinzip der Annäherung zwischen den Geschlechtern und der Lust als allgemeiner Form der Verfinsterung oder Belastung der Seele durch den Körper beruhen.“ (SuW 4, S.284)
Bei dem ,Bruch‛, an den ich zunächst denke, handelt es sich um das Auseinandertreten von Innen und Außen, wenn wir entdecken, daß unsere inneren Vorstellungen mit der realen Außenwelt nicht übereinstimmen. Basilius denkt an einen Bruch, der einerseits durch die körperliche Lust und andererseits durch die seelische Lust bewirkt wird, nämlich als Geschlechtslust und als seelische Verfinsterung. Was den Körper betrifft, weil uns vermittelt durch unsere (körperlichen) Sinnesorgane andere Menschen als begehrenswert erscheinen, und was die unsere Seele verfinsternde Lust betrifft, weil sie von inneren Vorstellungen beherrscht wird, die über unsere Sinnesorgane (insbesondere Auge und Tastsinn) in sie eingedrungen sind.
Also bedarf es einer zweifachen Trennung: als „selektives Verschließen des Körpers vor der Außenwelt“ (vgl. SuW 4, S.284) und als Trennung der Seele vom Körper (vgl. SuW 4, S.286). Der jungfräuliche Körperleib modifiziert die Grenze zwischen Innen und Außen, wie sie Plessner mit dem Körperleib zieht, auf spezifisch christliche Weise: nicht der Bruch zwischen Innen- und Außenwelt steht am Anfang einer Entdeckung unserer selbst als Selbstbewußtsein, wie bei Plessner, sondern die Trennung zwischen Innen- und Außenwelt qua Kontrolle der Sinnesorgane und Rückzug der Seele in sich selbst ist die Folge unseres sündhaften Begehrens.
Aber im Unterschied zu Taufe und Kloster, die einer, wie Foucault schreibt, christlichen „Gesetzesökonomie“ von Ge- und Verboten unterliegen, deren Ziel insbesondere in der Klostergemeinschaft die vollständige Vernichtung des menschlichen Willens ist, bildet die Jungfräulichkeit eine Option, zu der der gläubige Christ keineswegs verpflichtet ist. Der Mensch hat die Wahl, ob er den Weg der Jungfräulichkeit gehen will oder nicht. (Vgl. SuW 4, S.254 und S.272) Die Entscheidung für die Jungfräulichkeit ist eine freiwillige Entscheidung des Menschen. Das ist eine überraschende Alternative zur völligen Unterwerfung des menschlichen Willens unter Gottes Willen in der Taufe und in der Klostergemeinschaft. Die Jungfrau lebt zwar noch in dieser Welt, aber so, als wäre sie schon unsterblich und ohne Geschlecht.
Foucault weist ausdrücklich darauf hin, daß sich alles, was Basilius von Ankyra zur Jungfräulichkeit zu sagen weiß, diametral von dem unterscheidet, was Cassian über das Klosterleben schreibt: „Die Analyse Cassians ist sehr anders als die des Basilius von Ankyra. Sein Bezugsrahmen ist die klösterliche Praxis ... Auf jeden Fall treffen die Ausführungen Cassians, die Regeln und Vorschriften, die er aufzeigt, auf eine Lebensform zu, bei der der Verzicht auf jegliche Form von sexuellen Beziehungen bereits erfolgt ist.“ (SuW 4, S.292)
Foucaults Formulierung vom „Verzicht“ klingt so, als handelte es sich bei der Entscheidung des Novizen für das Kloster um eine der Jungfräulichkeit vergleichbare freie Entscheidung, was aber angesichts dessen, was Foucault zuvor über die Taufe und über das Klosterleben geschrieben hatte, nicht so gemeint sein kann. Möglicherweise meint er mit der Feststellung, daß der Verzicht „bereits erfolgt“ sei, daß mit dem Gelübde für den jetzigen Mönch der Punkt gesetzt ist, von dem an er sich vollständig dem Willen anderer zu unterwerfen hat, während die ,Jungfrau‛ zwar ebenfalls verzichtet, ihr Wille aber weiterhin durch kein Gelübde gebunden ist.
Ein weiterer Unterschied zum Klosterleben besteht darin, daß die Jungfräulichkeit nach dem Modell „der sexuellen Begierden, Handlungen und Beziehungen“ (vgl. SuW 4, S.274), bis hin zur „sexuelle(n) Vereinigung von zwei Individuen als implizites oder explizites Modell“ für den „souveränen Eingang des Herrn“ in den jungfräulichen Geist (vgl. SuW 4, S.297), gestaltet ist, während im Kloster die „Beziehung des Geistes zu Gott“ eine reine „Erkenntnisbeziehung“ (vgl. SuW 4, S.298) „nach dem Modell des Blicks und des Lichts“ ist. Cassian denkt das Klosterleben nicht in den Kategorien der Jungfräulichkeit, nicht nach dem Modell von Braut und Bräutigam, sondern er denkt es als geistigen „Akt der Betrachtung (Gottes), der mit dem Betrachteten ein und dasselbe ist“. (Vgl. SuW 4, S.297)
Gemeinsam ist beiden Glaubenspraktiken, der Jungfräulichkeit und der Erkenntnisbeziehung, jedenfalls, daß sie ganz und gar auf Gott ausgerichtet sind. Gott übernimmt dem Gläubigen gegenüber die Funktion des Du, das jetzt nicht mehr für soziale Beziehungen zwischen Menschen zur Verfügung steht. Cassian deutet den ‚Anderen‛ um zum „Feind“, gegen den der Gläubige einen „geistigen“ Krieg führen muß: „Aber als Krieg gegen einen Gegner (und mehr noch einen unermüdlichen, zu allen Listen fähigen Feind als einen Rivalen in einem redlichen Spiel) erfolgt der Kampf gegen einen anderen. Athleten gebietet der Kampf eine Form des Selbstbezugs. Kriegerisch ist er eine Beziehung zu einem irreduziblen Element der Andersheit.“ (SuW 4, S.305f.)
So steht also jede Beziehung zu einem Anderen, der bzw. das nicht Gott ist, unter diesem Makel der potenziellen Feindschaft, auch das Verhältnis von Körper und Seele, wobei der Körper das Schlachtfeld der Seele mit dem Feind ist: „Der geistige Kampf ist damit unabdingbar eine Auseinandersetzung mit dem Anderen, eine Dynamik von Bewegungen, die von der Seele zum Körper gehen und umgekehrt, schließlich die Aufgabe der Entzifferung, um zu erfassen, was sich unter dem Anschein des Selbst verbirgt.“ (SuW 4, S.305f.)
Was Foucault hier als „Anschein des Selbst“ bezeichnet, ist nichts anderes als der Körperleib, auf dem sich wie auf einem Schlachtfeld die Kräfte des Feindes (Außenwelt) und die seelischen Befindlichkeiten (Innenwelt) begegnen und vermischen, so daß sich der Gläubige in dem Kampfgetümmel nicht mehr wiedererkennt: „Insgesamt handelt es sich um ein komplexes Spiel zwischen der Seele und dem Feind, bei dem mittels des Körpers, der Bewegungen von sich gibt und aufnimmt, Gedanken ausgesandt, repetiert, aufgenommen, von neuem in Gang gesetzt werden.“ (SuW 4, S.307f.)
Teile des Kapitels zur Jungfräulichkeit sind für mich deshalb interessant, weil hier auf eine spezifische, sich zunächst von Cassian, dann aber eben auch von Plessner gravierend unterscheidende Weise vom Körperleib die Rede ist. ,Jungfräulichkeit‛ meint kein weibliches Zustandsmonopol, sondern transzendiert im Gegenteil die Zweigeschlechtlichkeit in Richtung auf einen Körper, wie er in einem Leben nach dem Tod sein wird. Schon in diesem Leben, also diesseits des Todes, können auch Männer ihr Leben der Jungfräulichkeit widmen. Schon diesseits des Todes ist der jungfräuliche Mensch also engelgleich, d.h. geschlechtslos. Dem Krieg, den der Mönch gegen das Andere führt und damit eben auch gegen sich selbst, wird durch die Jungfräulichkeit ein Ende gesetzt.
Bruch zwischen Innen und Außen ‒ Bei der Jungfräulichkeit, schreibt Foucault mit Bezug auf Clemens von Alexandrien, gehe es um den „Schnitt“ zwischen Schöpfung und Zeugung, „ab dem die sexuelle Betätigung in der Geschichte der Welt eine Rolle spielt“: „Sie (die ‚sexuelle Betätigung‛ ‒ DZ) muss verhindern, dass das Gesetz des Todes vollkommen siegt; sie muss die Erde bevölkern, bevor sie ihrerseits verschwindet, wenn mit der Inkarnation (der Geburt Christi ‒ DZ) die Zeit der Erlösung gekommen ist.“ (SuW 4, S.273)
Gab es zu Beginn der Schöpfung und nach der Vertreibung aus dem Paradies nur zwei Menschen auf der Erde, Adam und Eva, mußte alles darauf angelegt sein, die Erde zu bevölkern und den Fortbestand der Menschheit sicher zu stellen. Nach der Inkarnation aber, also nach Christi Geburt, gibt es so viele Menschen, daß die Jungfräulichkeit an die Stelle der Sexualität treten kann. Alles, was zwei Menschen verschiedenen Geschlechts miteinander verbindet, kann nun auf die Verbindung zwischen dem Menschen und Gott übertragen werden, und vor Gott gibt es keinen Unterschied zwischen Frau und Mann: „Schließlich leitet die Jungfräulichkeitsmystik () eine Zäsur ein, die in Form von geistigen Gestalten ein Zusammenspiel von Regungen, Vereinigungen, Fortpflanzungen entwirft, die ein wortwörtliches Doppel der sexuellen Begierden, Handlungen und Beziehungen sind.“ (SuW 4, S.274)
Als ,Jungfrauen‛ können Frauen und Männer gleichermaßen zu Bräuten Christi werden. In diesem Zusammenhang ist immer wieder bei Foucault von einem „Schnitt“, einer „Zäsur“, einem „Bruch“ die Rede, den die „Rolle der Jungfrau“ markiert. (Vgl. SuW 4, S.283) Immer wenn von einem „Bruch“ die Rede ist, werde ich hellhörig, weil ich dabei sofort an Plessner denke. Im Falle der Jungfrau geht es dabei um die Abtrennung der zweigeschlechtlichen „körperlichen Liebe“ von der „unkörperlichen Liebe zu Gott“. (Vgl. SuW 4, S.284)
Die unkörperliche Liebe zu Gott ist vor allem eine Sache der Seele, die bei allen, bei Frauen und Männern, ,gleich‛, d.h. ungeschlechtlich ist. Plessners Hiatus besteht im Bruch zwischen dem menschlichen Bewußtsein und der Welt, zwischen Innen und Außen.
Die Jungfräulichkeit hingegen ist ein innerer Bruch, ein Bruch zwischen Körper und Seele, und nur insofern auch ein Bruch zwischen Innen und Außen, als der Körper in Bezug auf die Seele etwas Äußerliches ist. Letztlich haben wir es mit zweierlei Brüchen zu tun, wie sich an der „Ökonomie des Blicks“ bei Basilius von Ankyra zeigt, der den Körper mit seinen Sinnesorganen gleichsetzt, die für die äußere Welt der Zugang zu unserer Innenwelt sind und durch die alles Schlechte und alles Übel zur Seele gelangt: „Diesem Bruch verleiht Basilius zwei Formen, die beide, wenn auch jede auf eine andere Weise, auf der Vorstellung einer gewissen Äquivalenz zwischen der Lust als Prinzip der Annäherung zwischen den Geschlechtern und der Lust als allgemeiner Form der Verfinsterung oder Belastung der Seele durch den Körper beruhen.“ (SuW 4, S.284)
Bei dem ,Bruch‛, an den ich zunächst denke, handelt es sich um das Auseinandertreten von Innen und Außen, wenn wir entdecken, daß unsere inneren Vorstellungen mit der realen Außenwelt nicht übereinstimmen. Basilius denkt an einen Bruch, der einerseits durch die körperliche Lust und andererseits durch die seelische Lust bewirkt wird, nämlich als Geschlechtslust und als seelische Verfinsterung. Was den Körper betrifft, weil uns vermittelt durch unsere (körperlichen) Sinnesorgane andere Menschen als begehrenswert erscheinen, und was die unsere Seele verfinsternde Lust betrifft, weil sie von inneren Vorstellungen beherrscht wird, die über unsere Sinnesorgane (insbesondere Auge und Tastsinn) in sie eingedrungen sind.
Also bedarf es einer zweifachen Trennung: als „selektives Verschließen des Körpers vor der Außenwelt“ (vgl. SuW 4, S.284) und als Trennung der Seele vom Körper (vgl. SuW 4, S.286). Der jungfräuliche Körperleib modifiziert die Grenze zwischen Innen und Außen, wie sie Plessner mit dem Körperleib zieht, auf spezifisch christliche Weise: nicht der Bruch zwischen Innen- und Außenwelt steht am Anfang einer Entdeckung unserer selbst als Selbstbewußtsein, wie bei Plessner, sondern die Trennung zwischen Innen- und Außenwelt qua Kontrolle der Sinnesorgane und Rückzug der Seele in sich selbst ist die Folge unseres sündhaften Begehrens.
Aber im Unterschied zu Taufe und Kloster, die einer, wie Foucault schreibt, christlichen „Gesetzesökonomie“ von Ge- und Verboten unterliegen, deren Ziel insbesondere in der Klostergemeinschaft die vollständige Vernichtung des menschlichen Willens ist, bildet die Jungfräulichkeit eine Option, zu der der gläubige Christ keineswegs verpflichtet ist. Der Mensch hat die Wahl, ob er den Weg der Jungfräulichkeit gehen will oder nicht. (Vgl. SuW 4, S.254 und S.272) Die Entscheidung für die Jungfräulichkeit ist eine freiwillige Entscheidung des Menschen. Das ist eine überraschende Alternative zur völligen Unterwerfung des menschlichen Willens unter Gottes Willen in der Taufe und in der Klostergemeinschaft. Die Jungfrau lebt zwar noch in dieser Welt, aber so, als wäre sie schon unsterblich und ohne Geschlecht.
Sonntag, 13. Juli 2025
„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“
Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
5. frühes Christentum
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit
Mich irritiert, wieso Augustinus die Ursünde so unmittelbar auf die Sexualität bzw. auf die Wollust (Libido) zurückführen kann. Schließlich geht es in der Bibel nicht um den Baum der Sexualität, von dem Adam und Eva nicht essen dürfen, sondern um den Baum der Erkenntnis. Zwar geht es dabei wiederum nicht um irgendeine beliebige Erkenntnis aus dem Bereich der Naturwissenschaften, um es mal so zu formulieren, sondern um die „Erkenntnis von Gut und Böse“, die mit wissenschaftlicher Erkenntnis nichts zu tun hat. Dennoch bin ich irritiert.
Augustinus und mit ihm die anderen Kirchenväter, allen voran Cassian, unterschieben diesem „Gut und Böse“ das sexuelle Schema, als Scham vor der eigenen Körperlichkeit ‒ auch das ist Teil der biblischen Erzählung ‒, aber dennoch haben wir es mit einer Erkenntnis zu tun, von der die Menschen der Erzählung zufolge nichts ,wissen‛ dürfen. Es handelt sich eindeutig um ein Erkenntnisverbot. Klostervorsteher wie Cassian, der nicht nur Schriftsteller, sondern auch Abt gewesen ist, haben dann aber dieses Übel, zumindest für die Menschen, denn Gott hatte ja verhindern wollen, daß sie bestimmte Dinge ‚wissen‛, zum Hauptzweck der klösterlichen Askese gemacht. Die Gottesbeziehung sollte eine reine „Erkenntnisbeziehung“ sein, „nach dem Modell des Blicks und des Lichts“. (Vgl. SuW 4, S.298) Und diese Erkenntnisbeziehung stellte sich Cassian wiederum als einen „Akt der Betrachtung“ vor, „der mit dem Betrachteten ein und dasselbe ist“. (Vgl. SuW 4, S.297)
Wie kann das funktionieren? Wie konnte das paradiesische Erkenntnisverbot für die nachparadiesische Welt ausgerechnet das Vorbild für eine erstrebenswerte Gottesbeziehung werden?
Erkenntnis, Anerkenntnis, Verdachtserkenntnis ‒ Foucault bietet als Erklärung für diesen Umstand an, daß wir es mit zwei verschiedenen Erkenntnisbegriffen zu tun haben: mit einer Erkenntnis, die die christliche ‚Wahrheit‛ betrifft, und mit einer epistemologischen Erkenntnis, wie wir sie von den heutigen Wissenschaften kennen. Die Beziehung des Christen zur Wahrheit, wie sie ‚Hermas‛, der namentlich unbekannte Autor von „Der Hirte des Hermas“ (ca. 150), der zu den apostolischen Vätern gezählt wird, am Beispiel der Taufe beschreibt, hat nichts mit Erkenntnis zu tun, sondern mit Anerkenntnis. Foucault: „(Die Wahrheitsakte) gehören eher zur Ordnung der Anerkenntnis denn der Erkenntnis(.)“ (Vgl. SuW 4, S.84)
Die Wahrheit ist also nicht das Ergebnis von Reflexion und somit ein Bewußtseinsakt (vgl. SuW 4, S.81f.), sondern das Ergebnis einer Erleuchtung (vgl. SuW 4, S.80), und die Taufe besiegelt diese Erleuchtung, die das getaufte Subjekt ,bezeugt‛ (vgl. SuW 4, S.85): „Die metanoia (der Taufe) teilt die Seele (des Getauften) nicht in einen Teil, der erkennt, und in einen anderen, der erkannt werden muss. ... Sie besteht darin, den ‚Übergang‛ (in die Wahrheit ‒ DZ) zu bezeugen ‒ die Trennung, die Bewegung, die Transformation, den Zugang ‒ und zwar gleichzeitig als realen Prozess in der Seele und als tatsächliche Verpflichtung der Seele.“ (SuW 4, S.85)
Die Beziehung des Subjekts zur Wahrheit ist also die eines Zeugen der Verwandlung, die in seiner Seele stattgefunden hat. Diese Beziehung besteht nicht in einem Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit (Subjekt-Objekt-Konstellation), sondern es ist in der Wahrheit. Der Taufakt erkennt diese Verwandlung an und besiegelt sie zugleich. So beschreibt es Hermas in „Der Hirte des Hermas“.
Ich frage mich, ob später, über Augustinus und dann in der Inquisition, aus dieser Anerkenntnis des Glaubens eine Verdachtserkenntnis geworden ist, aufgrund deren die Gläubigen nicht mehr als Gläubige anerkannt wurden, sondern potenziell des Abfalls vom Glauben verdächtigt wurden? So daß sie nicht mehr ,in Wahrheit‛ gläubig, sondern ,in Wahrheit‛ ungläubig waren? So daß sie also mit inquisitorischen Mitteln dazu gezwungen werden mußten, ihren Unglauben zu bezeugen?
Für eine solche Verdachtserkenntnis mit einer damit verbundenen Hermeneutik des Verdachts stehen Tertullians Überlegungen zu den begrenzten Taufeffekten: „Die Zeit, die der Taufe vorausgeht, darf daher keine des selbstgefälligen Vertrauens in sich selbst sein. Sie ist im Gegenteil eine Zeit ‚der Gefahr und der Furcht‛.() Tertullian misst der Notwendigkeit der ,Furcht‛ auf dem Weg, der zur Taufe führt, und auch im Leben eines Christen eine sehr große Bedeutung bei. ... Unter der Notwendigkeit des ‚metus‛ als ständiger Dimension des christlichen Lebens versteht er sowohl die Furcht vor Gott als auch die Furcht vor sich selbst ‒ das heißt die Angst vor der eigenen Schwäche, den Fehlern, deren man fähig ist, den Einschmeichelungen des Feindes in der Seele, der Blindheit oder Selbstgefälligkeit, dank deren wir uns von ihm überlisten lassen werden.“ (SuW 4, S.90)
Die Folgesätze gehören hier auch noch hin: „Derjenige, der die Taufe empfangen soll, muss Vertrauen haben, aber nicht in sich selbst, sondern in Gott. Die Unsicherheit, nicht bezüglich Gott, sondern bezüglich seiner eigenen Natur, seiner Schwäche, seinem Unvermögen, darf ihn nicht verlassen.“ (Ebenda)
Konversion versus Autonomie ‒ In seinen Vorlesungen zur „Hermeneutik des Subjekts“ (2004) bietet Foucault noch eine andere Version für den merkwürdigen Umstand an, daß die Kirchenväter so ein großes Gewicht auf die Erkenntnis legten. Foucault unterscheidet auch hier zwischen zwei verschiedenen Erkenntnisformen, aber diesmal zwischen einer Erkenntnisform, die auf die Konversion des Subjekts setzt, und einer Erkenntnisform, die die Autonomie des Subjekts behauptet. Natürlich ist die letztere Erkenntnisform die der Aufklärung und der Neuzeit ab dem 17. Jhdt., für die Foucault beispielhaft René Descartes und Immanuel Kant nennt.
Schon lange vor dem Christentum, in der griechischen Antike und später in der Kaiserzeit, hielt man den Menschen, so wie er ist, nicht für wahrheitsfähig. Es bedurfte einer Konversion, einer Korrektur des Menschen: „Daß das Subjekt als solches, so wie es sich selbst gegeben ist, der Wahrheit nicht fähig ist, das ist ein allgemeines Merkmal und ein Prinzip. Und es ist der Wahrheit nur fähig, wenn es an sich selbst eine Reihe von Operationen durchführt, eine Reihe von Veränderungen und Wandlungen durchmacht, die es zur Wahrheit befähigen. Dies ist, wie ich meine, ein grundlegendes Thema, in dem dann übrigens das Christentum sehr leicht seinen Platz findet ...“ (Foucault 2004, S.241)
Descartes (1596-1560) steht für den Moment, wo im aufgeklärten Denken des modernen Menschen „das Subjekt als solches der Wahrheit fähig wurde“: „Es genügt, die Augen zu öffnen, es genügt, gesund und geradewegs zu räsonieren (räsonieren steht für: seinen eigenen Verstand gebrauchen ‒ DZ), indem man sich stets und unfehlbar an die Gewißheit hält, und schon ist man der Wahrheit fähig.“ (Vgl. Foucault 2004, S.241f.)
Kant, so Foucault, geht hier noch einen Schritt weiter: „Was wir nicht zu erkennen fähig sind, das macht gerade die Struktur des erkennenden Subjekts aus, die bewirkt, daß wir es nicht erkennen können. Und infolgedessen ist die Idee, daß eine bestimmte geistige (spirituelle) Transformation des Subjekts diesem schließlich den Zugang zu etwas gewähren könnte, zu dem es gegenwärtig noch keinen Zugang hat, illusorisch.“ (Foucault 2004, S.242)
Letztlich lassen sich also die beiden Erkenntnisweisen dadurch unterscheiden, daß wir es bei der einen mit der Frage nach dem „Zugang zur Wahrheit“ und bei der anderen mit der Erkenntnis von Objekten zu tun haben. (Vgl. Foucault 2004, S.243)
Verzicht statt Konversion ‒ Zwar weist Foucault daraufhin, daß sich auch das Christentum dem Konversionsschema zuordnen läßt, verweist aber an späterer Stelle darauf, daß die Einstellung des Christentums zur Konversion ambivalent und widersprüchlich ist: „... daß wir im Christentum, der wichtigsten Achse der christlichen (Spiritualität), wie ich meine, eine Zurückweisung, eine ‒ von Widersprüchen nicht ganz freie ‒ Zurückweisung und Ablehnung dieser Umkehr zu sich finden werden.“ (Vgl. Foucault 2004, S.311)
Wie können christliche Praktiken wie etwa die klösterliche Askese, die ganz wesentlich auf einen „Verzicht auf sich selbst“ als Bestandteil ausschließlicher Gotteserkenntnis ausgerichtet ist, widerspruchsfrei als eine Form der Konversion, der Rückkehr zu sich selbst verstanden werden?
Gar nicht. Allerhöchstens im Sinne einer Rückkehr ins Paradies vor dem Sündenfall. Foucault jedenfalls nimmt seine frühere Behauptung einer Vereinbarkeit des Christentums mit der antiken Sorge um sich als Rückkehr zu sich selbst wieder zurück: „Ich meine also, daß im gesamten Christentum das Thema der Umkehr zu sich in starkem Maße ein zu bekämpfendes Thema geblieben ist und nicht etwa eins, welches das christliche Denken tatsächlich in sich aufgenommen hat und einbezogen hat.“ (Foucault 2004, S.312)
Augustinus und mit ihm die anderen Kirchenväter, allen voran Cassian, unterschieben diesem „Gut und Böse“ das sexuelle Schema, als Scham vor der eigenen Körperlichkeit ‒ auch das ist Teil der biblischen Erzählung ‒, aber dennoch haben wir es mit einer Erkenntnis zu tun, von der die Menschen der Erzählung zufolge nichts ,wissen‛ dürfen. Es handelt sich eindeutig um ein Erkenntnisverbot. Klostervorsteher wie Cassian, der nicht nur Schriftsteller, sondern auch Abt gewesen ist, haben dann aber dieses Übel, zumindest für die Menschen, denn Gott hatte ja verhindern wollen, daß sie bestimmte Dinge ‚wissen‛, zum Hauptzweck der klösterlichen Askese gemacht. Die Gottesbeziehung sollte eine reine „Erkenntnisbeziehung“ sein, „nach dem Modell des Blicks und des Lichts“. (Vgl. SuW 4, S.298) Und diese Erkenntnisbeziehung stellte sich Cassian wiederum als einen „Akt der Betrachtung“ vor, „der mit dem Betrachteten ein und dasselbe ist“. (Vgl. SuW 4, S.297)
Wie kann das funktionieren? Wie konnte das paradiesische Erkenntnisverbot für die nachparadiesische Welt ausgerechnet das Vorbild für eine erstrebenswerte Gottesbeziehung werden?
Erkenntnis, Anerkenntnis, Verdachtserkenntnis ‒ Foucault bietet als Erklärung für diesen Umstand an, daß wir es mit zwei verschiedenen Erkenntnisbegriffen zu tun haben: mit einer Erkenntnis, die die christliche ‚Wahrheit‛ betrifft, und mit einer epistemologischen Erkenntnis, wie wir sie von den heutigen Wissenschaften kennen. Die Beziehung des Christen zur Wahrheit, wie sie ‚Hermas‛, der namentlich unbekannte Autor von „Der Hirte des Hermas“ (ca. 150), der zu den apostolischen Vätern gezählt wird, am Beispiel der Taufe beschreibt, hat nichts mit Erkenntnis zu tun, sondern mit Anerkenntnis. Foucault: „(Die Wahrheitsakte) gehören eher zur Ordnung der Anerkenntnis denn der Erkenntnis(.)“ (Vgl. SuW 4, S.84)
Die Wahrheit ist also nicht das Ergebnis von Reflexion und somit ein Bewußtseinsakt (vgl. SuW 4, S.81f.), sondern das Ergebnis einer Erleuchtung (vgl. SuW 4, S.80), und die Taufe besiegelt diese Erleuchtung, die das getaufte Subjekt ,bezeugt‛ (vgl. SuW 4, S.85): „Die metanoia (der Taufe) teilt die Seele (des Getauften) nicht in einen Teil, der erkennt, und in einen anderen, der erkannt werden muss. ... Sie besteht darin, den ‚Übergang‛ (in die Wahrheit ‒ DZ) zu bezeugen ‒ die Trennung, die Bewegung, die Transformation, den Zugang ‒ und zwar gleichzeitig als realen Prozess in der Seele und als tatsächliche Verpflichtung der Seele.“ (SuW 4, S.85)
Die Beziehung des Subjekts zur Wahrheit ist also die eines Zeugen der Verwandlung, die in seiner Seele stattgefunden hat. Diese Beziehung besteht nicht in einem Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit (Subjekt-Objekt-Konstellation), sondern es ist in der Wahrheit. Der Taufakt erkennt diese Verwandlung an und besiegelt sie zugleich. So beschreibt es Hermas in „Der Hirte des Hermas“.
Ich frage mich, ob später, über Augustinus und dann in der Inquisition, aus dieser Anerkenntnis des Glaubens eine Verdachtserkenntnis geworden ist, aufgrund deren die Gläubigen nicht mehr als Gläubige anerkannt wurden, sondern potenziell des Abfalls vom Glauben verdächtigt wurden? So daß sie nicht mehr ,in Wahrheit‛ gläubig, sondern ,in Wahrheit‛ ungläubig waren? So daß sie also mit inquisitorischen Mitteln dazu gezwungen werden mußten, ihren Unglauben zu bezeugen?
Für eine solche Verdachtserkenntnis mit einer damit verbundenen Hermeneutik des Verdachts stehen Tertullians Überlegungen zu den begrenzten Taufeffekten: „Die Zeit, die der Taufe vorausgeht, darf daher keine des selbstgefälligen Vertrauens in sich selbst sein. Sie ist im Gegenteil eine Zeit ‚der Gefahr und der Furcht‛.() Tertullian misst der Notwendigkeit der ,Furcht‛ auf dem Weg, der zur Taufe führt, und auch im Leben eines Christen eine sehr große Bedeutung bei. ... Unter der Notwendigkeit des ‚metus‛ als ständiger Dimension des christlichen Lebens versteht er sowohl die Furcht vor Gott als auch die Furcht vor sich selbst ‒ das heißt die Angst vor der eigenen Schwäche, den Fehlern, deren man fähig ist, den Einschmeichelungen des Feindes in der Seele, der Blindheit oder Selbstgefälligkeit, dank deren wir uns von ihm überlisten lassen werden.“ (SuW 4, S.90)
Die Folgesätze gehören hier auch noch hin: „Derjenige, der die Taufe empfangen soll, muss Vertrauen haben, aber nicht in sich selbst, sondern in Gott. Die Unsicherheit, nicht bezüglich Gott, sondern bezüglich seiner eigenen Natur, seiner Schwäche, seinem Unvermögen, darf ihn nicht verlassen.“ (Ebenda)
Konversion versus Autonomie ‒ In seinen Vorlesungen zur „Hermeneutik des Subjekts“ (2004) bietet Foucault noch eine andere Version für den merkwürdigen Umstand an, daß die Kirchenväter so ein großes Gewicht auf die Erkenntnis legten. Foucault unterscheidet auch hier zwischen zwei verschiedenen Erkenntnisformen, aber diesmal zwischen einer Erkenntnisform, die auf die Konversion des Subjekts setzt, und einer Erkenntnisform, die die Autonomie des Subjekts behauptet. Natürlich ist die letztere Erkenntnisform die der Aufklärung und der Neuzeit ab dem 17. Jhdt., für die Foucault beispielhaft René Descartes und Immanuel Kant nennt.
Schon lange vor dem Christentum, in der griechischen Antike und später in der Kaiserzeit, hielt man den Menschen, so wie er ist, nicht für wahrheitsfähig. Es bedurfte einer Konversion, einer Korrektur des Menschen: „Daß das Subjekt als solches, so wie es sich selbst gegeben ist, der Wahrheit nicht fähig ist, das ist ein allgemeines Merkmal und ein Prinzip. Und es ist der Wahrheit nur fähig, wenn es an sich selbst eine Reihe von Operationen durchführt, eine Reihe von Veränderungen und Wandlungen durchmacht, die es zur Wahrheit befähigen. Dies ist, wie ich meine, ein grundlegendes Thema, in dem dann übrigens das Christentum sehr leicht seinen Platz findet ...“ (Foucault 2004, S.241)
Descartes (1596-1560) steht für den Moment, wo im aufgeklärten Denken des modernen Menschen „das Subjekt als solches der Wahrheit fähig wurde“: „Es genügt, die Augen zu öffnen, es genügt, gesund und geradewegs zu räsonieren (räsonieren steht für: seinen eigenen Verstand gebrauchen ‒ DZ), indem man sich stets und unfehlbar an die Gewißheit hält, und schon ist man der Wahrheit fähig.“ (Vgl. Foucault 2004, S.241f.)
Kant, so Foucault, geht hier noch einen Schritt weiter: „Was wir nicht zu erkennen fähig sind, das macht gerade die Struktur des erkennenden Subjekts aus, die bewirkt, daß wir es nicht erkennen können. Und infolgedessen ist die Idee, daß eine bestimmte geistige (spirituelle) Transformation des Subjekts diesem schließlich den Zugang zu etwas gewähren könnte, zu dem es gegenwärtig noch keinen Zugang hat, illusorisch.“ (Foucault 2004, S.242)
Letztlich lassen sich also die beiden Erkenntnisweisen dadurch unterscheiden, daß wir es bei der einen mit der Frage nach dem „Zugang zur Wahrheit“ und bei der anderen mit der Erkenntnis von Objekten zu tun haben. (Vgl. Foucault 2004, S.243)
Verzicht statt Konversion ‒ Zwar weist Foucault daraufhin, daß sich auch das Christentum dem Konversionsschema zuordnen läßt, verweist aber an späterer Stelle darauf, daß die Einstellung des Christentums zur Konversion ambivalent und widersprüchlich ist: „... daß wir im Christentum, der wichtigsten Achse der christlichen (Spiritualität), wie ich meine, eine Zurückweisung, eine ‒ von Widersprüchen nicht ganz freie ‒ Zurückweisung und Ablehnung dieser Umkehr zu sich finden werden.“ (Vgl. Foucault 2004, S.311)
Wie können christliche Praktiken wie etwa die klösterliche Askese, die ganz wesentlich auf einen „Verzicht auf sich selbst“ als Bestandteil ausschließlicher Gotteserkenntnis ausgerichtet ist, widerspruchsfrei als eine Form der Konversion, der Rückkehr zu sich selbst verstanden werden?
Gar nicht. Allerhöchstens im Sinne einer Rückkehr ins Paradies vor dem Sündenfall. Foucault jedenfalls nimmt seine frühere Behauptung einer Vereinbarkeit des Christentums mit der antiken Sorge um sich als Rückkehr zu sich selbst wieder zurück: „Ich meine also, daß im gesamten Christentum das Thema der Umkehr zu sich in starkem Maße ein zu bekämpfendes Thema geblieben ist und nicht etwa eins, welches das christliche Denken tatsächlich in sich aufgenommen hat und einbezogen hat.“ (Foucault 2004, S.312)
Samstag, 12. Juli 2025
„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“
Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
5. frühes Christentum
Chrysostomos (349-407), Bischof von Konstantinopel, schreibt über die Macht der Zweisamkeit: „Ohne dass jemand sie einander näher bringt, sie dazu anhält, sie in ihre Pflichten einweist, müssen sich so Gatte und Gattin nur sehen, um verbunden zu sein.“ (Zitiert nach SuW 4, S.344)
Chrysostomos unterstreicht diese Macht, indem er sie noch höher einschätzt als die Macht der Elternliebe, die „eine so langwährende Gewohnheit“ gewesen ist, aber „von nun an weniger Macht hat als diese zufällige Entscheidung“. (Zitiert nach SuW 4, S.344)
Foucault ergänzt, daß es sich Chrysostomos zufolge bei der Bindungskraft zwischen „Knabe“ und „Mädchen“ „um eine Kraft (handelt), die stärker ist als alle anderen Kräfte in der Natur: gebieterischer, tyrannischer als jene, die uns an andere Menschen binden oder Dinge begehren lassen(.)“ (Vgl. SuW 4, S.343 und S.344)
Hier deutet sich einerseits die Möglichkeit einer Zweiheit außerhalb der Gruppe an. Foucault spricht von „zwei Einzelwesen“, wenn auch durch Ehepflichten zur „wechselseitigen Aneignung der Körper“ gezwungen (vgl. SuW 4, S.370), aber eben doch Einzelwesen, die der Zufall zusammengeführt hat. Ein Zufall, den der fromme Chrysostomos zu einem Wunder und zu einem „Zeichen für den Willen Gottes“ umdeutet. (Vgl. SuW 4, S.345)
Andererseits aber wird die Einzigkeit der beiden als eine „Verschmelzung“ bzw. wechselseitige „Verschlingung“ gedacht: „... ,symphoke‛, Verschlingung, Verschränkung, die zwei Substanzen und zwei Körper miteinander verschmelzt und eine neue Einheit zu bilden versucht.“ (SuW 4, S.345)
Dabei wird der Substanzbegriff großzügig bis hin zur Beliebigkeit verallgemeinert. Nicht nur die Ehe wird als Verschmelzung zweier Substanzen, sondern auch gleich die ganze Menschheit als eine alle umfassende Substanz gedacht: „Beide (Adam und Eva ‒ DZ) sind aus derselben Substanz hervorgegangen, Adam und Eva waren substantiell vereinbar. Und ihre Nachkommen haben noch immer dieselbe Substanz. ... Über die Generationen hinweg bleibt die Menschheit mit sich selbst verbunden und auf ihre eigene Substanz beschränkt.“ (SuW 4, S.345)
Dieser Substanzbegriff ist eine Absage an die Geschichtlichkeit des Menschen als zukunftsoffenen Prozeß. Die Ehe bezeugt nicht die freie und gleiche Wechselseitigkeit zweier, für sich und füreinander einzigartiger Menschen, sondern die menschheitliche, übergeschichtliche Substanz, da hier zwei einander fremde Menschen miteinander zu eben dieser Substanz ‚verschmolzen‛ werden. (Vgl. SuW 4, S.346) Es mag sein, daß dieser Substanzbegriff auch dafür verantwortlich ist, daß Augustinus (354-430), Bischof von Hippo, die Ursünde im Paradies als Erbsünde bezeichnen konnte, die unverändert von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Dieser Argumentationszusammenhang, der auch die Komplementarität zwischen Frauen und Männern begründet (vgl. SuW 4, S.350), in der die Frauen für das Haus und die Männer für die Welt zuständig sind ‒ gedacht als substanzielle Arbeitsteilung ‒, ist der Grund dafür, daß meine Formel von Ich = Du auf einer Differenz basiert und nicht auf einer Verschmelzung. Wir haben es hier mit einer Differenz zu tun, die die Gleichheit zwischen Zweien allererst begründet, weil sie deren Eingliederung in eine vorgegebene, eben ,substanzielle‛ Arbeitsteilung verhindert. Jedes Substanzdenken, jede Wesentlichkeit ist zur Beschreibung der Wechselseitigkeit zwischen Zweien unangebracht.
Gleichwohl ist es gerade die enorme Bindungskraft, die mit den intimen sexuellen Praktiken zwischen Zweien einhergeht, die für mich das Modell auch für andere Zweierkonstellationen bildet.
Foucault verweist auf den Dimorphismus, der zwischen dem Kloster- und dem Eheleben besteht und mit der Differenz zwischen dem „kompletten Weltverzicht“ der Klostergemeinschaft und der weltlichen Zweisamkeit des Ehelebens, die auch die Geschlechtslust mit einbezieht, zusammenhängt: „Sein Ursprung liegt in dem Bestreben, bei der Ausübung der Pastoralmacht eine ‚techne‛ (Lebensführung ‒ DZ) des Ehelebens ‒ die unter der des Mönchslebens steht, zu dieser aber nicht heterogen ist ‒ auszubilden, die sowohl dazu geführt hat, aus der Wollust eines jeden der beiden Ehepartner (und nicht aus der gemeinsamen Nachkommenschaft) die entscheidende Form der ehelichen Beziehung zu machen, als auch dazu, zwischen diesen beiden Einzelwesen eine Verschränkung der Verantwortlichkeiten und Verkettung zu bewerkstelligen. Selbst in der Zweierform der Ehe ist das Hauptproblem die Frage, was man mit seiner eigenen Wollust machen soll, mithin die Beziehung zu sich selbst. Und das Recht auf innerehelichen Sex wurde in erster Linie als eine Form eingerichtet, die dazu dient, die grundlegende Beziehung zu sich selbst vermittels des anderen zu gestalten.“ (SuW 4, S.379)
Mit „Pastoralmacht“ ist die weltliche Seelsorge gemeint. Chrysostomos steht für eine vergleichsweise liberale Position. Er hat den Begriff der „Pflicht-Schuld“ geprägt (vgl. SuW 4, S.376f.), derzufolge die Ehepartner gegenseitig zur Befriedigung ihrer Wollust verpflichtet sind und es einander schuldig sind, sich vor der Unzucht zu bewahren. Auch der frühe Augustinus neigte noch zu dieser Auffassung vom Eheleben, bevor er zu dem Standpunkt wechselte, daß die Wollust ein grundsätzliches Übel sei.
Sloterdijk bezeichnet Augustinus als den „Hysteriker von Hippo“. Aber verglichen mit dem Abt und Schriftsteller Cassian (360-435), von dem in den vorangegangenen Blogposts mehrfach die Rede gewesen ist, ist Augustinus geradezu ein Ausbund an Toleranz und Menschenfreundlichkeit, der den Geschlechtsunterschied nicht als Übel, sondern als von Gott gewolltes Gut versteht und der ein Bestandteil des göttlichen Schöpfungsaktes ist.
Foucault zufolge beinhaltet die christliche Auffassung von der Ehe zwei „ungleiche Güter“ (vgl. SuW 4, S.381), nämlich die Güter selbst, im engeren Sinne, und die Zweckbestimmung der Ehe: „Die Güter der Ehe, die ihren Wert ausmachen, sind neben der Enthaltsamkeit, doch dieser untergeordnet: die Nachkommenschaft, der Glaube, der die Ehegatten vereint, das Sakrament, das sie unauslöschlich prägt. Die Zwecke der Ehe, die Richtlinien für den ‚Gebrauch‛ der Ehe darstellen und zu bestimmen erlauben, welche sexuellen Beziehungen verboten und welche erlaubt sind, sind: die Zeugung und die Abhilfe gegen die Wollust.“ (SuW 4, S.408)
Mit dem Gut der Enthaltsamkeit sind zum einen die Monopolisierung der Ehe als rechtmäßigem Ort für den Geschlechtsverkehr, zum anderen die Regulierung des Gebrauchs, den man davon macht, gemeint. Was die Zwecke betrifft, die zu den Gütern niederrangig sind, nennt Foucault später noch einen dritten Zweck, der anders als die anderen beiden Zwecke die Ehe nicht zu einem Mittel für etwas macht, sondern einen Selbstzweck darstellt: die Freundschaft. (Vgl. SuW 4, S.410) Diese Zweckbestimmung würde dann sogar in Richtung meiner Formel von Ich = Du gehen, wäre da nicht die Rollenverteilung, die den Mann zum Besitzer der Frau macht. (Vgl. SuW 4, S.406)
Deshalb war ich zunächst überrascht, als ich auf eine Textstelle stieß, in der Augustinus auf die Notwendigkeit eines „consensus“ zu sprechen kommt. Foucault übersetzt ‚consensus‛ mit ,Zustimmung‛. (Vgl. SuW 4, S.470ff.) An einer früheren Stelle im dritten Band von „Sexualität und Wahrheit“ war ich schon auf dem Begriff der „Einwilligung“ gestoßen, ein Begriff, mit dem es um die freie und gleiche Wechselseitigkeit zwischen Frauen und Männern geht (vgl. SuW 3, S.265; vgl. meinen Blogpost vom 07.07.2025), und ich erwartete mir jetzt an dieser Stelle im vierten Band etwas ähnliches. Dann wurde aber meine Erwartung, daß es hier um die Möglichkeit des Partners, nein zu sagen, geht, enttäuscht. Es geht Augustinus vielmehr um die Sündlosigkeit ehelichen Geschlechtsverkehrs, insofern beide, Frau und Mann, jeweils für sich entscheiden (zustimmen), die eigene mit dem Geschlechtsverkehr verbundene Wollust ,freizugeben‛. Es geht also darum, sich selbst zu erlauben, Wollust zu erleben.
Diese innerliche Zustimmung erlaubt die Umsetzung eines sexuellen Motivs (Begierde) in Handlung; zu wollen, „was die Begierde will“ (vgl. SuW 4, S.470): „(Augustinus) zufolge besteht die Zustimmung nicht in der Akzeptanz eines fremden Elements mittels des Willens; vielmehr ist sie für den Willen eine Weise, als freier Akt zu wollen, was er als Begierde will. Bei der Zustimmung ‒ und das Gleiche könnte man für das Gegenteil der Ablehnung sagen ‒ ist der Wille selbst das Objekt.“ (SuW 4, S.471)
Es geht aber noch weiter. Die „Nicht-Zustimmung“, die Ablehnung, besteht Augustinus zufolge nicht etwa darin, das Motiv als solches abzulehnen: „(Die) Nicht-Zustimmung (besteht) nicht darin, das Begehren zu besiegen, indem man der Seele die Vorstellung des begehrten Objekts verwehrt, sondern darin, es nicht zu wollen, wie es die Begierde will.“ (Vgl. SuW, S.472)
Augustinus will also an dieser Stelle nicht, und das finde ich jetzt tatsächlich bemerkenswert, die Begierde, die Wollust als solche dämonisieren, sondern nur auf die Art und Weise, sie zu praktizieren, aufmerksam machen. Inwiefern er damit wieder von der Ansicht abrückt, daß die Wollust grundsätzlich von Übel sei, wird von Foucault nicht weiter erläutert. Wahrscheinlich haben wir es hier mit dem Zugeständnis zu tun, daß die Wollust zwar grundsätzlich von Übel, aber für das Gut der Erzeugung einer Nachkommenschaft unverzichtbar ist. In diesem Zusammenhang erfüllt die Wollust ihren notwendigen Zweck.
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit
Chrysostomos (349-407), Bischof von Konstantinopel, schreibt über die Macht der Zweisamkeit: „Ohne dass jemand sie einander näher bringt, sie dazu anhält, sie in ihre Pflichten einweist, müssen sich so Gatte und Gattin nur sehen, um verbunden zu sein.“ (Zitiert nach SuW 4, S.344)
Chrysostomos unterstreicht diese Macht, indem er sie noch höher einschätzt als die Macht der Elternliebe, die „eine so langwährende Gewohnheit“ gewesen ist, aber „von nun an weniger Macht hat als diese zufällige Entscheidung“. (Zitiert nach SuW 4, S.344)
Foucault ergänzt, daß es sich Chrysostomos zufolge bei der Bindungskraft zwischen „Knabe“ und „Mädchen“ „um eine Kraft (handelt), die stärker ist als alle anderen Kräfte in der Natur: gebieterischer, tyrannischer als jene, die uns an andere Menschen binden oder Dinge begehren lassen(.)“ (Vgl. SuW 4, S.343 und S.344)
Hier deutet sich einerseits die Möglichkeit einer Zweiheit außerhalb der Gruppe an. Foucault spricht von „zwei Einzelwesen“, wenn auch durch Ehepflichten zur „wechselseitigen Aneignung der Körper“ gezwungen (vgl. SuW 4, S.370), aber eben doch Einzelwesen, die der Zufall zusammengeführt hat. Ein Zufall, den der fromme Chrysostomos zu einem Wunder und zu einem „Zeichen für den Willen Gottes“ umdeutet. (Vgl. SuW 4, S.345)
Andererseits aber wird die Einzigkeit der beiden als eine „Verschmelzung“ bzw. wechselseitige „Verschlingung“ gedacht: „... ,symphoke‛, Verschlingung, Verschränkung, die zwei Substanzen und zwei Körper miteinander verschmelzt und eine neue Einheit zu bilden versucht.“ (SuW 4, S.345)
Dabei wird der Substanzbegriff großzügig bis hin zur Beliebigkeit verallgemeinert. Nicht nur die Ehe wird als Verschmelzung zweier Substanzen, sondern auch gleich die ganze Menschheit als eine alle umfassende Substanz gedacht: „Beide (Adam und Eva ‒ DZ) sind aus derselben Substanz hervorgegangen, Adam und Eva waren substantiell vereinbar. Und ihre Nachkommen haben noch immer dieselbe Substanz. ... Über die Generationen hinweg bleibt die Menschheit mit sich selbst verbunden und auf ihre eigene Substanz beschränkt.“ (SuW 4, S.345)
Dieser Substanzbegriff ist eine Absage an die Geschichtlichkeit des Menschen als zukunftsoffenen Prozeß. Die Ehe bezeugt nicht die freie und gleiche Wechselseitigkeit zweier, für sich und füreinander einzigartiger Menschen, sondern die menschheitliche, übergeschichtliche Substanz, da hier zwei einander fremde Menschen miteinander zu eben dieser Substanz ‚verschmolzen‛ werden. (Vgl. SuW 4, S.346) Es mag sein, daß dieser Substanzbegriff auch dafür verantwortlich ist, daß Augustinus (354-430), Bischof von Hippo, die Ursünde im Paradies als Erbsünde bezeichnen konnte, die unverändert von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Dieser Argumentationszusammenhang, der auch die Komplementarität zwischen Frauen und Männern begründet (vgl. SuW 4, S.350), in der die Frauen für das Haus und die Männer für die Welt zuständig sind ‒ gedacht als substanzielle Arbeitsteilung ‒, ist der Grund dafür, daß meine Formel von Ich = Du auf einer Differenz basiert und nicht auf einer Verschmelzung. Wir haben es hier mit einer Differenz zu tun, die die Gleichheit zwischen Zweien allererst begründet, weil sie deren Eingliederung in eine vorgegebene, eben ,substanzielle‛ Arbeitsteilung verhindert. Jedes Substanzdenken, jede Wesentlichkeit ist zur Beschreibung der Wechselseitigkeit zwischen Zweien unangebracht.
Gleichwohl ist es gerade die enorme Bindungskraft, die mit den intimen sexuellen Praktiken zwischen Zweien einhergeht, die für mich das Modell auch für andere Zweierkonstellationen bildet.
Foucault verweist auf den Dimorphismus, der zwischen dem Kloster- und dem Eheleben besteht und mit der Differenz zwischen dem „kompletten Weltverzicht“ der Klostergemeinschaft und der weltlichen Zweisamkeit des Ehelebens, die auch die Geschlechtslust mit einbezieht, zusammenhängt: „Sein Ursprung liegt in dem Bestreben, bei der Ausübung der Pastoralmacht eine ‚techne‛ (Lebensführung ‒ DZ) des Ehelebens ‒ die unter der des Mönchslebens steht, zu dieser aber nicht heterogen ist ‒ auszubilden, die sowohl dazu geführt hat, aus der Wollust eines jeden der beiden Ehepartner (und nicht aus der gemeinsamen Nachkommenschaft) die entscheidende Form der ehelichen Beziehung zu machen, als auch dazu, zwischen diesen beiden Einzelwesen eine Verschränkung der Verantwortlichkeiten und Verkettung zu bewerkstelligen. Selbst in der Zweierform der Ehe ist das Hauptproblem die Frage, was man mit seiner eigenen Wollust machen soll, mithin die Beziehung zu sich selbst. Und das Recht auf innerehelichen Sex wurde in erster Linie als eine Form eingerichtet, die dazu dient, die grundlegende Beziehung zu sich selbst vermittels des anderen zu gestalten.“ (SuW 4, S.379)
Mit „Pastoralmacht“ ist die weltliche Seelsorge gemeint. Chrysostomos steht für eine vergleichsweise liberale Position. Er hat den Begriff der „Pflicht-Schuld“ geprägt (vgl. SuW 4, S.376f.), derzufolge die Ehepartner gegenseitig zur Befriedigung ihrer Wollust verpflichtet sind und es einander schuldig sind, sich vor der Unzucht zu bewahren. Auch der frühe Augustinus neigte noch zu dieser Auffassung vom Eheleben, bevor er zu dem Standpunkt wechselte, daß die Wollust ein grundsätzliches Übel sei.
Sloterdijk bezeichnet Augustinus als den „Hysteriker von Hippo“. Aber verglichen mit dem Abt und Schriftsteller Cassian (360-435), von dem in den vorangegangenen Blogposts mehrfach die Rede gewesen ist, ist Augustinus geradezu ein Ausbund an Toleranz und Menschenfreundlichkeit, der den Geschlechtsunterschied nicht als Übel, sondern als von Gott gewolltes Gut versteht und der ein Bestandteil des göttlichen Schöpfungsaktes ist.
Foucault zufolge beinhaltet die christliche Auffassung von der Ehe zwei „ungleiche Güter“ (vgl. SuW 4, S.381), nämlich die Güter selbst, im engeren Sinne, und die Zweckbestimmung der Ehe: „Die Güter der Ehe, die ihren Wert ausmachen, sind neben der Enthaltsamkeit, doch dieser untergeordnet: die Nachkommenschaft, der Glaube, der die Ehegatten vereint, das Sakrament, das sie unauslöschlich prägt. Die Zwecke der Ehe, die Richtlinien für den ‚Gebrauch‛ der Ehe darstellen und zu bestimmen erlauben, welche sexuellen Beziehungen verboten und welche erlaubt sind, sind: die Zeugung und die Abhilfe gegen die Wollust.“ (SuW 4, S.408)
Mit dem Gut der Enthaltsamkeit sind zum einen die Monopolisierung der Ehe als rechtmäßigem Ort für den Geschlechtsverkehr, zum anderen die Regulierung des Gebrauchs, den man davon macht, gemeint. Was die Zwecke betrifft, die zu den Gütern niederrangig sind, nennt Foucault später noch einen dritten Zweck, der anders als die anderen beiden Zwecke die Ehe nicht zu einem Mittel für etwas macht, sondern einen Selbstzweck darstellt: die Freundschaft. (Vgl. SuW 4, S.410) Diese Zweckbestimmung würde dann sogar in Richtung meiner Formel von Ich = Du gehen, wäre da nicht die Rollenverteilung, die den Mann zum Besitzer der Frau macht. (Vgl. SuW 4, S.406)
Deshalb war ich zunächst überrascht, als ich auf eine Textstelle stieß, in der Augustinus auf die Notwendigkeit eines „consensus“ zu sprechen kommt. Foucault übersetzt ‚consensus‛ mit ,Zustimmung‛. (Vgl. SuW 4, S.470ff.) An einer früheren Stelle im dritten Band von „Sexualität und Wahrheit“ war ich schon auf dem Begriff der „Einwilligung“ gestoßen, ein Begriff, mit dem es um die freie und gleiche Wechselseitigkeit zwischen Frauen und Männern geht (vgl. SuW 3, S.265; vgl. meinen Blogpost vom 07.07.2025), und ich erwartete mir jetzt an dieser Stelle im vierten Band etwas ähnliches. Dann wurde aber meine Erwartung, daß es hier um die Möglichkeit des Partners, nein zu sagen, geht, enttäuscht. Es geht Augustinus vielmehr um die Sündlosigkeit ehelichen Geschlechtsverkehrs, insofern beide, Frau und Mann, jeweils für sich entscheiden (zustimmen), die eigene mit dem Geschlechtsverkehr verbundene Wollust ,freizugeben‛. Es geht also darum, sich selbst zu erlauben, Wollust zu erleben.
Diese innerliche Zustimmung erlaubt die Umsetzung eines sexuellen Motivs (Begierde) in Handlung; zu wollen, „was die Begierde will“ (vgl. SuW 4, S.470): „(Augustinus) zufolge besteht die Zustimmung nicht in der Akzeptanz eines fremden Elements mittels des Willens; vielmehr ist sie für den Willen eine Weise, als freier Akt zu wollen, was er als Begierde will. Bei der Zustimmung ‒ und das Gleiche könnte man für das Gegenteil der Ablehnung sagen ‒ ist der Wille selbst das Objekt.“ (SuW 4, S.471)
Es geht aber noch weiter. Die „Nicht-Zustimmung“, die Ablehnung, besteht Augustinus zufolge nicht etwa darin, das Motiv als solches abzulehnen: „(Die) Nicht-Zustimmung (besteht) nicht darin, das Begehren zu besiegen, indem man der Seele die Vorstellung des begehrten Objekts verwehrt, sondern darin, es nicht zu wollen, wie es die Begierde will.“ (Vgl. SuW, S.472)
Augustinus will also an dieser Stelle nicht, und das finde ich jetzt tatsächlich bemerkenswert, die Begierde, die Wollust als solche dämonisieren, sondern nur auf die Art und Weise, sie zu praktizieren, aufmerksam machen. Inwiefern er damit wieder von der Ansicht abrückt, daß die Wollust grundsätzlich von Übel sei, wird von Foucault nicht weiter erläutert. Wahrscheinlich haben wir es hier mit dem Zugeständnis zu tun, daß die Wollust zwar grundsätzlich von Übel, aber für das Gut der Erzeugung einer Nachkommenschaft unverzichtbar ist. In diesem Zusammenhang erfüllt die Wollust ihren notwendigen Zweck.
Labels:
Diätetik,
Sexualität,
Zweitpersonalität
Abonnieren
Posts (Atom)