„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 16. Januar 2014

Douwe Draaisma, Das Buch des Vergessens. Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern, Köln 2012

1. Formen des Vergessens
2. Methode I
3. Methode II
4. Gestaltwahrnehmung und die Gestalt des Gedächtnisses
5. Autobiographisches Gedächtnis
6. Zwei Gehirne und die Einheit des Bewußtseins
7. Zwanghaftes Erinnern
8. Vergessene Träume

Ähnlich wie Damasio konzipiert Draaisma das autobiographische Gedächtnis als ein erweitertes Bewußtsein. (Vgl. Antonio Damasio: „Selbst ist der Mensch“ (2011), S.180 und Draaisma 2012, S.46) Eine besondere Kompetenz des autobiographischen Gedächtnisses bildet Damasio zufolge das Gewissen. (Antonio Damasio: „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.278) Das Gewissen bzw. das erweiterte Bewußtsein ermöglicht es dem Menschen, sich über sich selbst zu erheben und so über die eigenen „Überlebens-Dispositionen“ zu urteilen und zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. (Vgl. Damasio 8/2009, S.278)

Wir haben es also beim erweiterten Bewußtsein mit einem rekursiven Mechanismus zu tun, der dem Menschen neue Freiheitsräume eröffnet. Ein solches Selbst-Bewußtsein ist sehr voraussetzungsreich und steht am Ende einer langen Evolution der Bewußtwerdung, wie Draaisma mit Bezug auf das autobiographische Gedächtnis festhält: „Für dieses Gedächtnis muss sehr vieles gleichzeitig bereitgestellt werden, intakt sein und funktionieren, neurologisch und kognitiv.“ (Draaisma 2012, S.46)

Das macht dieses Gedächtnis bzw. das erweiterte Bewußtsein so verwundtbar. Es ist das erste, das bei Verletzungen und Krankheiten ausfällt, während die unteren Ebenen noch funktionieren. Was die ‚Bereitstellung‘ der Bedingungen für das Zustandekommen eines autobiographischen Gedächtnisses betrifft, sind daran gleichermaßen phylogenetische wie ontogenetische Prozesse beteiligt. (Vgl. Damasio 2011, S.183) Draaisma geht es insbesondere um die Ontogenese, also um das erste Auftreten von Selbstbewußtsein in der individuellen Entwicklung eines Menschen. Dabei fällt vor allem auf, daß diesem Selbstbewußtsein in den ersten Lebensjahren ein bewußtseinsloses Nichts vorausgeht: „Im autobiografischen Gedächtnis befinden sich vor und nach ersten Aufzeichnungen leere Seiten. Obwohl sie den Anfang unserer Existenz als ein Wesen mit Gedächtnis markieren, unterstreichen diese leeren Seiten zugleich, von wie viel Vergessen die ersten Male umgeben sind. ... Das Kindergedächtnis ähnelt einem Motor, der gleich nach dem stotterenden Start wieder aussetzt.“ (Draaisma 2012, S.24f.)

„Das größte Rätsel der ersten Erinnerung“, so Draaisma, ist, „dass es sich um einen Beginn handelt, dem so viel vorausgeht.“ (Draaisma 2012, S.34) – Was uns im Normalfall am Zugriff auf die Erlebnisse und Erfahrungen der ersten drei bis vier Jahre unserer Kindheit hindert, ist die Sprache. Mit dem Einsetzen der Sprachfähigkeit verlieren wir den Schlüssel zu unseren vorsprachlichen Erinnerungen: „Kein einziges Stadium ... wird noch einmal so eingreifend sein wie das, in dem wir zu einem ‚sprachlichen‘ Wesen werden.“ (Draaisma 2012, S.46)

Aber die Sprache selbst ist nur ein Stadium, das eine weitere Voraussetzung für das eigentliche Ereignis bildet, das im Alter von ca. 8 Jahren zur vollen Herausbildung eines autobiographischen Gedächtnisses und Selbstbewußtseins führt: die Erfahrung, ein individuelles, unverwechselbares ‚Ich‘ zu sein: „Eine junge Erzieherin erinnert sich an ein Wochenende, an dem sie am frühen Morgen im Bett lag. Wie sie zu diesem Gedanken kam, kann sie nicht mehr sagen, aber es traf sie wie ein Schlag: ‚Mir wurde auf einmal klar, wie einzig ich war. Alles an mir, mein Aussehen und vor allem meine Gedanken. Das Gefühl, das mich dabei überkam, war so stark und mitreißend. So intensiv habe ich mich danach nie wieder gefühlt. ...‘“ (Draaisma 2012, S.36)

Draaisma bezeichnet diese Bewußtwerdung als „‚Ich-bin-ich‘-Erinnerung()“ (ebenda). Ich selbst kann mich ebenfalls deutlich an so einen Moment erinnern. Ein anderer Erinnerungszeuge beschreibt diese plötzliche Wahrnehmung seiner selbst als eine besonders wache Form des bei-sich-Seins, in der ihm das summende Geräusch eines Elektroautos plötzlich die Gewißheit vermittelt, da zu sein. (Vgl. Draaisma 2012, S.35) Es ist eine besondere Art der Achtsamkeit, wie sie auch bestimmte Meditationstechniken ermöglichen.

Das autobiographische Gedächtnis wird also durch eine neue Art des bei-sich-Seins ermöglicht: „Nur das Kind, das beginnt, sich eines ‚Ich erlebe das‘ bewusst zu werden, wird bleibende Erinnerungen anlegen.“ (Draaisma 2012, S.35) – Dieses bei-sich-Sein, Kants transzendentale Apperzeption, ist rekursiv. Dieses Selbst-Bewußtsein ist von nun an bei allem ‚dabei‘, was uns widerfährt, und es eröffnet uns jederzeit neue Freiheitsräume des Denkens und Handelns.

Aber natürlich kann dieses autobiographische Gedächtnis auch selbst wieder zu einem Gefängnis werden, wenn es sich nämlich von einem achtsamen bei-sich-Sein in ein an-sich-Festhalten, an-sich-Festklammern verwandelt. Wenn der Spielraum zwischen den beiden Prozessen, zwischen dem, was geschieht, und dem, was beobachtet, verschwindet und beides zur Identität verschmilzt. Für diesen Zustand der Unfreiheit haben Christen den Begriff der ‚Erbsünde‘ – die Vorstellung eines generationenübergreifenden Schuldzusamenhangs – geprägt, und Buddhisten verwenden dafür den Begriff des ‚Karma‘, die Vorstellung eines sich über Generationen hinweg durchhaltenden, sich wiedergebärenden Selbst.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen