„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 24. November 2025

Die unvollständige Zwölf

Salman Rushdie, Die elfte Stunde. Fünf Erzählungen (2025)


Was ist eine ‚elfte Stunde‛? Rein rechnerisch handelt es sich um den Zeitraum zwischen der vergangenen zehnten und der beginnenden zwölften Stunde, also die vorletzte Stunde. Rushdie zählt bzw. er-zählt sie anders. So heißt es auf der bezeichnenderweise elften Seite seines Buchs in der Erzählung „Im Süden“ (S.9ff.) über die beiden alten Männer: „Sie waren einundachtzig Jahre alt. Hielt man das Alter für einen Abend, der in der Mitternacht des Vergessens endete, war die elfte Stunde für sie längst angebrochen.“ (Rushdie 2025, S.11)

Rushdie orientiert sich also nicht an der Arithmetik, sondern an der Uhranzeige, an der die Minuten als 11:01 bis 11:59 abgelesen werden. Seine ‚elfte Stunde‛ ist also nicht die vorletzte, sondern die letzte Stunde vor Mitternacht.

Es heißt ja auch immer, daß die zwölfte Stunde die Geisterstunde sei, was nicht stimmen kann, wenn, wie es ebenfalls heißt, die Geisterstunde mit dem zwölften Glockenschlag beginnt. Denn dann wäre die eigentliche Geisterstunde nicht die zwölfte, sondern die dreizehnte Stunde, also zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens. Insofern hält sich Rushdie mit seiner elften Stunde an den allgemeinen Sprachgebrauch.

Zur Elf paßt der Monat November, in dem ich diesen Blogpost schreibe. Ich werde mich deshalb der Elf als Brücke bedienen, um drei der fünf Erzählungen zu überspringen und nur kurz darauf einzugehen, was sie mit Rushdies Elf zu tun haben. Auf zwei der fünf Erzählungen werde ich detaillierter eingehen, allerdings auch hier nur, um die in ihnen verborgenen, mit der Elf verbundenen Gedanken zu bergen.

Kommen wir also zur zweiten Erzählung, „Die Musikerin von Kahani“ (S.29ff.). In dieser Erzählung gibt Rushdie der Elf eine weitere Bedeutung, die auch für die folgenden Erzählungen wichtig ist. Zwei Finanzimperien, das eine in Gestalt eines Sektenführers, das andere in Gestalt einer Familiendynastie, werden wegen Steuerhinterziehung aufgelöst und die Verantwortlichen zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Der Chef der Steuerfahndung erläutert: „‚Alphonse Capone.‛ ‒ ‚Steuerhinterziehung, elf Jahre Haft, größere Strafzahlungen, starb verarmt‛, erklärte einer seiner Untergebenen, was allerdings nicht nötig gewesen wäre, da Mommy als Amerikanerin die Drohung auch ohne diese zusätzliche Ausführung bereits verstanden hatte.“ (Vgl. Rushdie 2025, S.95f.)

Was für die Familiendynastie gilt, gilt auch für den Sektenführer, der abwinkt, als die Steuerfahnder ihn auf elf Jahre Gefängnis vorbereiten: „‚Bitte‛, sagte er, ‚ersparen sie mir die Erklärung.‛“ (Rushdie 2025, S.114)

Diese ‚elf Jahre‛ stehen also für den plötzlichen Abbruch von etwas, das bisher ungeheuer erfolgreich gewesen war; für etwas Unvollendetes; für etwas, das endet, bevor es zuende ist. Auf den November folgt kein Dezember. Auf dem Ziffernblatt finden Stunden- und Minutenzeiger nicht mehr zueinander.

In der dritten Erzählung, „Saumselig“ (S.118ff.), taucht die Elf nur in einem Hinweis auf den Film „Elf Uhr nachts“ auf. (Vgl. Rushdie 2025, S.168) Aber die eigentliche Bedeutung der Elf liegt wohl darin, daß wir es bei dieser Erzählung mit einer ‚Gespenster‛-Geschichte zu tun haben: der Ehrenfellow eines englischen Colleges erwacht aus einem Schlaf, der sich, als er sich aus dem Bett erhebt, als sein Tod herausstellt; denn sein Körper bleibt im Bett liegen.

Auf diese Erzählung möchte ich genauer eingehen. In einer Auseinandersetzung zwischen dem Profos des Colleges und dem verstorbenen Ehrenfellow hatte es dreißig Jahre zuvor einen dramatischen Zusammenstoß gegeben. Dieser Zusammenstoß ist der Grund, warum der Ehrenfellow über den Tod hinaus als Geist weiterlebt. Der Profos mit dem aus lauter Initialen bestehenden Namen L.L. Emmemm hatte nach dem Vorfall ein Buch geschrieben, dessen Thema: „Freiheit wider Gutsein“ (vgl. Rushdie 2025, S.175) eng mit diesem Vorfall verknüpft ist. Dieses Buch ist es, das mich hier besonders interessiert, weil es meinem philosophischen Anliegen, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, nahesteht. (Vgl. Rushdie 2025, S.176)

In dem Buch geht es darum, daß Freiheit vor allem ein individuelles Anliegen ist, weil kein Individuum einem anderen gleicht, während ‚Güte‛ bzw. ‚Gutsein‛ immer etwas ist, auf das sich eine Gruppe geeinigt hat und das dann unterschiedslos für alle gilt, die zu dieser Gruppe gehören: „Laut seiner Argumentation war Gutsein ein kollektiver Wert, erreicht dank Übereinstimmung, dank gemeinsamer Auffassungen. Für sich allein konnte man nicht gut sein.“ (Rushdie 2025, S.176f.)

Wenn man also gut sein wollte, mußte man seine Freiheit einschränken. Wenn man hingegen frei sein wollte, konnte man nicht gut sein. Das ist der Grundkonflikt, mit dem sich der Profos in seinem Buch auseinandersetzt, wobei er sich auf die Seite der Gruppe bzw. der Gesellschaft stellt.

Was mich beim Lesen zunächst für den Profos einnahm, war seine zur Schau getragene Ehrenhaftigkeit. Er vertritt seinen Standpunkt in aller Nüchternheit und Sachlichkeit und ereifert sich nicht. Die Kritik, auf die sein Buch von allen Seiten stößt und die hauptsächlich darin besteht, das Dilemma zwischen Freiheit und Gutsein zu skandalisieren, weil es nahelegt, die Moral könnte amoralische Implikationen beinhalten, läßt der Autor gelassen von sich abperlen: „Der Sinn ernsthaften Denkens war es, die Gesellschaft zu ermutigen, sich infrage zu stellen. Das war bekannt. Er hatte dem nur einen weiteren Vorschlag hinzugefügt: dass der Sinn ernsthaften Denkens der war, den Einzelnen anzuregen, sich selbst infrage zu stellen, und alle aufzufordern, Gute wie Freie, sich gegenseitig zu hinterfragen.“ (Rushdie 2025, S.177)

In diesem Selbstverständnis, wie es der Profos für sich beansprucht, könnte ich mich als Blogger ohne weiteres wiederfinden.

Dann gibt es aber noch die Perspektive des Ehrenfellows, der seit dreißig Jahren in dem College wohnt und dessen Homosexualität zu einer Zeit, wo das in England noch ein Verbrechen gewesen ist, durch Denunziation aufgedeckt wird. Um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, stellt ihn der Profos im Interesse des Colleges vor die Wahl, Medikamente gegen seine Homosexualität einzunehmen oder mit Schimpf und Schande ins Gefängnis zu gehen. Die Medikamente beschränken künftig das kreative Potenzial des hochbegabten, intelligenten Ehrenfellows. Bis zu seinem Tod gelingt ihm keine Veröffentlichung mehr.

In einer letzten Auseinandersetzung, in der der Ehrenfellow den Profos nun seinerseits mit den Mitteln eines Geistes/Gespenstes zwingt, sein damaliges Verhalten öffentlich einzugestehen und von seinen Funktionen als angesehener Wissenschaftler und Collegeleiter zurückzutreten, wirft er ihm mit Anspielung auf dessen Buch vor, daß er, also der Profos, ihm, dem Ehrenfellow, „einen erheblichen Teil (seiner) Freiheit genommen“ habe, und „daran (sei) nichts gut gewesen“: „Er“, der Profos, „selbst sei der lebende Gegenbeweis seiner eigenen absurden Theorie.“ (Rushdie 2025, S.192)

In der vierten Erzählung, „Oklahoma“ (S.199ff.), taucht nirgendwo ein expliziter Hinweis auf die Elf bzw. auf die elfte Stunde auf. Ein impliziter Hinweis könnte folgende Textstelle sein: „So war das Leben, bis es vom Tod beendet wurde. Und niemand von uns konnte die eigene Geschichte vervollständigen, denn wir würden dann nicht länger da sein. Wir alle blieben erstarrt in unserem Waggon und warteten darauf, dass jemand anderes unsere Geschichte zu Ende erzählte, uns vervollständigte, falls denn jemandem daran gelegen war.“ (Rushdie 2025, S.256)

Der ‚Waggon‛, von dem in diesem Zitat die Rede ist, ist eine Anspielung auf den Amerikaroman von Franz Kafka, dessen Protagonist seinen Zielort nie erreicht, weil der Autor die Erzählung kurz vor der Ankunft des Zuges abbricht.

Um den verschiedenen Ebenen und komplexen Verweisen dieser Geschichte gerecht zu werden, würde ich eine Reihe von Blogposts schreiben müssen, bezweifle aber, daß es mir gelingen würde. Deshalb hier nur der Hinweis, daß es sich bei „Oklahoma“ wohl um eine Autofiktion handelt, in der Salman Rushdie selbst in verschiedenen Verkörperungen auftritt.

Auch in der fünften Erzählung, „Der alte Mann auf der Piazza“ (S.266ff.), wird die Elf nirgendwo explizit erwähnt. Sie steckt aber thematisch in dem Versuch, die Sprache, die selbst, verkörpert als weibliche Figur, in der Erzählung auftritt, zu vereindeutigen und auf bestimmte Inhalte festzulegen. Die Szenerie, vor der alles geschieht, ist eine Piazza in einer imaginären kleinen Stadt, auf der die Menschen nach einer langen Zeit des Ja-sagen-müssens die Freiheit zurückerobern, Nein! zu sagen.

Während einer fünf Jahre andauernden Diktatur, die an die jetzigen Zustände in den USA erinnert und in der die Menschen nicht mehr sagen durften, was sie meinten und dachten, waren die Menschen per Gesetz dazu gezwungen, alles gut zu finden, und es war ihnen verboten irgendetwas abzulehnen. In dieser Zeit besuchte der alte Mann jeden Nachmittag sein Café und genoß mit seiner Tasse Kaffee am Rande der Piazza die rundherum herrschende Ruhe und den Frieden. Dann aber taucht eine unbekannte Frau auf und setzt sich in einer gegenüberliegenden Ecke der Piazza an einen Tisch und plötzlich merken der alte Mann und die anderen Menschen, daß sich in ihnen die Wörter angestaut haben und heraus wollen aus ihren Kehlen und Mündern. Sie wollen herausgeschrieen werden. Die Menschen wollen Nein! brüllen, schreien, laut sein.

Und plötzlich ist die Diktatur zu Ende. Die Piazza füllt sich mit Menschen, die diskutieren und streiten und überall ist es laut und lebendig und alle sagen Nein!. Keiner ist mit irgendeinem anderen einverstanden. Jeder hat seine eigene Meinung.

Interessant ist, daß der Erzähler im Hintergrund mehrmals darauf hinweist, daß die einstmals schöne Sprache, bevor die Diktatur des Ja-sagens begann, eine Sprache sei, „in der es solch wundervolle Gedichte gibt!“, und die es jetzt offensichtlich nicht mehr gibt. (Vgl. Rushdie 2025, S.269) Und daß die Frau am anderen Ende der Piazza deswegen „schmollte“. ‒ Das gilt jetzt auch für das neue Nein-Sagen, dessen Eifer und Gnadenlosigkeit die „zu Recht gefeierten Gedichte unserer Sprache“ wieder nicht zulassen: „Die Oden und Sonette, die lyrischen und epischen Poeme wurden ignoriert, warfen sich in Posen und gestikulierten machtlos.“ (Rushdie 2025, S.272)

Dann kommt die Stunde des alten Mannes, der bislang dem Treiben auf der Piazza kopschüttelnd und leicht belustigt zugeschaut hatte. Die Streitenden brauchen einen Schiedsrichter, einen der ihnen sagt, wer recht hat, und küren den alten Mann zu ihrem Schiedsrichter; vielleicht weil er so friedlich dasitzt und sich raushält. Und er macht mit: „Er bittet die Bittsuchenden, sich ordentlich in einer Reihe aufzustellen, und seither verkündet er jeden Nachmittag zwischen vier und sechs, wenn die Hitze des Tages nachlässt, seine Urteile, erklärt in einem Ton wachsender Autorität, nein, die Erde ist nicht flach, und nein, die meisten Einwanderer sind so wenig Sexmonster wie Sie oder ich, und ja, hundertprozentig, Gott existiert, ebenso Himmel und Hölle.“ (Rushdie 2025, S.279)

Dann aber nimmt der alte Mann doch Partei. Er ergreift Partei für die ‚Richtigen‛, die ihm sympathisch sind, gegen die ‚Falschen‛, die ihm unsympathisch sind, und er fängt an, zwischen guten Wörtern, die man sagen darf, und schlechten Wörtern, die man nicht sagen darf, zu unterscheiden: „Und jetzt ist er es der nuancenfreie Gewissheiten verteilt, der mit jedem vergehenden Tag eitler wird.“ (Rushdie 2025, S.281)

Der alte Mann hat Gefallen an einer neuen Form der Herrschaft gefunden, die aus dem binären Schema von Ja und Nein herausfällt: die Herrschaft über korrekte Worte, die Herrschaft über das, was man sagen darf und was nicht. Eine sehr diffizile und komplizierte Form der Herrschaft. Man könnte sie vielleicht als Wokeness bezeichnen. Jedenfalls: der Frau am anderen Ende der Piazza gefällt auch diese Herrschaft nicht. Auch unter dieser Herrschaft werden keine Gedichte mehr geschrieben.

Sie warnt die Menschen auf der Piazza. Sie, die Frau, die die Sprache ist, macht sich Sorgen um die Sprache: „Seit wir sie kennen, ist sie die beste aller Sprachen, quirlig, energisch, lebhaft, doch muss sie gestehen, sich in letzter Zeit unwohl gefühlt zu haben. Fiebrig an manchen Tagen, an anderen voller Schmerz und Pein. ... Sie fürchte zu verkommen. Es wäre sogar möglich ‒ es fällt ihr schwer, dies zuzugeben, sogar vor sich selbst ‒, dass sie stirbt.“ (Rushdie 2025, S.283)

Und sie stirbt. Am Ende gehen der Geschichte die Worte aus. (Vgl. Rushdie 2025, S.285)

Das ist die elfte Stunde dieser Erzählung. Weil die Sprache dreimal vereindeutigt, auf jeweils eine einzige Bedeutung festgelegt werden sollte, auf die Diktatur des Ja, auf die Anarchie des Nein, auf die richtigen, politisch korrekten Wörter, verliert sie die ihr wesentliche Unfertigkeit. Die unfertige elfte Stunde ist ihr wesentlich. Sie ist das, was sie quirlig, energisch und lebhaft macht. Wo sie sich zur Zwölf rundet, stirbt die Sprache.

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